»D u konzentrierst dich zu wenig! Was ist nur los mit dir, Mädchen?«
Waldemar von Schönborns harsche Stimme riss Elsa aus ihren Grübeleien. Verträumt sah sie von dem dicken Wälzer vor ihrer Nase auf.
»Was, Vater?«
Schönborn hämmerte mit seinem Finger auf die Zeilen. »Fulmen et tonitrus ! Blitz und Donner. Doch vom Blitz getroffen werden heißt percussum fulmine , denn der Blitz ist Neutrum! Und er steht im Ablativ! Was ist nur mit dir los?«
»Ich … ich glaube, ich bin nur ein wenig müde«, erwiderte Elsa. »Das ist alles.«
Sie saßen wieder einmal zusammen in der unterirdischen Bibliothek, wo Waldemar von Schönborn Elsa seit zwei Stunden Lateinunterricht gab. Viele Zauberwörter stammten aus dieser alten Sprache, weil Mönche noch viel ältere Bücher aus anderen Sprachen einst ins Lateinische übersetzt hatten. Eigentlich waren die Zauberwörter nicht so entscheidend, wie Elsa fand. Sie waren nichts weiter als Hilfsmittel, die der Konzentration dienen sollten. Was machte es da schon, wenn man sie falsch deklinierte? Doch ihr Vater legte großen Wert auf korrektes Latein, und so saßen sie hier in regelmäßigen Abständen und büffelten Wortschatz und stinklangweilige Grammatik.
Schönborn sah Elsa von der Seite an. »Du gefällst mir nicht. Irgendetwas ist mit dir. Also raus mit der Sprache!«
Ihr Vater hatte recht. Seit Tagen war Elsa nicht richtig ansprechbar, doch sie hatte beschlossen, ihm weiterhin nicht den Grund zu nennen. Der Wolfsmörder war ihr entkommen! Mit Hilfe des Grimoriums hatte er sich unsichtbar gemacht und war geflohen. Es war ihr und Greif nicht gelungen, ihn danach wieder aufzuspüren, so als wäre er plötzlich irgendwo ganz weit entfernt. Wie war das möglich?
Was Elsa aber viel mehr verwirrte, war das, was der Wolfsmörder ihr erzählt hatte. Alle diese … Lügen. Es mussten Lügen sein! Er hatte davon gesprochen, dass sie eine gemeinsame Mutter hatten, eben die Frau auf dem Amulett. Dass dieser Frau das Grimorium einst gehört hatte; dass der Wolfsmörder ihr Bruder war und ihr Vater sie verhext habe; von Orten wie Heidelberg und Prag war die Rede gewesen …
Seitdem herrschte in Elsas Kopf ein wildes Durcheinander. Erinnerungen kamen zurück, aber immer, wenn sie danach greifen wollte, huschten sie davon, wie flüchtige Geister.
Warum hatte sie ihren Vater eigentlich nie nach ihrer Mutter gefragt? Jeder hatte eine Mutter. Vielleicht war ihre ja nach der Geburt gestorben, das kam oft vor. Aber warum sprach der Vater dann nicht davon? Warum erzählte er ihr überhaupt nichts von früher?
Während Elsa schwieg, musterte Schönborn sie weiterhin misstrauisch.
»Es … es ist wegen meiner Wölfe«, sagte sie schließlich. Sie musste ihrem Vater irgendetwas anbieten, wenigstens ein Zipfelchen der Wahrheit.
»Was ist mit ihnen?«
Elsa schniefte traurig. »Drei von ihnen sind fort. Ich habe sie überall gesucht, aber sie sind nicht mehr da.«
»Nicht mehr da?« Schönborn runzelte die Stirn. »Verflucht, sie müssen nach draußen entwischt sein! Es gibt eben doch noch Schlupflöcher. Nun siehst du, was geschieht, wenn man die Höhle verlässt. Ich habe dich immer wieder vor draußen gewarnt, stimmt das nicht?«
»Ja, das hast du, Vater«, sagte Elsa mit gesenktem Kopf.
»Nun denn …« Schönborn nickte, offenbar befriedigt, einen Grund für Elsas Zerstreutheit gefunden zu haben. Er klappte das Lateinbuch zu. »Dann wollen wir es für heute dabei belassen.« Seine Stimme wurde sanfter. »Ich weiß, dass dir die Wölfe ans Herz gewachsen sind. Und ich weiß auch, dass ich dich oft hier unten allein lasse, vermutlich zu oft. Ich dachte, dass dich die vielen Spielzeuge und Automaten erfreuen …«
»Das sind keine Spielkameraden«, erwiderte Elsa.
Ebenso wenig wie die Gefrorenen, die mit toten Augen durch die Gänge staken , dachte sie mit einem Schaudern.
»Drei Wölfe hast du ja noch«, sagte Schönborn. »Ich werde dafür sorgen, dass sie nicht mehr entwischen. Gleich morgen lasse ich sämtliche Zugänge noch einmal überprüfen. Wir werden die Schlupflöcher finden und ein für alle Mal versperren. Nichts soll herein oder hinaus gelangen!«
Elsa erschrak. Wenn ihr Vater den geheimen Zugang fand, würde es keine Möglichkeit mehr für sie geben, die Höhle zu verlassen! Sie hatte es schön gefunden, die Luft draußen zu atmen und die Frühlingssonne im Gesicht zu spüren. Außerdem hoffte sie, dass der Wolfsmörder und Buchdieb noch einmal auf sich aufmerksam machen würde. Dann könnte sie ihm weitere Fragen stellen … Seltsam, der Wunsch, ihn zu töten, war nicht mehr so stark wie am Anfang. Trotz allem, was er getan hatte. Sie hoffte vielmehr darauf, dass er ihr mehr von früher erzählte. Auch wenn es nur Lügen waren.
Es sind doch Lügen, oder?
»Ich muss jetzt wieder gehen, es gibt viel zu tun.« Ihr Vater stand auf. »Bald schon ist es soweit. Elsa! Unsere Verbündeten sammeln sich für den letzten Kampf. Ich habe die Gefrorenen nach ihnen ausgeschickt. Dabei können meine Kreaturen auch gleich ein wenig mit diesen Rebellen im Harz aufräumen. Das sorgt für zusätzliches Chaos.«
Über ihnen rumpelte und rumorte es.
»Du hörst, die Arbeit geht weiter.« Er lächelte und strich ihr über den Kopf. »Glaube mir, im letzten großen Kampf von Schwarz gegen Weiß wirst du eine ganz besondere, eine entscheidende Rolle spielen!«
Mit wehendem Kardinalsmantel verließ Waldemar von Schönborn die unterirdische Bibliothek. Erst als seine Schritte verklungen waren, zog Elsa das Amulett unter ihrem Kleid hervor und betrachtete es erneut, wie so oft in den letzten Tagen. Sie ging hinüber zu einem großen silbernen Spiegel, der zwischen den Regalen an der Wand hing, betrachtete sich darin und starrte dann wieder auf das Amulett. Ihr Blick wanderte hin und her.
Kein Zweifel, die Frau auf dem Portrait sah ihr ähnlich.
Und wenn es doch keine Lügen sind …? Wer bin ich …?
Gefangen in ihren Gedanken blieb Elsa noch lange vor dem Spiegel stehen.