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L ukas wurde nur sehr langsam wieder gesund, das Fieber hatte ihn weiter fest im Griff.

Die nächsten Tage und Nächte waren für ihn nicht unterscheidbar, eine monotone Abfolge von wirren Träumen und kurzen Phasen des Wachens, in denen ihm Mama Toda heiße Brühe in den Mund träufelte, den Schweiß von der Stirn wischte oder ihm einfach gut zusprach.

Wer die alte Frau war, wusste er noch immer nicht. Er kannte nur ihren Namen. Sie kam ihm alt und gleichzeitig jung vor, ein wenig wie Merlin. Doch während Merlin ein uralter Zauberer im Körper eines Knaben war – hier war es eher andersherum: Im Körper der Alten schien ein stets fröhliches, sorgenfreies Kind zu leben. Mama Todas Hautfarbe war dunkel, so, als käme sie aus einem fernen Land. Auch wenn sie sprach, klang es anders, weicher, durchsetzt mit fremdartigen Wörtern. Lukas grübelte. Das hier war doch noch immer der Harz, oder war er schon wieder in eine andere Gegend der Welt gehext worden?

In seinen fiebernassen Träumen stürzte er jedes Mal in tiefstes Chaos. Er sah seine Eltern, die inmitten der brennenden Burg Lohenstein standen, einen lachenden Waldemar von Schönborn im roten Kardinalsgewand, seine Schwester Elsa, die statt Augen Hornknöpfe im Gesicht trug und ihn damit böse anglotzte.

Ich habe keine Mutter! , kreischte sie und zeigte mit dem Finger auf Lukas. Und auch keinen Bruder, du bist nicht echt! Du bist der Wolfsmörder!

Einmal sah er auch Mutter Toda im Traum. Sie stand neben seinem Bett und sprach mit jemanden, den Lukas aber seltsamerweise nicht sehen konnte.

»Ihr werdet ihn gesundpflegen?«, fragte der Unbekannte.

»Ich tue mein Bestes«, antwortete Mutter Toda. »Der Junge ist stark, sehr stark! Aber er stand schon mit mehr als einem Bein im Grab. Ist schovel, o ja!«

»Ich verlasse mich auf Euch«, sagte die andere Person, deren Stimme Lukas irgendwie vertraut vorkam. »Ich muss nun wieder fort, viel ist zu tun. Das Böse ist so stark wie nie!«

Doch auch dieser Traum verblasste, sodass Lukas sich später kaum noch an ihn erinnern konnte.

Mit der Zeit wurde er kräftiger, sein Schlaf erfrischender und traumloser. Er vermochte noch immer nicht aufzustehen und musste gefüttert werden, aber er konnte sich von seinem Bett aus umsehen.

Der Raum, in dem er lag, war kein eigentlicher Raum, mehr eine Art Zelt, das aus krummen Ästen errichtet war, über die jemand Felle und Lederhäute gehängt hatte. Von außen drangen von Zeit zu Zeit die Geräusche von Menschen herein, die sangen, lachten, arbeiteten, es roch nach Pferdemist und gekochtem Essen …

In dem Zelt war es gemütlich warm, zumal Lukas unter einem Berg von Pelzen lag. Oben zwischen den Ästen war ein Loch freigelassen worden, sodass der Rauch des Feuers abziehen konnte. Von der Decke hingen viele seltsame Dinge: Knöchelchen, die im Windzug leise klingelten wie ein Glockenspiel; bunte Vogelfedern, eine Puppe aus Stoff, in der Nadeln steckten; kleine Steine mit einem Loch in der Mitte, sogar ein Totenkopf, der Lukas angrinste.

Trotz all dieser unheimlichen Schätze hatte er keine Angst. Er spürte, dass er in diesem Zelt geschützt war. Auch geschützt vor Elsa und dem riesigen weißen Wolf, die ihn vermutlich beide suchten.

Der Gedanke an seine Schwester versetzte Lukas einen heftigen Stich. Sie hatte ihn nicht erkannt! An nichts konnte sie sich erinnern, nicht mal an ihre Mutter. Doch offenbar war sie irgendwie an das Amulett gekommen, und das hatte etwas in ihr ausgelöst. Sie hatte ihn nach der Frau auf dem Portrait gefragt! Lukas hielt das für ein gutes Zeichen. Vielleicht kam die Erinnerung ja doch langsam zu Elsa zurück. Sie hatte ihn einen Wolfsmörder genannt, offenbar waren diese weißen Bestien ihre neuen Freunde. Wenn das Grimorium ihn nicht beschützt hätte, wäre er von dem Wolf und ihr getötet worden. Von seiner eigenen Schwester …

Das Grimorium!

