A m nächsten Morgen verzehrten sie die Reste ihres Abendmahls und wuschen sich im klirrend kalten Wasser der Bode. Dann machten sie sich auf den Rückweg. Im Gegensatz zum Hinweg machte Falk jetzt einen ausgesprochen fröhlichen Eindruck. Immer wieder blinzelte er Lukas freundlich von der Seite an oder knuffte ihn wie einen alten Freund. Dabei hatte der gleiche Falk ihn noch vor zwei Tagen in den stinkenden Höllenschlund werfen lassen.
»Und Ihr werdet Euer Versprechen halten?«, wandte sich Lukas an den Hauptmann, während sie den schmalen steilen Pfad vom Fluss hinauf ins Gebirge stiegen. »Ihr helft uns, meine Schwester zu befreien?«
»Ein Harzschütze hält immer sein Versprechen«, erwiderte Falk. »Doch zuerst geht es gegen die Schweden. Ich hoffe, unsere Späher haben in der Zwischenzeit mehr über den Weg der Strafexpedition herausfinden können. Wir lauern ihnen auf und machen ihnen den Garaus.« Er lächelte. »Ich bin froh, dass wir von nun an zusammen kämpfen werden.«
»So war es nicht ausgemacht!«, protestierte Lukas.
»Hör zu, Junge. Dieses Kommando ist schon lange geplant, ich kann es jetzt nicht so einfach absagen. Aber mein Wort gilt. Wenn wir die Schweden besiegt haben, bringen wir euch zum Kyffhäuser. Alles Weitere wird man vor Ort sehen.«
Lukas schwieg. Er bekam immer mehr das Gefühl, dass Falk ihn hinhielt. Dass es ihm gar nicht so sehr darum ging, ihnen gegen Schönborn zu helfen, als vielmehr, dass sie den Harzschützen halfen.
Am frühen Nachmittag hatten sie das Lager wieder erreicht. Es befand sich in der Nähe des Rambergs, wie Lukas jetzt von Falk erfuhr, ein schroffes Granitmassiv mit mehreren Gipfeln. Auf die Stoffbinden verzichteten die Wachen nun ganz, und so konnte Lukas die mächtige Weißdornhecke bestaunen, die den Harzschützen als Versteck diente. Vögel nisteten darin, Eichhörnchen kletterten in den Zweigen; es gab einen gut getarnten Tunnel, der in einer Mulde unter der Hecke hindurchführte. So waren sie auch hineingelangt. Und vermutlich hatten die Wölfe gestern den gleichen Weg genommen.
Die verbliebenen Männer hatten in der Zwischenzeit das Lager aufgeräumt und die Toten begraben. Das Fell des großen weißen Wolfs hing als Trophäe an einem Holzgerüst und flatterte im Wind.
Falk befahl seine Feldwebel zu sich ins Zelt für eine Lagebesprechung, an der die Freunde teilnehmen sollten. Auch Gwendolyn war anwesend. Es tat Lukas weh zu sehen, dass sie wohl immer noch böse auf ihn war. Sie warf ihm nur einen kurzen kühlen Blick zu und unterhielt sich stattdessen betont gelassen mit Jerome und den anderen.
Falk breitete die Landkarten auf dem Tisch aus und bat um Ruhe.
»Ich habe frohe Kunde, der Junge hier hat den Berggeist im Bergwerk gebannt!«, sagte er, was bei den Anwesenden für anerkennendes Raunen sorgte. »Wir können dort also wieder Erz abbauen für unsere Waffen.«
Falk hob die Hand. »Leider ist wohl auch wahr, dass sich im Harz die Mächte der Finsternis sammeln. Der Berggeist war nur eines von vielen Sagenwesen, die derzeit leibhaftig umgehen. So wie es aussieht, müssen die Harzschützen die Heimat nun auch bald gegen Dämonen verteidigen.«
Er berichtete den anderen davon, was Lukas ihm über den Schwarzmagier Waldemar von Schönborn und dessen Pläne erzählt hatte. Diese hörten schweigend und mit versteinerten Gesichtern zu.
»Die Schweden sind auch Dämonen«, warf Lorenz ein. »So wie alle verfluchten Söldner! Teufel sind sie allesamt! Mit ihnen müssen wir als erstes aufräumen.«
»Du hast recht, Lorenz. Die Schweden sind unser erstes Ziel, alles andere muss warten.« Falk wandte sich an seine Feldwebel. »Wissen wir jetzt, wo und wann sie genau durch den Harz ziehen werden?«
Ein älterer Haudegen mit zerkratztem Schwert im Waffengurt trat vor und machte Meldung. Späher hatten herausgefunden, dass Bannier und seine Männer schon in zwei Tagen von Quedlinburg kommend Richtung Süden ziehen würden.
