T atsächlich, dort auf dem Wolf saß Elsa, es gab keinen Zweifel!
Lukas hatte sie seit über einem halben Jahr nicht mehr gesehen, sie war ein wenig gewachsen, außerdem trug sie einen schwarzen Umhang mit Kapuze, fast wie ein Mönch. Sie war sehr blass, fast durchscheinend, als hätte sie die Sonne lange gemieden. Aber ansonsten war sie die Gleiche geblieben. Seine kleine Schwester.
Er hatte sie endlich gefunden!
Lukas winkte aufgeregt und näherte sich dem seltsamen Gespann. Schließlich war es Elsa, die auf dem Wolf ritt, und auch nach allem, was zwischen ihnen gewesen war, würde sie sicher nicht zulassen, dass der Wolf ihm etwas antat. Doch etwas war merkwürdig: Elsa musterte ihn von oben herab mit einer Mischung aus Neugier, Teilnahmslosigkeit und grenzenlosem Hass, sie schien ihn nicht zu erkennen.
»Elsa«, sagte Lukas zögerlich. »Ich bin es. Lukas, dein Bruder …«
»Lukas?«, murmelte Elsa. »Lukas …« Sie hielt inne, fast so, als würde ihr jemand etwas mitteilen. Ihre Augen sprühten plötzlich vor Zorn. »Du bist der Wolfsmörder!«
Beim letzten Wort stellte sich der weiße Wolf auf die Hinterpfoten und fletschte die Zähne. Geifer tropfte in den Schnee, es zischte und rauchte. Lukas wich entsetzt zurück.
»Elsa, Elsa! Erkennst du deinen eigenen Bruder nicht mehr?«
Es musste irgendein böser Zauber sein. Waldemar von Schönborn hatte schon einmal dafür gesorgt, dass Elsa sich nicht mehr an Lukas erinnern konnte. Offenbar hatte er das Gleiche wieder getan.
Der Wolf sprang in einem einzigen großen Satz auf ihn zu. Lukas fiel der Degen aus der eiskalten erstarrten Hand. Schon schnappte die Bestie nach ihm, als Elsa sie im letzten Moment zurückrief.
»Warte, Greif! Ich muss zunächst noch etwas von ihm wissen. Dann kannst du ihn haben.«
Der Wolf knurrte böse, doch er blieb stehen. Elsa zog nun eine Kette unter ihrem Umhang hervor. Daran hing das Amulett, das Lukas erst vor wenigen Tagen verloren hatte. Sie klappte es auf und zeigte ihm das Bild.
»Wer ist diese Frau? Du kennst sie, nicht wahr? Ich muss wissen, wer das ist! Sag es mir!«
»Das … ist unsere Mutter«, sagte Lukas leise. »Hast du denn auch unsere Mutter vergessen?«
»Mutter?« Elsas Gesicht spiegelte heillose Verwirrung. »Welche Mutter? Ich habe einen Vater, ja, aber eine Mutter …?«
»Elsa, hör zu«, unterbrach sie Lukas. »Es ist Waldemar von Schönborn, der dich verhext hat. Deshalb kannst du dich an nichts mehr erinnern. Ja, er ist dein Vater. Aber deine Mutter …«
»Was redest du da, Wolfsmörder?«, schrie Elsa plötzlich. »ICH HABE KEINE MUTTER!«
Wieder stieg der Wolf in die Höhe, und diesmal ließ Elsa ihn gewähren. Die Kiefer schnappten zu, doch gerade, als sie sich um Lukas’ Kopf schließen wollten, zuckte aus seinem Wams eine bläuliche Flamme. Wie ein Blitz fuhr sie der weißen Bestie in den Rachen. Der Wolf jaulte auf und zuckte zurück. Durch die plötzliche Bewegung wurde Elsa in den Schnee geworfen. Schnell rappelte sie sich auf und funkelte Lukas hasserfüllt an.
»Das Buch! Das war das Buch, nicht wahr? Gib es mir! Es gehört mir!«
»Daran kannst du dich also erinnern«, sagte Lukas, der ebenso ein paar Schritte zurückgewichen war. »An das Grimorium …«
Der Wolf lauerte im Hintergrund mit heraushängender Zunge. Offenbar hatte ihn die Flamme nicht allzu schwer verletzt, doch er war jetzt vorsichtig.
