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S chon eine Stunde später verließen die Freunde das Lager.

Falk hatte beschlossen, sie zu begleiten und Lorenz als seinen Stellvertreter zurückgelassen. Außer dem Hauptmann waren noch vier bewaffnete Männer mitgekommen. Doch diesmal wurden sie nicht gefesselt, die Stoffbinden mussten sie nur ein kurzes Stück tragen, dann wurden sie ihnen wieder abgenommen. So sah Lukas zum ersten Mal die Umgebung des Lagers. Ein hoher Berg ragte im Hintergrund auf, statt Fichten wuchsen hier hohe Buchen. Sie passierten ein paar seltsam geformte Felsblöcke, die sich übereinander türmten.

»Die Teufelsmühle wird dieser Ort genannt«, erklärte Falk. »Ein Müller hat hier dem Teufel einst seine Seele verkauft. Der Harz ist voll von solchen Geschichten. Das Böse ist in dieser Gegend sehr stark, und es wird jeden Tag stärker, wie mir scheint.«

Lukas dachte an die Teufelsmauer, die den Harz an gewissen Stellen umgab. Er verstand immer mehr, warum sich Schönborn gerade diese Gegend für seine finsteren Pläne ausgesucht hatte.

Die Männer, die sie begleiteten, dienten nicht zu ihrer Bewachung, das war nicht nötig. Immerhin befand sich Gwendolyn noch im Lager der Harzschützen. Den Blick, den sie Lukas zum Schluss zugeworfen hatte, würde er nie vergessen. Für sie sah es vermutlich so aus, als wäre sie nichts weiter als ein Pfand bei einem zwielichtigen Geschäft. Aber hatte Lukas überhaupt eine Wahl gehabt?

Während sie auf einem schmalen Pfad hinunter ins Tal stiegen, vorbei an weiteren rauen moosbewachsenen Felsen, dachte Lukas noch einmal über Falks Angebot nach. Der Hauptmann hatte recht: Allein würden sie es niemals bis zum Kyffhäuser schaffen, ganz abgesehen von den Gefahren, die ihnen dort drohten. Die Harzschützen hingegen waren eine kleine Armee. Immerhin hatten sie ihre Waffen zurückbekommen. Mit dem Degen an der Seite fühlte sich Lukas gleich ein wenig sicherer. Auch ihre Gewänder hatten sie notdürftig waschen können und von den Harzschützen ein paar neue Kleidungsstücke bekommen. Die Frühlingssonne schien warm auf die letzten Schneereste, die Vögel zwitscherten, und Lukas’ Stimmung besserte sich mit jedem Schritt.

Sie wanderten hinunter ins Tal und folgten einem Wildwechsel. Nach einiger Zeit hörte Lukas das Rauschen von Wasser. Schon bald war zwischen den Baumwipfeln hindurch ein Fluss zu sehen. Lukas vermutete, dass es der gleiche war, dem sie am Beginn ihrer Reise schon gefolgt waren.

»Die Bode«, erklärte Falk und deutete auf das tosende Gewässer, das pfeilschnell zwischen den Felsen hindurchströmte. »Ein tückischer Fluss. Wenn wir ihm folgen, kommen wir in ein paar Stunden zum Bergwerk.«

»Habt Ihr keine Angst, dass uns irgendwo Soldaten auflauern könnten?«, fragte Giovanni. »Wir haben nur vier Männer mitgenommen …«

Falk lächelte. »Oh, nur weil du meine Männer nicht sehen kannst, heißt das nicht, dass wir ungeschützt sind. Glaubt mir, wir sind vollkommen sicher. Außerdem gibt es Mittel und Wege, wie wir Harzschützen uns verständigen können.« Er zeigte auf eine Rauchsäule, die entfernt aufstieg. »Dieser Rauch zum Beispiel stammt von einem Köhlermeiler. Von denen gibt es dutzende im Umkreis. Solange der Rauch als Faden aufsteigt, ist alles gut.«

»Rauchzeichen!« Giovanni nickte überrascht. »Keine schlechte Idee.«

»Danke, du Naseweis. Und das ist nicht die einzige Möglichkeit. Es gibt Leuchtfeuer, Spiegel, Hörner …« Falk lachte grimmig. »Die Schweden halten uns für einfache Bauern und Wegelagerer, dabei sind wir besser gerüstet als so manches Heer. Hier in den Bergen sind wir ihnen gegenüber im Vorteil. Wir haben Nachricht erhalten, dass Bannier einen größeren Straftrupp in den Harz schicken will, um ein paar Dörfer niederzubrennen, zu brandschatzen, das Übliche eben … Nun, sie werden ihr blaues Wunder erleben!« Er musterte Lukas abwartend. »Vor allem, wenn wir schon bald mächtige Zauberkrieger auf unserer Seite haben.«

»Nochmal, wir sind keine Zauberkrieger«, sagte Lukas.