»Dann heizen wir ihnen am Pass hinter Gernrode ein«, sagte Falk grimmig. Er deutete auf einen Punkt auf der Karte. »Dort werden sie uns am wenigstens erwarten.« Er wandte sich an Lukas und dessen Freunde. »Seid ihr dabei?«
»Offenbar bleibt uns ja gar nichts anderes übrig«, erwiderte Lukas. »Wenn wir wollen, dass ihr uns danach zum Kyffhäuser bringt.«
»So ist es ausgemacht.« Falk nickte. »Erst die Schweden, dann führen wir euch durch den Harz.«
»Um am Kyffhäuser gegen einen leibhaftigen Schwarzmagier zu kämpfen?«, meldete sich jetzt ein weiterer Feldwebel mit einer langen Narbe im Gesicht. »Wie soll das gehen? Wir sind nur einfache Soldaten.« Lukas hatte ihn im Kampf gegen die Wölfe erlebt. Er war ein tapferer Mann, doch jetzt klang seine Stimme furchtsam.
»Wir haben diese weißen Bestien erlebt«, fuhr der Feldwebel fort und wandte sich an die Anwesenden. »Stellt euch vor, es gäbe noch mehr von denen oder gar noch schrecklichere Wesen! Unsere Waffen sind alt, wir kämpfen jetzt schon am Rande unsere Kräfte! Und das alles für ein Mädchen, das wir nicht einmal kennen …«
Die anderen nickten zustimmend und begannen miteinander zu diskutieren. Lautes Stimmengewirr hob an. Schließlich trat ein weiterer Mann vor und hob die Hand.
»Hauptmann, wir sind keine Feiglinge, das wisst Ihr«, sagte er. »Aber was Ihr da von uns verlangt, ist unmöglich! Schwarze Magie kann nur durch weiße Magie bekämpft werden. Das weiß doch jeder! Der Junge mag den Berggeist gebannt haben, aber wer sagt, dass es ihm noch mal gelingt? Der Preis ist zu hoch.«
»Die Schweden sind unsere Feinde!«, meldete sich ein anderer. »Dieser Zauberer und das Mädchen gehen uns nichts an! Außerdem können wir gegen einen Magier niemals siegen.«
»Vielleicht doch«, sagte der Köhler Lorenz. »Mag sein, dass es ein Mittel gibt.« Er wartete, bis unter den Männern Ruhe einkehrte und ihn alle gespannt ansahen Dann deutete er auf Gwendolyn. »Ich hab mich vorhin mit dem Rotschopf ein wenig unterhalten. Die ist nicht übel, schießt wie der Teufel mit ihrem Bogen, hab ich selbst gesehen.« Er machte eine Pause, erst dann fuhr er fort: »Nun, sie meinte, es gäbe ein mächtiges Zauberbuch, das mächtigste der Welt …« Lorenz wies auf Lukas. »Der Junge hat es.«
Lukas erstarrte. Er sah Gwendolyn an. »Du … du hast ihnen von dem Grimorium erzählt?«, flüsterte er.
»Ehrlich gesagt dachte ich, Falk wüsste bereits davon«, gab Gwendolyn achselzuckend zurück. »Wie solltest du sonst den Berggeist gebannt haben, wenn nicht mit Hilfe des Grimoriums?«
Die Männer tuschelten miteinander, der eine oder andere musterte Lukas argwöhnisch und schlug ein Kreuz.
