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I n der ersten Stunde war Lukas einfach weiter in den Wald hineingelaufen, vorbei an toten verkrüppelten Bäumen und moosigen Felsen, hinunter ins Tal, egal wohin. Er wollte weg, nur weg! Tränen der Wut und der Verzweiflung rannen ihm übers Gesicht, doch er spürte nichts.

Falk und seine Harzschützen wollten das Buch und dessen Zauberkräfte, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Dafür brauchten sie Lukas. Er kam sich vor wie ein Ding, nicht wie ein Mensch, wie … wie eine Waffe. Dass Gwendolyn Lorenz von dem Grimorium erzählt hatte, machte ihn fassungslos, auch Paulus schien nicht mehr ganz von Lukas’ Handeln überzeugt zu sein. Konnten sie denn alle nicht verstehen, dass dieses Buch böse war? Mit Bösem war noch nie Gutes erzeugt worden!

Mehrmals war Lukas kurz davor gewesen, das Grimorium einfach in eine tiefe Schlucht zu werfen. Aber er konnte es nicht. Das Buch verfügte über große Macht. Seine Hand zitterte, wenn sie auch nur in die Nähe des Wamses kam.

Erst als er unten in der Talsenke anlangte, kam er ein wenig zur Ruhe. Er dachte nach. Es war von Anfang an ein Fehler gewesen, seine Freunde auf diese Reise mitzunehmen. Er hätte allein gehen sollen! Nun, jetzt war er allein. Wenn er sich nach Süden wandte, sollte er irgendwann einmal auf der anderen Seite des Harzes herauskommen. Wie lange mochte das dauern? Lukas wusste es nicht, aber auf Merlins Karte schien die Entfernung nicht so groß gewesen zu sein. In der Goldenen Aue konnte er betteln, oder vielleicht etwas zu essen stehlen. Bis dahin würde er sich von dem ernähren, was der Wald hergab: Beeren, Pilze, Bucheckern, essbare Wurzeln … Vielleicht gelang es ihm ja sogar, einen Fisch zu fangen. Er war geschickt und hatte das früher schon ein paar Mal mit bloßen Händen in den Bächen seiner Heimat geschafft. Außerdem besaß er noch seinen Degen und ein kleines Messer. Es hätte schlimmer sein können.

Lukas sah hinauf zur Sonne, die Richtung Westen wanderte. Es war bereits später Nachmittag. Er wollte heute noch so weit wie möglich marschieren und dabei die großen Wege meiden. Sicherlich würden ihm Falk und seine Leute folgen, auch die Freunde würden wohl nach ihm suchen, aber das hier musste er allein durchstehen.

Ein wenig fühlte Lukas sich wie vor zwei Jahren, als er Vater und Mutter verloren hatte und allein von Heidelberg in die Welt gezogen war. Doch damals hatte er Freunde gefunden, diesmal war er ganz auf sich gestellt.

Während er weiter voranschritt, dachte er an seine Mutter. Früher war sie ihm gelegentlich im Traum erschienen, doch das war schon lange her. Mit Schrecken bemerkte Lukas, dass er sich gar nicht mehr richtig an ihr Gesicht erinnern konnte. Das Amulett aus der Schatulle hatte ihm stets als Erinnerung gedient, doch jetzt war es verschwunden. Nur das verfluchte Buch war ihm noch geblieben!

Die Abenddämmerung kam, und es wurde merklich kühler. Lukas fröstelte. Er hatte bei seiner überstürzten Flucht nur einen dünnen Mantel getragen, der kaum Wärme spendete. Erst jetzt merkte er, wie viel Schnee noch zwischen den dunklen Tannen lag.

Wie es ihm Giovanni gezeigt hatte, orientierte er sich am Moos an den Bäumen. Doch irgendwann war es so dunkel, dass er auch das Moos nicht mehr sah. Er würde sich ein Nachtlager bereiten müssen, allerdings ohne Feuer. Er hatte kein Zunderkästchen dabei und auch keine Radschlosspistole, mit der er Funken hätte schlagen können.

Er suchte eine Weile, bis er einige Felsen fand, die in einem Ring standen, fast wie die Überreste eines alten Wachturms. Sie sahen ein wenig unheimlich aus, doch wenigstens würden sie ihm Schutz gegen den Wind bieten.

In einem Tannendickicht sammelte er trockenes Reisig, aus dem er sich ein Lager baute. Auch fand er ein paar Wurzeln und Pilze, von denen er glaubte, dass man sie essen könnte. Es war ein armseliges Mahl, aber er hatte ohnehin keinen rechten Appetit. Als die Sonne schließlich ganz untergegangen war, hüllte er sich in seinen Mantel und versuchte zu schlafen.

