»Z ur Seite!«, rief der Hauptmann.
Sie warfen sich auf den felsigen Boden, und das gespenstische Ding rauschte über sie hinweg. Dabei zog es sich in die Länge wie ein Papierdrachen, der Pferdeschwanz verwandelte sich in einen feurigen Schweif. Der Schwanz streifte Jerome, der am weitesten hinten stand.
»Mon dieu , das brennt wie Feuer!«, schrie Jerome. »Nehmt euch vor dem Schweif in Acht!«
Das Wesen machte kehrt und setzte erneut zum Sprung an. Diesmal stach Lukas mit dem Degen nach ihm, Paulus holte mit seinem wuchtigen Palasch aus. Doch beide Waffen glitten durch den Körper wie durch Rauch. Das durchscheinende Pferd bleckte die Zähne und wieherte, ganz so, als würde es lachen.
Im Eifer des Gefechts waren ihre Grubenlampen ausgegangen. Doch es war nicht völlig dunkel. Die roten Augen des Geisterpferds leuchteten so hell, dass Lukas die entsetzten Gesichter seiner Freunde sehen konnte.
Auch Falk war vom Schrecken gezeichnet. »Das Vieh lässt sich nicht mit Waffen bekämpfen!«, keuchte er. »Womit dann? Mit Zauberei?« Er drehte sich zu Lukas um. »Tu was, schnell!«
Wieder griff das Geisterpferd an, sein langer feuriger Schweif schlug wie eine Peitsche nach allen Richtungen hin aus. Lukas schrie, als ihn der Schweif im Gesicht streifte. Es war, als würde ihn jemand mit brennendem Öl übergießen.
Die Freunde wichen langsam zurück. Falk hieb noch einmal mit seinem Korbdegen auf das schwarze Pferd ein, was sich daraufhin schrill wiehernd auf die Hinterbeine stellte. Im letzten Moment sprang der Hauptmann zur Seite, bevor die brennenden Hufe ihn zermalmten.
»Zurück!«, rief Falk. »Zum Loch mit der Seilwinde!«
Hals über Kopf flohen sie, Lukas war der Letzte. Er glaubte, den feurigen Atem des Pferdes im Nacken zu spüren. In der Dunkelheit stolperte er über einen Stein und schlug mit den Knien auf.
Er wollte wieder aufstehen, doch es war zu spät. Der Berggeist war bereits über ihm. Wieder bäumte sich das Pferd auf, gleich würde es Lukas mit seinen Hufen zerquetschen oder mit dem Schweif verbrennen. Das Wiehern klang böse und schrill in seinen Ohren.
Das ist das Ende! , dachte Lukas.
In diesem Augenblick spürte er das Grimorium. Es pochte unter seinem Wams, so heftig wie noch nie zuvor. In Lukas’ Kopf tauchten plötzlich Wörter auf, vor seinem inneren Auge leuchteten die Buchstaben hell auf, wie eine Flammenschrift. Ohne nachzudenken, schleuderte er dem Geist die Wörter entgegen.
»VANITAS PERSPEKTUM!«, schrie er. »VADE, EQUUS, NUNC!«
Etwas Seltsames geschah. Das Pferd, das eben noch mit den Hufen nach ihm ausgeholt hatte, zog sich ganz plötzlich in die Länge, viel mehr als vorher noch. Es schnaubte überrascht, als sich sein Körper mehr und mehr in einen dünnen rauchigen Faden verwandelte, ein schlürfendes Geräusch ertönte.
Lukas spürte ein Vibrieren an seinem Gürtel. Es war die Grubenlampe, die den Geist aufsaugte!
Das Wiehern kippte in einen entsetzten Schrei, als das Pferd als fadendünne Rauchsäule nach und nach im Inneren der Lampe verschwand. Zunächst der Schweif, die Hinterhufe, die Vorderhufe … Schließlich ragte nur noch der Kopf mit den glühenden roten Augen hervor. Doch auch dieser wurde schließlich mit einem letzten Schlürfen eingesogen.