»Du hast ein Zauberbuch?« Falk runzelte die Stirn. »Davon hast du mir nichts gesagt.« Er machte eine auffordernde Handbewegung. »Zeig es mir!«
»Das Buch geht Euch nichts an«, entgegnete Lukas. Unwillkürlich ging seine Hand zum Wams. »Es gehört ganz allein mir!«
»Mag schon sein. Aber du hast mich angelogen.« Falk hob streng den Finger. »Du meintest, diese Zauberworte seien einfach so aus deinem Mund gekommen. Doch das stimmt gar nicht! Du hast dieses Buch unten im Bergwerk zu Hilfe genommen, nicht wahr?«
»Nein!«, schrie Lukas. »So … so war es nicht!«
»He, Lukas, jetzt beruhig dich mal.« Paulus räusperte sich. »Meinst du nicht, wir sollten jetzt mal langsam die Karten auf den Tisch legen? Ja, du hast das Grimorium. Und die Harzschützen wollen uns helfen, Schönborn am Kyffhäuser zu besiegen. Wenn du mich fragst, geht das nur mit dem Grimorium. Also können sie getrost davon erfahren.«
»Das Buch gehört mir«, wiederholte Lukas und wich einen Schritt zurück. »Und ich werde es nicht verwenden. Das im Bergwerk war ein Versehen, es wird nicht wieder vorkommen. Das ist mein letztes Wort.«
»Du willst das Zauberbuch nicht verwenden?« Falk schüttelte den Kopf. »Was für ein Unsinn! Das werde ich niemals zulassen. Wie sollen wir sonst gegen den Schwarzmagier bestehen? Und sicher gibt es darin auch Sprüche, mit denen wir die Schweden zur Hölle schicken können. Mit einem mächtigen Feuerball, einer Nebelwand, die sie alle verschluckt, einem Blitz … Was weiß ich?« Wieder streckte er die Hand aus. »Wenn du das Buch nicht nutzt, dann gib es mir. Jetzt!«
»Moment mal!«, unterbrach ihn nun Giovanni. »So haben wir nicht gewettet.« Seine Hand ging zum Degen. »Das Grimorium gehört Lukas. Er allein entscheidet, was damit geschieht.«
»Ja, er entscheidet«, sagte Gwendolyn. »Aber man kann auch die falschen Entscheidungen treffen.« Sie wandte sich an Lukas. »Ich habe es dir schon mal gesagt: Ich finde es falsch, dass du es nicht für das Gute einsetzt. Warum nicht in einem Gefecht? Ja, warum nicht gegen die Schweden? Es wäre …«
»Ihr versteht nicht!«, rief Lukas. »Ihr alle versteht nicht! Dieses Buch hat das Leben meiner Schwester zerstört, auch das meiner Mutter. Ich werde nicht zulassen, dass es auch meines zerstört, und das von uns allen! Ich fühle, dass es böse ist. Ich wollte es nie haben, nie!«
»Dann gib es mir, jetzt!« Falk griff nach Lukas’ Wams und zerrte daran, doch dieser riss sich los.
»Keiner rührt unseren Freund an!«, rief Paulus.
Jerome und Giovanni zogen ihre Degen, auch die Harzschützen griffen zu ihren Waffen. Ein allgemeines Gerangel entstand. Ohne weiter nachzudenken, lief Lukas auf den Zeltausgang zu und schlüpfte hinaus.
»Lukas!«, rief ihm Giovanni nach. »Was tust du? Komm zurück!«
Doch Lukas kam nicht zurück. Er rannte durch das Lager, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen. Dieses Buch machte alles kaputt! Die Beziehung zu seinen Freunden, ja, auch die zu Gwendolyn. Das Grimorium brachte nur Hass und Verderben. Und doch konnte er es nicht einfach wegwerfen. Es war zum Verzweifeln! Wenn doch nur Senno oder Merlin bei ihm wären, die hätten sicher Rat gewusst!
Hinter ihm ertönten weiter aufgeregte Stimmen, die jetzt aber immer leiser wurden. Der eine oder andere Harzschütze draußen im Lager drehte sich verdutzt nach ihm um, doch keiner folgte ihm.
Schon kurz darauf hatte Lukas den Tunnel in der Hecke erreicht. Er rannte hindurch auf die andere Seite. Die beiden Harzschützen, die am Ausgang Wache standen, riefen ihm überrascht nach. Noch einmal hörte Lukas wie von fern Giovannis Stimme.
»Lukas, bleib hier! Geh nicht fort!«
Dann verschluckte ihn die Wildnis.
Elsa hörte die Stimmen in ihrem Kopf, erst ganz leise, dann immer lauter. Es waren klagende zornige Stimmen, Stimmen voller Schmerz, untermalt von einem tiefen Grollen, wie von einem Gewitter. Die Wölfe kamen zurück, und sie brachten keine guten Nachrichten.