»Nun, das wird sich ja bald zeigen. Spätestens, wenn ihr dem Berggeist gegenübersteht.«

Jerome warf Lukas einen spöttischen Blick zu. »Zauberkrieger!«, flüsterte er. »Man hat mich ja schon viel genannt: Degengott, Herzensbrecher, Weinvernichter, aber Zauberkrieger …«

»Immer noch besser als Zauberzwerg«, brummte Paulus. »Wobei das besser zu dir passen würde.«

Kurze Zeit später erreichten sie das Flussbett. Der Weg war kaum noch zu erkennen. Immer wieder mussten sie über schlüpfrige Steine springen, wobei Jerome oft die Vorhut übernahm, Felsen emporkletterte und Ausschau nach dem weiteren Verlauf des Weges hielt.

»Dein Freund ist ziemlich geschickt«, bemerkte Falk anerkennend. Sein Blick glitt über die Gefährten. »Ein Geschickter, ein Starker und ein Schlaumeier. Fragt sich nur, welche Rolle du in diesem Gespann spielst, Lukas. Die des Zauberers?«

»Unsinn!«, gab Lukas zurück. Es gefiel ihm überhaupt nicht, wie ihn Falk immer wieder auf seine vermeintlichen Zauberkräfte ansprach. Ebenso wie Gwendolyn, so, als wollte ihn alle Welt in eine ganz bestimmte Richtung drängen. Doch er musste zugeben, dass er offenbar gewisse magische Fähigkeiten hatte. Die Stimme des Wolfs in seinem Kopf hatte das vorher wieder bewiesen. Auch das Grimorium sprach von Zeit zu Zeit mit ihm.

»Warum seid Ihr Euch eigentlich so sicher, dass wir nicht weglaufen?«, fragte Lukas, um das Thema zu wechseln. »Vielleicht liegt uns ja gar nicht so viel an dem Mädchen.«

»O doch!« Falk grinste. »Ich hab’s in deinen Augen gesehen, Junge. Du magst den rothaarigen Wildfang, sogar mehr als das. Das ist auch der Grund, warum ich sie als Geisel behalten habe. Du stehst ihr nahe, auch wenn du es nicht zugeben willst.«

So verflossen die Stunden. Es ging bereits auf den Abend zu, als sie den Weg am Fluss entlang schließlich wieder verließen. Der Wald öffnete sich zu einer Rodung hin, weiter entfernt waren Häuser und auf einer Anhöhe ein zerstörtes Schloss zu sehen, von dem eine Rauchfahne aufstieg. Falk stieß einen Fluch aus.

»Das Schloss von Elbingerode … Wohin man blickt, nur Verwüstung! Aber der Tag der Rache ist nah, o ja! Hier lang jetzt!«

Mit finsterer Miene führte er sie zurück in den Wald, wo sich nach einiger Zeit eine größere Lichtung auftat. Mittlerweile war es so dunkel, dass Lukas nur noch Schemen ausmachen konnte. Auf der Lichtung stand ein seltsames Holzgerüst, das aussah wie ein riesiger Galgen.

»Holt die Fackeln raus, Männer!«, befahl Falk.

Im Licht der Fackeln sah Lukas nun ein großes Tretrad. Daran war eine Kette befestigt, an der in regelmäßigen Abständen Lederbälle angebracht waren, wie bei einem riesigen Rosenkranz.

»Unser Paternoster«, erklärte Falk grinsend. »Damit wird das Wasser aus den Gängen gepumpt. Heinzenskuns t nennt man das. Es heißt, die Menschen hätten die Technik einst von den Zwergen gelernt. Wir steigen allerdings durch den Schacht ein.«

»Wir?«, fragte Giovanni. »Kommt Ihr etwa mit?«

»Ich will selber sehen, was es mit diesem Berggeist auf sich hat«, erwiderte Falk achselzuckend. »Soll keiner sagen, der Hauptmann der Harzschützen habe Angst. Und außerdem will ich auch sehen, was ihr Kerle dort unten anstellt.«

Er ging auf eine Art Brunnenschacht zu, der mit etlichen Brettern bedeckt war. Auf den Brettern lagen große schwere Steine, jemand hatte mit Zweigen ein behelfsmäßiges Pentagramm in die Mitte gelegt.

»Das haben die Steiger gemacht, damit der Geist nicht rauskommt«, sagte Falk. »Helft mir, den Schacht wieder freizuräumen.«

Zusammen mit den Harzschützen begannen sie, die Steine zu entfernen. Die Männer murmelten leise Gebete, ab und zu lauschten sie angespannt, doch von unten war nichts zu hören. Die Wachleute waren sichtlich froh, dass sie nicht mit hinabsteigen mussten.

Als der letzte Stein schließlich entfernt war, schob Falk die Bretter zur Seite. Eine Leiter führte in die Tiefe. Der Hauptmann verteilte kleine eiserne Behälter, aus denen jeweils ein Docht herausragte.

»Nehmt die Grubenlampen und passt auf, dass sie nicht ausgehen! Dort unten ist es dunkler als in der Hölle«, sagte Falk und entzündete die Lampen an einer Fackel. »Und jetzt folgt mir.«

Nacheinander stiegen sie hinab in die Finsternis. Lukas erkannte schnell den Sinn der seltsamen Lampen. Sie ließen sich mit einem Henkel am Gürtel befestigen, sodass man beide Arme zum Klettern und Arbeiten frei hatte.

