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A m nächsten Morgen erwachte Lukas durch laute Rufe und Pferdewiehern. Er wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Hastig sprang er von seinem Bett auf und wollte eben zum Zeltausgang eilen, als Mama Toda das Zelt betrat.

»Es ist besser, du bleibst vorerst hier drinnen«, sagte sie.

»Was ist dort draußen los?«, wollte Lukas wissen. »Werden die Tatern angegriffen?«

»Noch nicht. Wir werden sehen.«

Etwas an Mama Todas Stimme ließ Lukas sich wieder hinsetzen. Draußen ging der Lärm weiter, auch Waffengeklirr war zu hören. Nach einer Weile betrat einer der älteren Tatern das Zelt. Er trug ein kurzes Schwert an der Seite und wirkte sehr aufgeregt. Er und Mama Toda sprachen in ihrer Sprache miteinander, wobei der Mann dabei immer wieder auf Lukas deutete. Mama Toda redete beruhigend auf ihn ein, dann wandte sie sich an Lukas.

»Dort draußen sind Leute, die dich suchen.«

Lukas fuhr hoch, seine Hand ging zum Degengurt, der hinter dem Bett lag.

»Feindliche Soldaten? Oder gar welche von Schönborns Schergen? Ich muss sofort …«

Mama Toda hob die Hand. »Es sind Freunde von dir. Das sagen sie zumindest. Die Harzschützen …«

»Die Harzschützen?« Die Antwort machte Lukas nicht eben ruhiger, im Gegenteil. Immerhin war er vor Falk und seinen Männern geflohen. »Sind auch andere dabei, jüngere? Darunter vielleicht ein rothaariges Mädchen?«

Mama Toda wandte sich erneut an den Taternmann, doch dieser schüttelte den Kopf.

»Es ist nur eine kleine Gruppe bewaffneter Männer«, sagte Mama Toda. »Aber meine Leute haben Angst, dass mehr kommen werden. Sie wollen, dass du mit ihnen gehst, bevor ein Unglück geschieht.«

»Ich will euch nicht in Gefahr bringen.« Lukas gürtete entschlossen seinen Degen. »Allerdings will ich auch nicht zurück zu den Harzschützen. Ich werde also heimlich das Lager verlassen und …«

In diesem Moment betrat ganz überraschend ein weiterer Mann das Zelt.

Es war Falk von Dinkelsbühl.

Hinter ihm erschienen nun auch der Köhler Lorenz und ein älterer erfahrener Feldwebel, sie alle waren bewaffnet. Falk lächelte breit, als er Lukas erkannte. Er breitete die Arme aus, als wären sie weiterhin gute Freunde.

»Lukas, dann hatte ich also recht!«, begann er erfreut. »Du bist hier bei den Tatern. Irgendwie wusste ich die ganze Zeit, dass du mit dem Zaubervolk unter einer Decke steckst. Aber diese Leute sind schwer zu finden. Weißt du eigentlich, wie lange wir dich gesucht haben?«

»Ich hatte euch nicht gebeten, nach mir zu suchen«, gab Lukas kühl zurück.

»Junge, das ist alles ein großes Missverständnis! Du hättest niemals wegzulaufen brauchen. Wie sind nicht deine Feinde! Außerdem sind Dinge geschehen, die, nun ja … alles verändern.« Falks Miene verfinsterte sich plötzlich. »Schreckliche Dinge! Du hattest recht, Lukas. Das Böse erobert langsam den Harz, wir müssen uns dagegen wappnen, bevor es zu spät ist! Und dafür brauchen wir deine Hilfe.«

»Was ist geschehen?«, wollte Lukas wissen.

Falk sah argwöhnisch hinüber zu Mama Toda und dem Taternmann. »Das erzähle ich dir, wenn wir wieder bei den anderen sind. Man kann heutzutage niemandem mehr trauen. Deine Freunde werden sich sicher freuen, dich …« Er stockte, als sein Blick auf etwas im Zelt fiel.

Es war das Grimorium auf der Kiste. Lukas hatte es in all der Eile ganz vergessen.

»Das ist es, nicht wahr?«, flüsterte Falk. »Das Zauberbuch!«

Auch Lorenz hatte das Buch jetzt entdeckt. »Genauso hat das rothaarige Mädchen es beschrieben!«, rief er. »Klein und unscheinbar, aber von schrecklicher Macht!«

Bevor Lukas eingreifen konnte, war Falk schon bei der Kiste und griff nach dem Buch. Wie einen heiligen Gegenstand hielt er das Grimorium in den Händen und betrachtete es andächtig.