»Das Buch gehörte unserer Mutter, Elsa!«, fuhr Lukas fort. »Schönborn wollte es haben, doch wir konnten ihm in Heidelberg mit dem Grimorium entkommen. Erinnere dich!«
»Lüge!«, schrie Elsa. »Alles Lüge!« Sie hob die Hand und machte eine Geste. »IGNIS, SALFACTOR, NUNC!«
Ein roter Blitz schoss aus ihrer Handfläche und sauste auf Lukas zu. Doch an seinem Wams verpuffte er, als trüge er einen Panzer. Er hatte nur eine leichte Wärme gespürt. Elsa heulte enttäuscht auf.
»Es ist das Buch! Es beschützt dich! Warum beschützt es dich? Du hast es gestohlen!«
»Ich habe es nicht gestohlen, Elsa«, versuchte es Lukas erneut. Er wich weiter zurück. »Es ist freiwillig zu mir gekommen, damals in Prag. Erinnere dich!«
Wieder schoss ein roter Blitz aus Elsas Hand und wieder verpuffte er an Lukas’ Wams. Das Grimorium pochte jetzt immer wärmer.
Weitere Blitze zuckten, rote, gelbe, grüne … Lukas stand in einem tobenden Lichtgewitter, doch keiner der Blitze fügte ihm Schaden zu.
Nutze mich! , flüsterte ihm das Buch zu. Du kannst sie töten, es ist ganz einfach …
»Niemals!«, schrie Lukas.
Von hinten näherte sich plötzlich der Wolf. Während die Blitze zuckten, setzte er zu einem weiteren Sprung an. In diesem Moment übernahm das Grimorium für Lukas die Kontrolle. Es war wie kürzlich im Bergwerk, seine Lippen bewegten sich einfach, ohne dass er Einfluss darauf hatte.
»AERIS, PALANTIO NON VISIBILIS! NUNC!«
Nichts geschah. Der Wolf verharrte, seine Augen funkelten. Er wandte den Kopf hin und her, als würde er etwas suchen. Auch Elsa hielt in ihrem Zauber inne und blickte sich um.
»Wo bist du, Wolfsmörder!«, schrie sie. »Zeig dich!«
Sie ging auf Lukas zu …
Und an ihm vorbei.
Ich bin unsichtbar! , dachte er. Das Buch hat mich unsichtbar gemacht!
Die Nüstern des Wolfs bebten, er nahm Witterung auf. Dann näherte er sich mit leisen Pfoten.
O Gott, er kann mich nicht sehen, aber riechen!, fuhr es Lukas durch den Kopf.
Nicht mehr lange, und der Wolf würde ihn gefunden haben.
Voller Entsetzen floh Lukas in den Buchenwald hinein, während hinter ihm noch lange die schrillen Rufe seiner Schwester zu hören waren.
»Wo bist du, Wolfsmörder! Buchdieb! Komm heraus, du Feigling! Zeig dich, zeig dich!«
Irgendwann war Stille. Lukas wusste nicht, wie lange er gelaufen war. Ob ihn der große weiße Wolf immer noch verfolgte? Ihm war alles gleich. Er fiel in den Schnee und blieb liegen.
Diesmal stand er nicht wieder auf.
Schneeflocken fielen auf Lukas herab wie Daunenfedern. Seltsamerweise waren sie auch warm wie ein Federbett. Ihm war nun gar nicht mehr kalt, doch er war sehr, sehr müde. Er wollte einfach nur noch schlafen, der Schnee deckte ihn zu, alles war so still und friedlich. Auch war ihm alles egal. Ob er das Zauberbuch besaß oder nicht, ob Elsa zu ihm zurückkam oder bei ihrem Vater blieb, ob Gwendolyn etwas für ihn empfand oder ihn hasste – das alles spielte jetzt keine Rolle mehr. Tief in seinem Innersten wusste Lukas, dass er gleich sterben würde. Aber auch das war ihm egal.
Der Tod ist nichts Schlimmes, dachte er, er hat keinen Stachel …
Da ertönten plötzlich wieder die winzigen Stimmchen, wie in der letzten Nacht.