Der Schacht ging etwa zehn Schritt in die Tiefe und endete in einem niedrigen grobgehauenen Gang, der mit Balken abgestützt war. Schon jetzt bekam Lukas Platzangst, er fürchtete, dass der Schacht jeden Moment über ihnen einstürzen könnte. Wie mochte es erst den Bergarbeitern gehen, die jeden Tag hier unten in der Dunkelheit schufteten?

Vorsichtig tappten sie durch die Dunkelheit, bis sie an eine weitere Leiter kamen, die noch tiefer hinabführte. Auch diese kletterten sie hinunter. In dem Gang, den sie jetzt betraten, lagen überall Hacken und Schaufeln am Boden, auch die eine oder andere Grubenlampe. Es sah aus, als wäre dieser Ort überstürzt verlassen worden. Die Bergarbeiter schienen vor irgendetwas geflohen zu sein.

»Kann mir schon vorstellen, dass man hier unten Geister sieht«, sagte Paulus. »Aber das muss nicht heißen, dass es wirklich …«

»He, hört ihr das?«, unterbrach ihn Jerome.

Tatsächlich war nun von fern her ein Kratzen, Scharren und Wühlen zu vernehmen, so als würde sich etwas mit großer Gewalt unter ihnen durch Erde und Felsen graben.

Lukas hob seine Grubenlampe, doch die kleine flackernde Flamme leuchtete nicht viel heller als ein Kienspan. Das Licht reichte gerade mal zwei, drei Schritt weit. So tappte er weiter.

»Herrgott nochmal, ist das dunkel!«, schimpfte Paulus. Er griff nach seinem Palasch. »Egal, was dort unten ist, es lässt sich sicherlich mit Eisen bekämpfen.«

Der Tunnel endete in einer Sackgasse. Dort gab es ein Loch im Boden, daraus kam das unheimliche Geräusch. Es war jetzt ganz deutlich zu hören.

Da unten war … etwas .

Über dem Loch war in der Decke eine Winde mit einem Seil angebracht, mit der man offenbar Eimer mit Erzgestein aus den unteren Regionen hochziehen konnte.

»Die neun Kreise der Hölle«, murmelte Giovanni.

»Was sagst du?«, fragte Paulus.

»Ach, das ist ein langes Gedicht von unserem großen italienischen Poeten Dante. Da geht es immer tiefer in die Hölle und …«

»Für Gedichte haben wir jetzt wirklich keine Zeit«, unterbrach ihn Falk. »Wenn wir wissen wollen, was da unten ist, müssen wir wohl oder übel an dem Seil hinabklettern. Bringen wir es also hinter uns!«

Lukas und Falk kletterten voraus. Das Seil war nass und schmierig, sodass sie immer wieder abrutschten. Glücklicherweise ging es nur einige Meter weit in die Tiefe. Der Gang darunter war breiter, die Decken höher, vielleicht waren sie auch natürlichen Ursprungs. An einigen Stellen waren am Boden erloschene Feuerstellen zu sehen, dort, wo die Bergarbeiter mit Feuer den Felsen gesprengt hatten. Staub und kleine Steine rieselten von der Decke, die Balken hier wirkten sehr alt und brüchig.

Unwillkürlich dachte Lukas daran, wie viele Tonnen Erde und Fels sich bereits über ihnen türmten. Er kam sich wirklich vor wie in diesem Gedicht, von dem Giovanni vorher noch erzählt hatte.

Er stand hier mitten in der Hölle.

Je weiter sie dem breiten Gang jetzt folgten, desto lauter wurde das Kratzen, Scharren und Wühlen. Keiner sagte mehr ein Wort, stattdessen hatten sie ihre Waffen gezückt, bereit zu kämpfen, egal, was dort vorne im Dunklen lauerte. Der Tunnel machte eine leichte Biegung, nun konnte Lukas in der Finsternis ein Leuchten erkennen.

Es waren zwei rote Punkte, die sich im gleichen Abstand leicht hin und her bewegten.

Augen! , durchfuhr es Lukas.

Mit erhobenem Degen näherte er sich langsam. Das Kratzen und Scharren hatte aufgehört, dafür ertönte jetzt ein Schnauben. Es klang wie das Atmen eines großen Tiers. Nun schälten sich aus der Dunkelheit die Umrisse eines Körpers heraus. Lukas zuckte zusammen.

Was, um Himmels Willen, ist das …?

Das … Ding dort vor ihnen sah aus wie ein schwarzes Pferd, allerdings war der Hals viel zu lang und die Beine zu kurz. Die Augen glühten rot und böse wie glühende Kohlen, seine Nüstern bewegten sich wie bei einem Hengst.

»Au nom de dieu …«, hauchte Giovanni.

Ein gespenstisches Wiehern erklang, als der Berggeist sich ihnen jetzt näherte. Das Ding bleckte seine weißen Pferdezähne …

Dann sprang es direkt auf die Freunde und Falk zu.