»Damit hast du also den Berggeist gebannt und vermutlich auch die weißen Wölfe vertrieben …«

»Gebt es mir!«, rief Lukas. Er machte einen Schritt auf Falk zu, doch dieser steckte das Buch unter seinen Mantel.

»Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, dir das Buch allein zu überlassen«, sagte Falk. »Ich finde, wir sollten gemeinsam entscheiden, wie wir damit weiter verfahren. Ich will vermeiden, dass du noch einmal damit wegläufst. Ich denke, wenn wir dir gleich erzählen, was geschehen ist, wirst du verstehen, Lukas.«

Lukas’ Hand ging zum Degengriff, doch dann entschied er sich anders. Er war von dem langen Fieber noch immer geschwächt. Falk hingegen war ein geübter Kämpfer, und er hatte zwei Männer auf seiner Seite. Außerdem wollte Lukas unbedingt vermeiden, dass die Tatern in diesen Kampf mit hineingezogen wurden.

Er sah hinüber zu Mama Toda, die seltsamerweise lächelte. Ihm fiel ein, was sie ihm noch vor einigen Tagen über das Buch gesagt hatte.

Glaub mir, Lukas, es braucht dich mehr als du es brauchst. Du bist stark, auch ohne Buch …

Mama Toda hatte recht. Noch vor kurzem hätte er es nicht ausgehalten, vom Grimorium auch nur einige Stunden getrennt zu sein. Jetzt fiel ihm das schon leichter. Falk konnte mit dem Buch ohnehin nichts anfangen. Sollte er es ruhig mit sich herumtragen! Früher oder später würde es ohnehin zu Lukas, seinem Besitzer, zurückkehren. Bis dahin würde er es nicht vermissen.

Noch immer ruhte Lukas’ Hand auf dem Degengriff. Erst langsam entspannte er sich.

»Dann lasst uns gehen«, sagte er schließlich.

Die Harzschützen nickten erleichtert. Sie hatten Lukas genau beobachtet. Nun waren sie sichtlich froh, dass es zu keiner Auseinandersetzung kam.

Noch einmal drückte Lukas die kleine Mama Toda mit dem runzligen Gesicht fest an sich.

»Du bist stark, Lukas«, flüsterte sie ihm zu. »Deine Reise ist noch nicht zu Ende. Denk immer daran, die Weißen stehen auf deiner Seite. Sie werden dir helfen. Mechtate balhair

Mit einem letzten Kuss auf die Stirn entließ sie ihn.

Schweigend folgte Lukas Falk und seinen Männern durch den Wald, während hinter ihm die Geräusche aus dem Lager der Tatern nach und nach verstummten. Er war zwar nur gut eine Woche bei Mama Toda gewesen, aber noch nie seit dem Tod seiner Mutter hatte er sich so geborgen gefühlt. Sie jetzt verlassen zu müssen, schmerzte ihn sehr. Doch sie beide hatten gewusst, dass er nicht ewig bei den Tatern bleiben konnte. Er hatte eine Aufgabe.

Er musste Elsa finden.

Davon abgesehen freute Lukas sich darauf, seine Freunde wieder zu sehen, auch wenn er im Streit von ihnen geschieden war. Dass Gwendolyn ihn an Falk verraten hatte, machte ihm immer noch zu schaffen. Auch wenn er wusste, dass sie es vermutlich nicht so gemeint hatte.

Einige Stunden waren sie so im Wald unterwegs, wobei Lukas nur das Nötigste redete. Falk versuchte anfangs, ihn dazu zu bewegen, von seinem Aufenthalt bei den Tatern zu erzählen, doch Lukas blieb wortkarg. Schließlich gab der Anführer auf.

»Na, wenn du deine Freunde wiedersiehst, wirst du sicher gesprächiger«, sagte er. »Wir haben ja auch etliche Neuigkeiten für dich. Unser Versteck ist nicht weit von hier.« Er lächelte aufmunternd. »Und das Buch bewahre ich nur zu unser aller Sicherheit auf. Ich gebe es dir schon bald zurück. Keine Sorge!«

Ganz plötzlich öffnete sich der Wald zu einer Lichtung, die an einer Seite zu einer steilen Schlucht abfiel. Von zwei anderen Seiten war die Lichtung von hohen Felsen umgeben, nur der kaum sichtbare Pfad durch den dichten Wald führte hierher. Lukas nickte anerkennend. Es war ein perfektes Versteck.