Einmal mehr saß sie in der unterirdischen Bibliothek, wo sie eben das sogenannte Arbatel studierte. Es war ein riesiger staubiger Wälzer, ein Zauberbuch, das aus insgesamt neun Teilen bestand. Vieles darin war Unsinn, doch der eine oder andere Spruch war tatsächlich nützlich, ebenso das Kapitel über die Planetengeister. Ihr Vater sammelte sogenannte Grimoires; hier unten in der Bibliothek gab es griechische, persische, gälische, lateinische und sogar babylonische Zauberbücher, die ältesten der Welt. Das einzige Grimoire, das Vater in seiner Sammlung noch fehlte, war das Grimorium Nocturnum, jenes Buch der Macht, das Elsa wohl einmal besessen hatte. Jetzt gehörte es … jemand anderem.
Dem Buchdieb!
Er und seine Kumpane hatten zwei ihrer Spielkameraden getötet, die einzigen Freunde, die sie hatte. Der Dieb war irgendwo in der Nähe, das hatten ihr die Wölfe vor zwei Tagen berichtet. Aber offenbar konnten sie seiner nicht habhaft werden, irgendetwas Fürchterliches war geschehen!
Elsa klappte das Buch zu und verließ eilig die Bibliothek. Ihre Schritte hallten durch die einsamen Gänge. Ihren Vater hatte sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Er hatte ihr gesagt, dass er mit sehr wichtigen Vorbereitungen beschäftigt sei. Das Rumoren und Pochen waren seitdem lauter geworden, irgendetwas ging dort oben vor.
Bald ist es soweit, Elsa!, hatte ihr Vater ihr zugeflüstert, als er das letzte Mal in den Gewölben aufgetaucht war. Dann gehört diese Welt uns! Krieg und Chaos triumphieren, die alten Mauern stürzen endlich ein …
Eine der magischen Leuchtkugeln schwebte Elsa voraus und spendete Licht. Plötzlich hörte sie das Klirren von Rüstungsteilen, den Klang harter Stiefel. Schnell zog sie sich in eine dunkle Nische zurück. Die Leuchtkugel folgte ihr.
»Kusch!«, zischte Elsa.
Die Kugel verharrte kurz, als wüsste sie nicht recht, was zu tun war.
»Geh weg, VADE!«, flüsterte Elsa mit ihrer Zauberstimme.
Endlich schien die Kugel zu begreifen. Allein glitt sie den Gang entlang. Nur kurz darauf erschien einer der spanischen Söldner. Mit toten Augen und klappernder Rüstung stakte er an Elsa vorbei. Er hatte sie nicht bemerkt.
Sie wartete noch einen Moment, atmete tief durch, dann ging sie im Dunklen weiter.
Mittlerweile kannte sie den Weg, er verlief leicht abschüssig, der nackte Felsboden war kalt wie Eis. Schon bald wehte wieder die frische Brise, wie beim letzten Mal. Doch diesmal blieb Elsa nicht stehen, sie schritt voran, bis vor ihr grüner Farn zu erkennen war, der im Wind leise raschelte.
Seltsam …
Hatte ihr Vater nicht gesagt, dass die Luft draußen für sie giftig sei? Doch sie spürte kein Kratzen im Hals, sie musste nicht würgen, stattdessen atmete sie den wohltuenden Duft von Regen, Schnee, feuchtem Laub und Moos. Was für ein anderer Geruch als der von verstaubten Büchern und Pergamenten in der Bibliothek! Vielleicht täuschte sich ihr Vater ja. Elsa beschloss, noch ein Stück weiterzugehen, Schritt für Schritt, bis sie schließlich direkt vor dem Vorhang aus grünem Farn stand.
Vorsichtig zog sie ihn zur Seite.
Draußen war heller Tag, Vögel zwitscherten. Die Sonne blendete sie so stark, dass sie die Augen schließen musste. Als sie sie wieder öffnete, erkannte sie uralte, efeuumrankte Bäume, die sich an Felsen schmiegten, die Wurzeln krochen darüber wie Nattern. Der Eingang zur Höhle war gut verborgen, doch er war nicht unsichtbar.
Elsa verstand jetzt, warum ihr Vater die weißen Wölfe zu ihr gebracht hatte. Ja, sie waren ein Geschenk für sie gewesen, aber gleichzeitig dienten sie auch als Wächter. Vermutlich war Schönborn bewusst, dass es noch Zugänge zur Höhle geben musste, die nicht vermauert waren. Keiner würde an den riesigen Bestien vorbei in die unterirdische Burg gelangen.
Die Wölfe! Wieder hörte Elsa die klagenden Stimmen in ihrem Kopf.