Lukas erschrak. Er hatte es während seiner Krankheit ganz vergessen. Seine Hand ging zum Wams …

Wo in aller Welt …?

Das Zauberbuch war nicht mehr da, es war gestohlen worden! Nackte Angst überfiel Lukas. Hastig rappelte er sich auf, dabei fielen einige der Felle zu Boden, sein Nachttopf kippte um. Es gab ein schepperndes Geräusch.

Die Felle am Ausgang des Zeltes wurden zur Seite geschoben, und Mama Toda trat ein. Wie so oft war sie ganz in seiner Nähe gewesen.

»Was tust du nur, Junge?«, fragte sie sorgenvoll und räumte um ihn herum auf. »Was für a Stuss! Du musst im Bett liegenbleiben und …« Dann sah sie sein Gesicht und nickte. »Ah, du suchst das Buch, nicht wahr?«

»Ihr … Ihr wisst davon?«, rief Lukas überrascht.

»Natürlich!« Die Alte grinste mit ihrem fast zahnlosen Gebiss. »Mama Toda musste dich ja ausziehen und waschen, wie ein Neugeborenes. Da hab ich das Buch gefunden. Ich kenne auch seinen Inhalt, weiß von all den Zaubern darin.«

Lukas wurde jetzt immer verwirrter. »Ihr … kennt das Grimorium Nocturnum?«

»O, Mama Toda kennt viele Dinge, die anderen verborgen bleiben! Uralt ist das Grimorium und voller dunkler Rätsel.« Sie winkte ab. »Doch das Buch kümmert mich nicht. Und dich sollte es auch nicht kümmern, mein Junge. Solltest es verbrennen, es ist böse.«

»Das würde ich gerne, doch ich kann nicht«, murmelte Lukas. »Es … es ist zu stark für mich. Und es hat mir auch schon ein paar Mal das Leben gerettet.«

»Stuss! Du bist selber stark, gerade deshalb hat das Buch ja dich ausgesucht.« Sie kicherte und deutete mit ihren gichtigen Fingern auf ihn. »Dich und keinen anderen!«

»Das wisst Ihr also auch …« Lukas fiel stöhnend in sein Bett zurück. Möglicherweise hatte er in den letzten Tagen im Fieber geredet.

Sie beugte sich zu ihm hinunter und strich ihm liebevoll über die Stirn. »Hab’s dir doch schon gesagt, Mama Toda weiß alles! Ich habe die Knochen befragt, ich weiß von deiner Schwester und auch von dem bösen Mann oben auf dem Kyffhäuser. Und ja, auch vom Grimorium. Glaub mir, Lukas, es braucht dich mehr als du es brauchst. Du bist stark, auch ohne Buch.«

»Wo ist es?«, wollte Lukas abrupt wissen. Bis gerade eben hatte er sich die Frage noch verkneifen können. Es war auch eine Art Probe für ihn gewesen, wie sehr er schon abhängig vom Grimorium war. Doch jetzt konnte er sein Verlangen nicht mehr länger zurückhalten.

»Es liegt da, auf der Kiste neben dem Feuer.« Mutter Toda wies gelangweilt in die Richtung. Tatsächlich, dort auf einer alten morschen Kiste, neben einem Steinmörser und einer dösenden Katze lag das Zauberbuch!

Lukas war überaus erleichtert.

»Ihr … Ihr hättet es entwenden können«, wandte er ein. »Oder ins Feuer werfen …«

Mama Toda lachte leise und rau. »O nein, mein Junge, ich kann es nicht zerstören! Wenn überhaupt, dann kannst das nur du. Es gehört jetzt dir, nach deiner Mutter und deiner Schwester. Du bist jetzt der Auserwählte, du musst das Schicksal tragen, o ja!«

Sie wackelte mit ihrem hutzligen Kopf. »Und selbst wenn ich es zerstören könnte, würde ich es nicht tun. Ich habe die Knochen gerollt, o ja! Und ich sage dir, das Buch wird noch gebraucht. Seine Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt!«

Schließlich richtete sie sich wieder auf und strich ihren Rock glatt. »Und jetzt ruh dich aus, mein Junge. Wenn dir das Buch als Kopfkissen dienen soll, dann nimm es ruhig. Ist halt ein wenig hart.« Sie kicherte ein letztes Mal, dann verließ sie das Zelt.

Kurz war Lukas versucht, aufzustehen und sich das Buch wieder zu nehmen, es tatsächlich unter sein Kissen zu stecken, damit es ihm nur ja keiner stehlen konnte. Doch dann kam er sich schrecklich dumm bei dem Gedanken vor. Er lachte über sich selbst und ließ es bleiben.