Zu seinem Erstaunen bemerkte er, dass offenbar alle Harzschützen hier versammelt waren. Die Männer hatten Zelte aus Tierhäuten errichtet, es gab Lagerfeuer und ein wenig abseits auch Latrinengruben. Offenbar war das hier das neue Hauptlager.

»Aber das Lager hinter der Weißdornhecke …«, hob Lukas an.

»Mussten wir verlassen«, erklärte der Köhler Lorenz. »Wir sind angegriffen worden. Diesmal nicht von Wölfen, sondern von etwas viel Schlimmeren! Doch das wird dir Falk ohnehin gleich erzählen.«

An einem größeren Zelt hing die blutrote Fahne mit dem Falken. Lorenz ließ Lukas den Vortritt. Als er eintrat, sah er die Freunde und Gwendolyn mit einigen Feldwebeln dort zusammenstehen. Sie waren eben über eine Karte gebeugt und diskutierten miteinander. Giovanni bemerkte Lukas als Erster.

»Lukas!«, rief er erfreut aus. Der kleine Italiener lief auf ihn zu und umarmte ihn fest. Die anderen folgten, sie drückten, lachten und herzten sich. Nur Gwendolyn blieb im Hintergrund, wobei sie Lukas zumindest freundlich zunickte.

»Wie versprochen, bringe ich euch euren Freund zurück«, sagte Falk. »Ich glaube, wir konnten unser kleines Missverständnis klären. Wir stehen alle auf der gleichen Seite.«

»Himmelherrgott, wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht!«, brummte Paulus und hieb Lukas so fest auf die Schultern, dass dieser fast umfiel. »Wir haben alles abgesucht, jeden Stein umgedreht. Als Falk dann die Spuren der Tatern fand, gar nicht weit von hier …«

»Ich habe immer vermutet, dass Lukas dort untergekommen ist«, unterbrach ihn Falk. »Was er allerdings in den letzten Tagen erlebt hat, das wollte er mir nicht sagen. Er macht einen kränklichen Eindruck, finde ich. Vielleicht bringt ihr ihn ja zum Reden.«

»Was ist geschehen?«, wollte Jerome wissen,

»Ich hatte Fieber«, erwiderte Lukas. Er beschloss, in Gegenwart der Harzschützen nichts vom Kampf mit Elsa zu erzählen. »Die Tatern haben mich gefunden und gesundgepflegt. Es geht mir schon wieder besser.«

»Du bist tatsächlich ziemlich blass um die Nase«, sagte Paulus. Seine Miene verdüsterte sich. »Naja, wenn du erfährst, was seither geschehen ist, wirst du vermutlich gleich noch blasser werden.«

»Nun redet schon!«, forderte Lukas die anderen auf. »Hat es was mit Schönborn zu tun?«

»O ja, das hat es.« Giovanni seufzte tief, dann fing er an, zu erzählen.

»Als du weg warst, haben wir dich natürlich erstmal gesucht, doch wir konnten dich nirgendwo finden. Falk ist mit einem Großteil der Männer dann gegen die Schweden gezogen, wie besprochen. Wir blieben im Lager, auch um auf dich zu warten, falls du doch noch zurückkommst. Wie sich zeigte, wurden wir hier mehr gebraucht als zunächst gedacht …«

»Die Gefrorenen haben das Lager mitten in der Nacht angegriffen!«, fuhr Jerome aufgeregt fort. »Eben jene Dämonen, mit denen wir schon früher zu tun hatten. Seelenlose Krieger, die kaum zu besiegen sind! Höchstens mit Feuer, wie wir wissen, und das haben wir uns zu Nutze gemacht. Mit Fackeln, Öl und allem, was wir finden konnten.«

Lorenz nickte. »Deine Freunde haben mir und den verbliebenen Männern im Lager den Arsch gerettet! Ohne ihre Hilfe hätten wir die Teufel nie besiegt.« Er lachte rau. »Diese dämonischen Zauberkrieger brennen wirklich gut! Ein Dutzend von ihnen haben wir in die Hölle geschickt, der Rest ist wieder abgezogen. Doch sie kannten jetzt unser Lager, also mussten wir weg, eben hierher.«