Blut! Blut und Verderben! Tod allen Zweibeinern mit Eisentatzen!
Irgendwo in der Nähe brach etwas durchs Dickicht. Kurz darauf tauchte der erste weiße Wolfskopf zwischen den Blättern auf, zwei weitere folgten, doch kein vierter.
Lupus! , grollte es. Rache für Lupus!
Elsa musste sich auf die Lippen beißen, um nicht vor Schmerz und Trauer laut aufzuschreien. Ein weiterer ihrer Spielkameraden war offenbar tot, er hatte sein Leben für sie gegeben!
Greif kam auf sie zu, das Fell nass vor Schweiß, die Wölfe mussten den ganzen Weg hierher gehetzt sein. Er berichtete ihr von der Übermacht der Feinde und wie die Zweibeiner mit Hörnerschall die braunen Wölfe vertrieben hatten. Elsa hörte zu, die Hände in Greifs Fell verkrallt. Der warme Pelz spendete ihr ein wenig Trost. Trotzdem liefen ihr Tränen übers Gesicht.
»Was ist mit dem Buchdieb?«, wollte Elsa schließlich wissen. Sie schluckte schwer. »Hat er …?«
Er war es, ich bin sicher! Er hat Lupus getötet, zusammen mit einem anderen Zweibeiner! Rache für Lupus!
»Ihr sollt eure Rache haben, doch zuerst muss ich mit dem Buchdieb reden«, sagte Elsa. Sie verdrängte ihre Trauer und streichelte Greifs Fell. »Er weiß etwas, dass ich wissen muss! Etwas über diese Schatulle, die du mir gebracht hast.«
Das Amulett aus der Schatulle hatte Elsa nicht mehr losgelassen. Es hing an einer Kette um ihren Hals. In den letzten zwei Tagen hatte sie es immer wieder hervorgeholt und betrachtet. Wer war die Frau darauf? Elsa kannte sie, aber sie wusste nicht, woher. Sie musste es herausfinden!
Wer bist du?
Der Buchdieb würde die Frau kennen. Warum sonst sollte er das Amulett in der Schatulle aufbewahrt haben? Wenn Elsa den Buchdieb fände, würde sie endlich Klarheit haben.
Gedankenverloren kraulte sie weiter Greifs schweißnassen Nacken, während sich die beiden anderen Wölfe erschöpft zwischen den Bäumen niederließen.
Nur noch drei … Sie musste handeln.
Elsa atmete ein paar Mal ein, zuerst zaghaft, dann immer fester. Ihre Lungen füllten sich mit frischer Waldluft, nichts Schlimmes geschah.
Ihr Vater hatte sich getäuscht.
Seltsam, wo er doch sonst alles wusste … Irgendetwas sagte Elsa, dass ihr Vater noch immer nichts von all dem erfahren sollte. Nichts vom Buchdieb und nichts vom Amulett.
Und auch nichts davon, was sie jetzt vorhatte.
Ein Plan reifte in ihr.
»Du musst mir helfen, Greif«, flüsterte sie dem großen Wolf ins Ohr. »Ein letztes Mal! Diesmal sind es nur wir zwei. Ich will nicht, dass noch ein weiterer deiner Brüder sein Leben meinetwegen verliert. Wir beide suchen den Buchdieb. Nur wir zwei!«
Greif verstand. Er kauerte sich auf seine Vorderpfoten und senkte den Kopf, sodass Elsa aufsteigen konnte. Schließlich saß sie auf dem Wolf wie auf einem großen Pony. Der Wolf erhob sich, und Elsa krallte ihre Finger in sein weißes Fell.
»Wir suchen ihn«, sagte Elsa. »Und wenn ich mit ihm gesprochen habe, gehört er dir. Versprochen!«
Rache für meine Brüder!, grollte es in Elsas Kopf. Rache für Lupus, Fang und Blitz!
Dann setzten sie sich in Bewegung, zuerst langsam schaukelnd, dann immer schneller, während die anderen beiden Wölfe leise jaulend zurückblieben. Greif begann zu traben. Zweige streiften Elsas Gesicht wie sanfte Finger, tief atmete sie die Luft des Waldes ein. Dabei stellte sie sich vor, sie könnte Witterung aufnehmen, so wie Greif es eben tat.
Das Mädchen und der weiße Wolf preschten durch das Unterholz, zielstrebig ihrer Beute entgegen.