Du bist stark !, hatte Mutter Toda zu ihm gesagt.

Er konnte dem Biest widerstehen.

Das Buch blieb auf der Kiste liegen.

Am nächsten Tag war Lukas endlich kräftig genug, um zum ersten Mal das Zelt zu verlassen.

Mama Toda führte ihn ins Freie, und nun sah er endlich, wo all die vielen Gerüche und Geräusche herrührten. Er befand sich in einem Lager im Wald, ähnlich dem der Harzschützen. Es gab einige größere Feuer, an denen dunkelhäutige Männer saßen, die Frauen trugen bunte Kleider und Bänder in den Haaren. Kinder tollten lachend durch Pfützen.

Es gab keine Hecke, stattdessen standen Planwagen in einem Rund, vollgehängt mit Töpfen, Eimern und vielen weiteren Habseligkeiten, die so eine Art Schutzwall bildeten. Lukas bemerkte im Gras Wagenspuren, offenbar waren die Menschen von irgendeiner Straße hierhergekommen. Pferde grasten auf einer nahegelegenen Koppel. An den hohen Bergen erkannte Lukas, dass er wohl immer noch im Harz war. Doch der Schnee war mittlerweile weggetaut, stattdessen strahlte angenehm warm die Frühlingssonne.

»Wer sind all diese Leute?«, fragte Lukas erstaunt.

»O, das ist mein Volk!« Mama Toda lächelte. »Wir selber nennen uns Roma, doch für die Menschen hier in der Gegend sind wir Tatern.« Sie runzelte die Stirn. »So wie der Tartarus, die griechische Unterwelt. Für die Einheimischen kommen wir direkt aus der Hölle, o ja!«

»Tatern!«, rief Lukas überrascht. Von den Tatern hatte er auch schon von Falk gehört. Sie standen im Ruf, zaubern zu können. Nun, Mama Toda verfügte sicher über irgendwelche magischen Kräfte. Vermutlich war sie in ihrem Volk tatsächlich so etwas wie eine Zauberin.

Manche der Männer blickten zu ihnen hinüber, sie machten einen grimmigen übellaunigen Eindruck.

»Deine Leute scheinen mich nicht sehr zu mögen«, sagte Lukas.

Mama Toda zuckte die Achseln. »Sie haben keine guten Erfahrungen mit Fremden gemacht. Für viele von euch sind wir nur Diebe und Lumpen, fahrendes Volk, das man höchstens duldet. Du darfst ihnen das nicht übelnehmen.«

»Wissen sie … von dem Buch?«, fragte Lukas zögernd.

»O nein! Aber sie wissen wohl, dass du kein gewöhnlicher Junge bist.« Ihre Hand ruhte auf seiner Schulter. »Lange kannst du hier nicht mehr bleiben. Du hast eine wichtige Reise vor dir, Lukas.«

Lukas fragte sich schon lange nicht mehr, woher Mama Toda all dies wusste, auch seinen Namen. Stattdessen bombardierte er sie bei jeder Gelegenheit mit seinen eigenen Fragen.

»Diese kleinen Wesen, denen ich im Wald begegnet bin, waren das Zwerge?«, wollte er wissen, als sie am nächsten Morgen zusammen in ihrer Hütte saßen und aus einem großen Topf Hafermus löffelten.

»O, sie haben viele Namen«, entgegnete Mama Toda und legte ihren Holzlöffel beiseite. »Wichte, Kobolde, Venediger … Hier in der Gegend heißen sie Nickel, liebe Kerle eigentlich.«

»Liebe Kerle? Sie wollten mich hinab in ihr Reich ziehen. Ganz gemeine Burschen sind das!«

Mutter Toda lachte.

»Wer weiß, vielleicht hätten sie dir dort unten einen Batzen Gold geschenkt und dich wieder weggeschickt? Bei den Nickeln weiß man nie. Außerdem hast du in ihrem Steinkreis geschlafen, dort wohnen sie. Stell dir vor, so ein Riese legt sich einfach auf dein Dach!«

»Trotzdem, ich mag sie nicht. Sie sind unheimlich.« Lukas fröstelte trotz des Feuers. »Im Harz ist vieles unheimlich.«

»Und vieles wundersam und märchenhaft. Es ist eine verzauberte Gegend, o ja! Deshalb komme ich mit meinem Volk auch immer wieder hierher.«

»Es heißt, der Teufel habe eine Mauer um sein Reich, den Harz, gebaut«, warf Lukas ein.