»Und das ist noch nicht alles«, ergänzte Falk. »Aus allen Regionen im Harz hören wir seitdem solche Geschichten. In Thale haben einige Hexen Kinder entführt und hoch zu ihrem Tanzplatz gebracht. Ihre Eltern konnten sie eben noch retten, bevor sie dort in Kröten verwandelt wurden. Auf Burg Falkenstein haben zwei leibhaftige Riesen die Burg mit Felsen beworfen, bevor sie hohnlachend weiterzogen. In Beckenstein ritten Geisterreiter auf brennenden Pferden durch den Ort und fackelten die Hälfte der Häuser ab. Und keiner wagt sich mehr in die Bergwerke, weil dort irgendwelche Dämonen ihr Unwesen treiben.«

Lorenz, der Köhler, nickte. »Werwölfe, Moorgeister, Nebelteufel, Berggeister … All die bösen Sagengestalten des Harz werden plötzlich lebendig. Dahinter steckt sicher dieser Schwarzmagier!« Er sah Lukas ernst an. »Lukas, das Böse kommt zurück, wie du prophezeit hast. Wir müssen es aufhalten!«

Falk warf einen Blick in die Runde. »Ich konnte einen größeren Teil unserer Leute überzeugen, dass wir euch zum Kyffhäuser begleiten. Auch deshalb, weil deine Freunde ihnen gegen diese Gefrorenen geholfen haben. Wir sind etwa fünfzig Mann, die ihr Leben im Kampf gegen das Böse riskieren wollen. Dieser Magier bedroht mit seinen Fabelwesen unsere Heimat, das können wir nicht zulassen. Allerdings weiterhin nur unter einer Bedingung!« Er zog das Grimorium unter seinem Mantel hervor. »Du stehst uns mit deinen Zauberkräften bei.«

Giovanni warf Lukas einen überraschten Blick zu. »Ihr habt das Grimorium?«, wandte er sich an Falk. »Was soll das? Es gehört Lukas!«

»Solange Lukas noch mit sich hadert, hielt ich es für vernünftiger, es bei mir zu behalten«, entgegnete Falk schulterzuckend. »Ich bin der der Anführer unserer kleinen Armee, also bin ich auch verantwortlich für unsere stärkste Waffe.«

»Ihr könnt mit dem Buch doch gar nichts anfangen«, meldete sich nun auch Gwendolyn zu Wort. »Nur Lukas kann dessen magische Kräfte nutzen, er oder keiner. Schon vergessen?«

»Mag sein«, sagte Falk. »Aber das ist nun mal meine Bedingung. Wir Harzschützen kommen mit und helfen euch, Lukas’ Schwester aus den Fängen des Schwarzmagiers zu befreien. Wir stellen uns dem Bösen entgegen. Aber das Buch bleibt bei mir, bis Lukas sich endlich entscheidet, es gegen diese finsteren Horden einzusetzen!«

»Zum Teufel, wir lassen uns von euch nicht unter Druck …«, begann Paulus.

Doch Lukas hob die Hand. »Lass gut sein, Paulus. Mag Falk das Buch so lang behalten, wie er es für richtig findet. Ich nehme das Angebot an.«

»Aber …«, sagte Paulus. Auch die anderen Freunde blickten Lukas erstaunt an. Er hob warnend die Augenbrauen, und sie schwiegen.

»Ich würde mit meinen Freunden jetzt gerne allein sein«, sagte er stattdessen zu Falk. »Das werdet Ihr sicher verstehen.«

»Habt ihr etwa Geheimnisse vor uns?«, fragte Lorenz misstrauisch.

»Wir sind eben Freunde, und Freunde brauchen auch Zeit für sich«, entgegnete Lukas. »Ihr entschuldigt uns für einige Augenblicke. Und noch einmal danke für eure Hilfe! Je schneller wir von hier zum Kyffhäuser aufbrechen, desto besser.«

Unter den misstrauischen Blicken von Falk und seinen Männern verließen sie das Zelt.

Draußen suchten sie sich ein abgeschiedenes Plätzchen. Sie fanden es neben einem Bach, der über einige Felsen in Kaskaden hinunter ins Tal strömte. Das Rauschen war hier so laut, dass kein anderer sie hören konnte.

»Ich habe Elsa gesehen«, begann Lukas unvermittelt. Er erzählte von ihrer Begegnung, dem schrecklichen Kampf mit ihr und dem großen weißen Wolf und seiner Flucht mit Hilfe eines Unsichtbarkeitszaubers.