So ganz allein merkte er erst, wie laut es in einem Wald des Nachts war. Ständig knackste irgendwo ein Zweig, Tiere huschten durch das Unterholz, Eulen klagten ihr unheimliches Lied, irgendwo weit entfernt heulte ein Wolf. Außerdem stach ihn das Reisig in den Rücken, sodass er nicht zur Ruhe kam.

Plötzlich kam ihm sein Plan nur noch lächerlich vor. Er wollte allein zum Kyffhäuser aufbrechen, um es dort mit einem mächtigen Schwarzzauberer aufzunehmen? Da konnte er sich gleich hier irgendwo in eine Schlucht stürzen. Paulus’ gestrige Worte kamen ihm in den Sinn.

Wenn mir der liebe Herrgott die Fähigkeit gegeben hätte, so Dinge anzustellen wie du, dann würde ich ihm nicht ins Gesicht spucken

Sollte er das Grimorium also doch selbst einsetzen? Alles, was Lukas wollte, war, seine Schwester zurückzubekommen. Elsa war die Einzige, die ihm von seiner Familie geblieben war. Wie es ihr wohl gerade erging? Voller Hass hatte sie ihn damals verlassen, vielleicht hatte sich das ja geändert und sie war nun auf seiner Seite?

Mit diesem hoffnungsvollen Gedanken schlief Lukas schließlich doch ein.

Er wachte auf, weil er ein Flüstern und Zischen hörte. Gleichzeitig spürte er das Grimorium unter seinem Wams.

Es war brennend heiß.

Als er die Augen öffnete, sah er zwischen den Felsen kleine graue Wesen herumhuschen. Sie waren nicht viel größer als sein Unterarm und trugen Bärte, spitze Mützen und lederne Schürzen.

Zwerge! , dachte Lukas. Ich muss träumen …

Er schloss die Augen, öffnete sie wieder, doch die Zwerge blieben. Nein, das war kein Traum. Die Zwerge tanzten um den Steinring herum, wobei sie sich an den Händen fassten. Dazu ertönte ein feiner Gesang.

Wer im Kreis die Nacht verbracht,

der wird von uns weggebracht,

runter geht’s tief in den Schacht.

Nickel sind’s, die das vollbracht!

Dann begann der Gesang wieder von vorne, ein endloses monotones Lied. Lukas wollte sich erheben, doch etwas zog wie Blei an ihm. Er konnte sich nicht rühren. Wieder sangen die kleinen Männchen.

Nickel sind’s, die das vollbracht!

Nickel sind’s, die das vollbracht!

Plötzlich begann der Boden unter Lukas zu erzittern. Es grollte und rumorte. Er hatte das Gefühl, als würde die Erde ihr Maul öffnen und ihn verschlucken.

Runter geht’s tief in den Schacht , kicherten die Männchen.

Nickel sind’s, die das vollbracht …

»He!«, brachte Lukas mühsam hervor, während er weiter in die Erde einsank. »Was … in aller Welt …« Etwas zog an ihm, zerrte an seinen Kleidern. Es schien, als wäre der modrige Waldboden plötzlich ein See, in dem er langsam versank. Tief unter ihm ertönte ein metallisches Hämmern.

Unter größter Anstrengung erhob er sich, die Männchen unterbrachen ihren Gesang und schrien erbost auf. Lukas taumelte auf den Felsenring zu und trat zwischen den Steinen hindurch. Im gleichen Moment wurde das Zetern und Schreien leiser. Lukas schaffte es noch, ein paar Schritte geradeaus zu laufen, bevor er wieder zusammenbrach. Doch es war ruhig um ihn, die Männchen waren verschwunden, die Erde unter ihm fester Grund. Als er am nächsten frühen Morgen zitternd vor Kälte erwachte, lag auf den Felsen eine dünne Schicht Schnee. Es schneite nasse einzelne Flocken. Von den Zwergen war nichts mehr zu sehen. Lukas kannte auch aus dem Odenwald Geschichten von bösen Kobolden, die einem Streiche spielten. War es möglich, dass auch diese kleinen Sagengestalten im Harz nun lebendig wurden, durch Schönborns magische Kräfte?

Er erinnerte sich jetzt, dass das Grimorium ihn wieder einmal gewarnt hatte. Wie beim ersten Angriff der Wölfe an der Teufelsmauer war es heiß geworden, als die Zwerge ihn in ihr Reich hatten hinabziehen wollen. Nur deshalb war er aufgewacht.

Das Buch hatte ihm das Leben gerettet.

Doch Lukas ahnte, dass dies nicht aus reiner Nächstenliebe geschehen war. Das Grimorium brauchte ihn. So wie die Mistel sich von dem Baum ernährte, auf dem sie wuchs, wie der Kuckuck sein Ei in fremde Nester legte und von anderen Vögeln ausbrüten ließ; so war das Buch auf ihn, den Auserwählten, angewiesen.