Geistesgegenwärtig griff Lukas nach einem Kiesel und steckte ihn in die Öffnung der Lampe, die damit versperrt war.
Der Geist war gefangen.
Ein leises Wimmern war aus dem Inneren der Lampe zu hören.
Erst jetzt hatte Lukas Gelegenheit, sich umzudrehen. Die Freunde standen noch immer im Gang. Falk hatte seine Grubenlampe wieder entzündet und starrte ihn verblüfft an.
»Du … du hast das Ding in die Lampe gehext …«, brachte er schließlich hervor. »Wie um alles in der Welt …?«
»Glaubt mir, ich weiß selbst nicht, wie das ging«, erwiderte Lukas mit schwacher Stimme. »Es … es ist einfach passiert.«
»So, einfach passiert, ja?« Falk musterte ihn misstrauisch. »Und dieser Zauberspruch, den du aufgesagt hast … Der ist dann wohl auch einfach passiert?« Plötzlich lächelte er. »Aber warum sollte ich dir böse sein? Du bist halt doch ein Zauberkrieger. Beweis erbracht!« Er streckte die Hand aus. »Und jetzt gib mir die Lampe. Wir wollen den Geist für immer verschwinden lassen. Ich kenne einen guten Ort dafür.«
Sie kletterten die Seilwinde hinauf und danach die beiden Leitern. Oben unter dem Sternenhimmel erwarteten sie die Wachleute mit großen angstgeweiteten Augen.
»Was ist dort unten geschehen, Hauptmann?«, fragte einer von ihnen furchtsam. »Wir haben tief unten ein Wiehern gehört und laute Schreie …«
»Der Geist ist besiegt«, sagte Falk. Er drehte sich zu Lukas um. »Er hat ihn besiegt. Ich denke, der Junge kann uns noch äußerst nützlich sein. Und jetzt lasst uns hinüber zum Fluss gehen.«
Unten an der Bode angekommen nahm Falk die verschlossene Grubenlampe und schleuderte sie in die rauschenden Fluten, wo sie versank.
»Dort sollst du bleiben, bis zum Ende der Welt!«, rief er dem Geist hinterher. Dann wandte er sich lächelnd an die Gefährten.
»Lasst uns hier die Nacht verbringen, essen und trinken. Ihr habt die Prüfung bestanden. Die Harzschützen sind von nun an auf eurer Seite!«
Zwischen einigen Felsen schlugen sie ihr Nachtlager auf. Sie sammelten Reisig und machten ein wärmendes Feuer, das munter prasselte. Falk hatte eine Schinkenkeule, einen Laib Käse und einen kleinen Schlauch Wein aus dem Lager der Harzschützen mitgenommen. Doch auch wenn Lukas tagsüber kaum etwas gegessen hatte, hatte er keinen rechten Appetit. Stattdessen sah er zu, wie sich Falk und die anderen Harzschützen mit dem Wein betranken.
Mit jedem Schluck wurde Falks Erzählung vom Berggeist noch farbenprächtiger und unheimlicher, zur großen Freude seiner Kameraden. Paulus langte gut zu, ebenso wie Jerome und Giovanni, die Erleichterung über das überstandene Abenteuer war ihnen anzusehen.
»Und dann verschwindet dieses Ding einfach in der Lampe«, sagte Falk ein weiteres Mal lachend und wischte sich über den Bart. »Nur weil der Junge so ein paar Zauberwörter sagt. Einfach unglaublich!« Er wandte sich an Lukas. »Wie ging das nochmal? Irgendwas mit Vanitas …«
»Ich weiß es nicht mehr«, erwiderte Lukas achselzuckend. »Die … die Worte sind mir einfach so über die Lippen gekommen.«
»Ha! Das kannst du mir nicht erzählen, Kleiner! Du bist ein Zauberer, du hast das sicher studiert. Hast in so großen Wälzern geblättert, hoch oben in irgendwelchen Türmen. So macht man das doch als Zauberer. Jetzt weiß ich auch, wie du gegen den Schwarzmagier bestehen willst.«
»Herrgott, ich bin kein Zauberer!«, erwiderte Lukas mit lauter Stimme. »Wie oft muss ich das noch sagen? Ich will von diesem ganzen Zeug nichts mehr hören, verstanden? Und jetzt lasst mich in Ruhe, verdammt!«
Die anderen schwiegen betreten. Es war Giovanni, der schließlich das Thema wechselte.