»Sie kann sich an nichts erinnern«, endete er. »Nicht an mich, nicht an unsere Mutter, an gar nichts! Es ist so ähnlich wie damals, als Schönborn sie zum ersten Mal in seiner Gewalt hatte.«

Giovanni nickte. »Wir dachten anfangs, sie wäre ein Junge mit Namen Daniel. Erst in der Klosterbibliothek hast du rausgefunden, wer dieser freche Junge wirklich ist.«

»Ich glaube, ihre Erinnerung kommt langsam zurück«, sagte Lukas. »Sie ist im Besitz des Amuletts aus der Schatulle, das mit dem Portrait unserer Mutter darauf. Vermutlich hat der Wolf es ihr gebracht. Das Amulett hat irgendetwas in ihr geweckt. Dass Elsa mich gefunden hat, zeigt, dass wir noch irgendeine Bindung zueinander haben. Und ich fühle, dieser Kontakt wird wieder stärker. Ich habe viel von Elsa geträumt.«

Er erzählte den Freunden von der Zeit bei Mama Toda und seinen Fieberträumen.

»Irgendjemand hat Mama Toda besucht und sich nach mir erkundigt«, sagte er. »Ich weiß aber nicht, wer. Die Erinnerung ist sehr verschwommen.«

»Vielleicht Merlin?«, meinte Giovanni. »Möglicherweise hat er uns gar nicht im Stich gelassen.«

»Dann sollte er aber langsam schleunigst auftauchen«, meldete sich Gwendolyn. »Zurzeit ist mir sogar ein kleiner Lausebengel recht, wenn er nur zaubern kann.« Sie zögerte. »Hör mal, Lukas … Dass ich Lorenz von dem Grimorium erzählt habe, das … das war nicht richtig. Ich konnte ja nicht ahnen, dass Falk es dir wirklich wegnehmen würde.«

»Es fehlt mir nicht«, erwiderte Lukas trocken. »Du musst also kein schlechtes Gewissen haben.«

Insgeheim freute er sich, dass Gwendolyn wieder mit ihm sprach. Doch er spürte auch, dass der Bruch zwischen ihnen beiden noch nicht wieder gekittet war. Gwendolyn glaubte immer noch daran, dass nur das Buch ihre Rettung bedeutete.

»Ehrlich gesagt fühle ich mich ohne das Buch viel besser«, fuhr er fort. »Es hat mich immer mehr unter seine Kontrolle bringen wollen. Falk soll es ruhig eine Weile behalten. Vermutlich ist es für ihn ohnehin nutzlos. Die Frage bleibt, ob wir ihm und den Harzschützen trauen können.«

Paulus zuckte die Achseln. »Ich fürchte, wir haben kaum eine Wahl. Ohne die Hilfe der Harzschützen finden wir Elsa nie. Vor allem, wenn jetzt auch noch diese ganzen Sagenwesen unterwegs sind. Aber wir sollten auf alle Fälle wachsam sein.«

»Etwas finde ich seltsam«, warf Gwendolyn ein. »Wenn die Wölfe und auch die Gefrorenen von Schönborn kamen, warum hat er sich selbst noch nicht gezeigt? Ich meine, er weiß doch, dass Lukas hier ist und das Buch hat, oder? Warum holt er es sich dann nicht?«

»Weiß er wirklich, dass wir hier sind?« Giovanni runzelte die Stirn. »Ich bin mir da gar nicht mehr so sicher.«

Auch Lukas hatte mittlerweile Zweifel. Bei seiner Begegnung mit Elsa und dem Wolf war Schönborn nicht dabei gewesen, und sie hatte auch kaum über ihn gesprochen. War es möglich, dass nur seine Schwester von der Ankunft der Freunde wusste?

»Noch eines«, sagte er nach einer Weile. »Diese Wölfe sind Elsa offenbar sehr ans Herz gewachsen. Dass wir einige von ihnen getötet haben, hat sie mir sehr übelgenommen. Sie hat mich als Wolfsmörder beschimpft.«

»He, Moment mal!«, protestierte Paulus. »Diese Biester wollten uns töten, schon vergessen?«

»Das mag schon sein«, erwiderte Lukas. »Aber ich hatte das Gefühl, dass ihr die Wölfe viel bedeuten. Ich glaube, sie ist …« Er dachte nach. »Einsam. Ja, das ist sie. Ich spüre es. Im Grunde ist sie das, seitdem das Buch damals von ihr Besitz ergriffen hat. Das Grimorium verändert den Menschen, und es macht ihn einsam. Das habe ich bei Mama Toda und den Tatern gelernt.«

»Dann wollen wir mal hoffen, dass Falk nicht das Gleiche geschieht wie anderen Buchträgern vor ihm«, bemerkte Giovanni düster. »Ich habe kein gutes Gefühl.«