Runter geht’s tief in den Schacht …
Nickel sind’s, die das vollbracht …
Lukas lauschte. Konnte das sein? Jetzt kicherte etwas, genau neben seinem Ohr. Stöhnend wälzte er sich hin und her. Alles konnte er ertragen, aber diese nagenden Stimmen waren ihm ein Graus. Selbst, wenn man im Sterben lag, ließen einen diese Nervensägen nicht in Ruhe!
»Wer oder was auch immer ihr seid«, murmelte er. »Lasst … mich …«
Wieder zogen und zerrten sie an ihm, doch diesmal konnte er sich nicht wehren. Sollten sie doch machen! Auch das würde schon bald ein Ende haben.
Nickel sind’s, die das vollbracht.
Nickel sind’s, die das …
»Fort mit euch, Nickel! Lasst den armen Jungen in Ruhe!«
Die Stimme, die da plötzlich sprach, war anders. Lauter, menschlich, weiblich …
Die Zwerge zischten böse, doch das Zerren wurde weniger.
Unser Fang … unsere Beute … runter geht es in den Schacht!
»Nichts da, böse Nickel! Hier habt ihr keine Macht, das ist nicht euer Steinkreis! Lasst von ihm ab, sofort!«
Wieder zischten die Zwerge. Lukas verfolgte den Streit, als würde er irgendwo weit entfernt auf einer Wolke sitzen. Außerdem sah er nichts. Schnee hatte ihm die Augen verklebt, die Wimpern und Brauen waren eingefroren.
»Böse Nickel!«, schimpfte die Frau erneut. »Nie dürft ihr den Steinkreis verlassen, das ist das ewige Gesetz!«
Aber er ist uns entwischt, o, er ist uns entwischt!
»Das ist euer Fehler, nicht seiner. Zur Strafe bringt ihr ihn auf der Stelle zu mir in meine Hütte!«
Die Zwerge jammerten und klagten, doch am Ende setzte sich die Frau durch. Lukas spürte, wie er von vielen Dutzend winziger Hände in die Höhe gehoben wurde. So trugen ihn die Zwerge durch den Schnee, wie einen Riesen.
Noch immer war er sehr schwach, das Fieber tobte in ihm, sodass ihm der folgende Marsch wie ein Traum vorkam. Die Zwerge schleppten ihn durch den Harz, wobei sie nach einer Weile sogar ein fröhliches Lied anstimmten, ganz so, als hätten sie Lukas nicht eben noch in ihr Erdreich hinabziehen wollen.
Nickel wandern durch den Wald,
mit der Hacke, niemals kalt …
Nickel graben nach dem Erz,
schürfen tief im Felsenherz …
Die leisen singenden Stimmen ließen Lukas erneut einschlafen. Als er das nächste Mal erwachte, war ihm ganz warm, fast heiß. Er lag unter einem Berg Felle, ein Feuer prasselte nicht weit entfernt. Lukas stöhnte. Dies war nicht das Erdreich der Nickel, aber es war auch nicht der Himmel oder die Hölle ... Wo war er?
Er schwitzte stark, das musste das Fieber sein. Unter den Fellen war es heiß wie in einem Backofen. Er öffnete seinen trockenen Mund, um etwas zu sagen.
»Psst!«, zischte die Frau neben ihm. »Nicht reden, du musst schwitzen und schlafen, wenn du wieder gesund werden willst. Schwitzen und schlafen, das ist alles, was hilft. Das sagt dir Mama Toda, o ja!«
Jetzt sah er zum ersten Mal ihr Gesicht. Es tauchte über ihm auf, uralt, eine fleckige Haut voller Runzeln und Falten, mit schwarzen freundlichen Augen, eingerahmt von einem roten Kopftuch.
»Mama Toda macht dich wieder gesund, o ja!«, brabbelte die Alte. Sie strich ihm mit einem aromatisch riechenden Stück Stoff über die fiebernasse Stirn. »Und jetzt schlaf, mein Junge. Baldai …«
War es ein Zauberwort oder nur ein Wort in fremder Sprache, das sie eben geflüstert hatte? Jedenfalls fielen Lukas sofort die Augen zu.
Er schlief so tief und fest wie noch nie zuvor in seinem Leben.