Beide waren sie auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet.

Mit diesem Gedanken stand Lukas auf und stapfte müde durch den Schnee.

Der Schneefall wurde in den nächsten Stunden immer heftiger. Die wenigen verbliebenen Beeren und Pilze, die Lukas noch in seiner Tasche hatte, waren bald aufgezehrt. Doch schlimmer als der Hunger war die Kälte, die an seinen Gliedern nagte. Noch nie zuvor in seinem Leben war ihm so kalt gewesen! Es war, als würde hier im Harz noch tiefster Winter herrschen, dabei ging es schon auf den Mai zu.

Lukas fand einen Wildwechsel, der ungefähr in seine Richtung wies. Doch anders als erhofft stieg der Pfad immer weiter in die Höhe. Es ging unterhalb einer Felswand entlang, rechts gähnte ein nebliger Abgrund. Das Schneetreiben wurde jetzt stärker und stärker, ein paar Mal trat Lukas mit dem Fuß ins Leere und konnte sich eben noch an einem Felsvorsprung festhalten. Um ihn herum war alles weiß, die Flocken stoben ihm ins Gesicht, sodass er immer wieder blinzeln musste. So tappte er langsam voran.

Wenigstens führte der Pfad irgendwann wieder hinunter in ein Tal. Lukas bekam den Eindruck, dass der Harz aus hunderten Bergen und Tälern bestand, die sich endlos aneinanderreihten. Wie sollte er es so jemals auf die andere Seite in die Goldene Aue schaffen, geschweige denn auf den Kyffhäuser?

Er spürte, dass er ein Fieber ausbrütete, denn er schwitzte stark, trotz der Kälte. Das Gehen fiel ihm immer schwerer. In den Senken war der Schnee nun manchmal so hoch, dass er nur noch mühsam vorankam. Immer wieder brach er ein und verkeilte sich mit den Stiefeln in irgendwelchen Zweigen unter der vereisten Schneedecke. Irgendwann erreichte er eine Lichtung, die von Buchen umstanden war, und er beschloss, sich dort ein wenig auszuruhen. Nur eine kurze Zeit, bevor er sich wieder auf den Weg machen würde. Vielleicht fand er ja später eine Höhle, in der er vor dem Schneetreiben Schutz suchen konnte. Erschöpft und fast erfroren lehnte sich Lukas an eine der Buchen, der Kopf kippte ihm nach vorne.

Du darfst nicht einschlafen! , dachte er. Wenn du einschläfst, ist das dein Tod!

Er kannte Geschichten von Wanderern im Odenwald, die bei einem solchen Wetterwechsel nur kurz hatten rasten wollen. Man fand sie später tot im Schnee, die Augen geschlossen, als würden sie schlafen.

Seltsamerweise blieb das Grimorium ganz ruhig. Es wurde nicht warm, nichts pochte, keine böse Stimme rief nach ihm. Stattdessen kam es Lukas vor, als ob das Grimorium auf irgendetwas wartete.

Er wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war. Vermutlich war er doch eingenickt, denn als er den Kopf hob, war es dämmrig. Ob es bereits Abend war oder der Schnee die Sonne aussperrte, vermochte er nicht zu sagen. Die Gegend war in ein eintöniges dunkles Grau getaucht, Schneeflocken trieben um die kahlen Buchen, der Wind heulte. Lukas fand das alles sehr friedlich.

Nur noch kurz ausruhen, dann geht es weiter …

Als ihm gerade wieder die Augen zufielen, ertönte von den Buchen her ein böses Knurren.

Sofort war Lukas hellwach. Er blinzelte und versuchte, im Schneetreiben mehr zu erkennen.

Da! Zwischen den Bäumen glühten zwei rote Augen.

Jetzt sah er den Wolf … Er war riesig und weiß, die größte jener Bestien, die ihm schon zweimal begegnet waren. Offenbar war er Lukas’ Fährte gefolgt.

Trotz der schrecklichen Kälte, dem Fieber und seiner Erschöpfung sprang Lukas auf, seine Hand ging zum Degen. Doch die Finger waren so klamm und eingefroren, dass er das Heft nicht umklammern konnte. Der Wolf war etwa zehn Schritt von ihm entfernt. Er stand unter einer der Buchen, fletschte die Zähne und knurrte. Lukas wusste, dass er in seinem jetzigen Zustand niemals gegen ihn bestehen konnte.

Und dann sah er etwas anderes.

Auf dem Rücken des weißen Wolfs saß jemand.

Was in aller Welt …?

Lukas kniff die Augen zusammen, um im Schneetreiben mehr zu erkennen. Es war eindeutig ein Mensch, der den Wolf ritt. Er war nicht sehr groß, eigentlich … noch ein Kind.

»Elsa!«, schrie Lukas in Schnee und Sturm hinein.