»Die Teufelsmauer …« Mama Toda nickte. »Es gibt auch eine andere Geschichte über den Harz. Als das Christentum sich immer mehr ausbreitete, flohen die Letzten des alten Volkes hierher in die Berge. Dort lebten sie so, wie sie es von früher her kannten, beteten ihre eigenen Götter an, hatten ihre eigenen Bräuche. Für die Christen war das Teufelswerk.«

»Dieses alte Volk, waren das so etwas wie Druiden?«, fragte Lukas.

Der Astrologe Senno hatte ihm einmal von dem alten Volk erzählt, wo Druiden einst die Zauberei beherrschten. Sie waren vernichtet worden, die Magie hatte sich seitdem in weiße und schwarze Magie aufgeteilt. Lukas’ Mutter war eine sogenannte weiße Hexe gewesen. Waldemar von Schönborn hatte den schwarzen Weg gewählt. Vielleicht war Mama Toda selbst so eine weiße Hexe, eine der letzten Druidinnen?

»Ich sehe, mein Junge, du kennst die alten Wege.« Mama Toda starrte ins knisternde Feuer. »Der Harz ist eine mächtige Gegend, für das Schwarze, aber auch für das Weiße. Von beidem findet sich hier mehr als in anderen Teilen der Welt. Gerade jetzt, in diesen dunklen Zeiten …«

»Was meint Ihr damit?«, wollte Lukas wissen. »Warum gerade jetzt?«

»Die Nickel …«, begann Mama Toda. »Sie hätten niemals den Steinkreis verlassen dürfen. Das haben sie noch nie gemacht. Und all die anderen Fabelwesen …« Sie nickte betrübt. »O ja, es sind dunkle Zeiten, aber auch das Gute ist stark! Er wird schon dafür sorgen, dass sie uns beistehen.«

»Von wem sprecht Ihr?«, fragte Lukas. »Wer soll uns beistehen? Wer sorgt dafür?«

Doch Mama Toda schwieg und starrte nur weiter ins Feuer.

Lukas’ Appetit wuchs von Mahlzeit zu Mahlzeit. Nach einer Woche fühlte er sich jetzt fast wieder so kräftig wie vor seiner schweren Krankheit. Er wusste, der Tag würde bald kommen, an dem er sich von Mama Toda verabschieden musste. Sie hatte ihm selbst gesagt, dass seine Reise noch nicht zu Ende war.

Er musste Elsa finden und sie zu sich zurückholen, egal wie.

Doch nach ihrem letzten Treffen schien das aussichtlos. Sie hatte ihn ja nicht mal erkannt! Das war fast noch schlimmer, als gehasst zu werden. Außerdem hatte er sich mit ihren neuen Freunden, den weißen Wölfen, angelegt. Was ihn zudem verwunderte, war, dass es nicht Schönborn gewesen war, der ihn aufgespürt hatte, sondern Elsa. Einen Kampf mit dem Schwarzmagier hätte er sicher nicht überlebt. Doch Lukas’ Entschluss stand weiterhin fest: Er würde zum Kyffhäuser gehen und sich Schönborn stellen. Was danach geschah, sollte das Schicksal entscheiden.

Das Grimorium lag immer noch auf Mama Todas Kiste neben der dösenden Katze. Seltsam, während der ganzen Zeit, in der Lukas hier war, hatte es nicht zu ihm gesprochen, auch war er nicht mehr von ihm angezogen worden. Er hatte es einfach dort liegenlassen und vergessen, wie irgendein x-beliebiges Buch. Er fühlte sich … frei, zum ersten Mal seit langem. Das Buch hatte ihn nicht mehr in seiner Gewalt. Ob er auch das Mama Toda zu verdanken hatte?

Als sie mittags bei einem kräftigenden Eintopf aus Fleisch, Karotten und süßen Gewürzen wieder zusammen waren, wollte er noch etwas von ihr wissen.

»Mama Toda?« Lukas räusperte sich. »Euer Name, bedeutet er eigentlich irgendetwas? Er … er klingt so seltsam.«

Sie lächelte mit ihrem zahnlosen Gebiss. »Ich bin die Mutter von allem. Dem Wind, der Erde, den Bergen, den Bäumen, dem Harz. Das ist die Bedeutung meines Namens.«

Lukas fragte nicht weiter nach. Doch ihre Antwort gab ihm Kraft. Tatsächlich fühlte er sich bei Mama Toda geborgen wie im Schoß der Erde. Als wäre sie eine uralte Kraft, der nicht mal der Schwarzmagier Schönborn etwas anhaben konnte.