»Ein wirklich unheimliches Ding war das«, sagte er, an Falk gewandt. »Eine Mischung aus Pferd und Geist. Habt Ihr von so etwas vorher schon mal gehört?«
Falk runzelte die Stirn. »Naja, es gibt immer wieder Geschichten über Geister in Harzer Bergwerken. Sie heißen auch Bergteufel oder Bergmännlein, manche sind gut, andere böse, wieder andere unberechenbar. Im Bergwerk Rammelsberg soll es einen Schwarzen Abt geben, der die Bergarbeiter beschützt oder auch in den Schacht stößt, ganz wie es ihm beliebt. Auch von Geisterpferden ist die Rede, aber das sind eigentlich alles nur Sagengestalten …«
»Und diese finsteren Sagengestalten erwachen jetzt zum Leben«, fuhr Giovanni nachdenklich fort. »Ich kann mir gut vorstellen, wer dahintersteckt.«
»Schluss mit dem Trübsal blasen!«, meldete sich Jerome leutselig. »Wir sollten einfach froh sein, dass wir noch einmal davongekommen sind.« Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Weinschlauch. »Das nächste Mal haben wir vielleicht kein so großes Glück mehr.«
»Man kann das Glück auch verstoßen«, sagte Paulus leise.
»Wie meinst du das?«, fragte Lukas.
»Naja, wenn mir der liebe Herrgott die Fähigkeit gegeben hätte, so … so Dinge anzustellen wie du, dann würde ich ihm nicht ins Gesicht spucken.«
»Paulus, lass das!«, sagte Giovanni.
»Ich mein ja nur«, murmelte Paulus und ließ sich von Jerome den Schlauch Wein geben.
Falk und die Harzschützen hatten von dem letzten kurzen Wortwechsel glücklicherweise nichts mitbekommen. Lukas wusste sehr wohl, was Paulus damit hatte sagen wollen. Schon ein paar Mal waren sie jetzt in lebensbedrohliche Situationen gekommen, die durch einen Zauber vielleicht hätten vermieden werden können. Doch Lukas weigerte sich nach wie vor, das Grimorium zu verwenden.
Warum waren ihm diese Worte vorhin über die Lippen gekommen, ganz von selbst? Weil das Grimorium ihn hatte schützen wollen? So musste es sein. Im Augenblick der größten Gefahr hatte es sich einfach über Lukas’ Willen hinweggesetzt. Es hatte ihn … benutzt. War es so auch bei Elsa gewesen? Etwa auch bei seiner Mutter, die ebenso wie ihre beiden Kinder zuvor eine Auserwählte gewesen war? Warum nur hatte sie das Grimorium damals nicht zerstört, sondern stattdessen versteckt?
Weil das Buch böse ist … weil es über unser Leben bestimmt …
In dieser Nacht schlief Lukas endlich wieder einmal tief und fest. Allerdings träumte er heftig. Er sah seine Mutter, die ihn und Elsa an der Hand hielt, beide waren sie noch kleine Kinder. Gemeinsam liefen sie durch einen Garten voller wunderschöner Blumen. Doch plötzlich fingen die Blumen an zu welken, sie verdorrten und zerfielen zu Staub. Auch Elsa und seine Mutter zerfielen zu Staub. Am Ende stand Lukas ganz allein in einer Wüste, im Hintergrund war ein riesiger Berg zu sehen, über dem Hexen hohnlachend mit ihren Besen flogen.