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B ei Morgengrauen brachen sie auf.

Die Sonne war hinter den hohen Felsen noch nicht ganz aufgegangen, Nebel lag über dem Lager, es herrschte graues Zwielicht. Fröstelnd knöpfte Lukas den warmen Mantel zu, den ihm Lorenz gestern noch gegeben hatte. Er gürtete seinen Degen und schulterte den Sack mit dem Proviant, dann schloss er sich ihrer kleinen Armee an. Gwendolyn und die Freunde warteten bereits auf ihn.

Sie waren etwa fünfzig Mann, die Harzschützen bewaffnet mit Schwertern, Piken und Spießen. Angeführt wurde die Kompanie von Falk und Lorenz, die den im Lager Zurückbleibenden ein paar letzte Anweisungen gaben. Falk nickte Lukas zu und reichte ihm einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit.

»Trink das!«, forderte er ihn auf. »Wer weiß, wann wir das nächste Mal einen guten Schluck bekommen.«

»Wie lange werden wir bis zum Kyffhäuser brauchen?«, fragte Lukas, nachdem er von dem honigsüßen, leicht alkoholischen Trunk gekostet hatte. Er machte warm und weckte seine Lebensgeister.

Falk zuckte die Achseln. »In Friedenszeiten sind es nicht mehr als ein bis zwei Tagesmärsche. Doch heutzutage sind viele Wege verfallen oder gesperrt, wir müssen Umwege nehmen, auch um möglichen Söldnern aus dem Weg zu gehen. Und wer weiß, welchen üblen Fabelwesen wir vielleicht unterwegs begegnen? Wir werden sehen.«

Mit diesen Worten blies er in ein Horn, und der Trupp setzte sich langsam in Bewegung.

Unter den Fichten war es noch dunkel, kalte Tropfen regneten von den Ästen. Sie blieben auf schmalen Pfaden, was ihre Reise zusätzlich erschwerte, da sie in einer langen Reihe hintereinander gehen mussten. Während des Marschs betrachtete Lukas immer wieder die vielen Männer, die ihn begleiteten: erfahrene Kämpfer, die für ihre Heimat seit Jahren in den Krieg zogen. Sie mochten tapfere Krieger sein, wenn es gegen Schweden, Dänen und Kaiserliche ging. Aber wie würden sie sich gegen Gefrorene oder gar noch teuflischere Gegner behaupten?

Den Kampf gegen die Schweden vor einigen Tagen hatten Falk und seine Männer für sich entschieden. Sie hatten die schwedische Kompanie, die als Strafexpedition in den Harz geschickt worden war, fast gänzlich aufgerieben. Nur wenige Schweden hatten fliehen können. Diesen wenigen würden vermutlich rachsüchtige Dorfbewohner den Garaus machen, wenn sie nicht vorher im Wald erfroren oder verhungerten. Der Krieg war ein grausames Geschäft, wie Lukas immer wieder erfahren musste. So lange ging das nun schon, dass er gar nicht mehr wusste, wie es sich eigentlich vorher in Friedenszeiten gelebt hatte.

Mittags rasteten sie kurz, ohne ein Feuer zu machen, dann zogen sie schnell weiter. Immer wieder sah Falk jetzt zum Himmel, wo sich schwarzgraue Wolken ballten.

»Das Wetter gefällt mir nicht«, knurrte er. »Ganz und gar nicht! Da braut sich was zusammen.«

Lukas dachte an den Schneesturm vor einer Woche. Er hatte gelernt, dass sich das Wetter in den Bergen schnell ändern konnte. Auch jetzt war es innerhalb von wenigen Minuten merklich kälter geworden.

»Was bedeutet das für uns?«, wollte Giovanni wissen und knöpfte bibbernd seinen Mantel zu.

»Ich will mit unserem Trupp die großen Straßen durch den Harz meiden«, erklärte Falk. »Zwischen den Gipfeln des Auerbergs gibt es einen Pass, den kaum einer kennt. Aber wenn das Wetter umschlägt …«

»Dann müssen wir halt schneller marschieren«, sagte Paulus, der von ihnen allen den schwersten Ranzen trug. Er marschierte bereits wieder voraus. »Wer rastet, der rostet! Das sagte schon mein Vater immer, Gott hab ihn selig.«

Jerome rollte mit den Augen. »He, Großer!«, rief er Paulus hinterher. »Wenn es so leicht geht, dann trag mich doch!«

Schon bald wurde der Weg steiler, gleichzeitig setzte leichter Schneefall ein, der bald heftiger wurde. Die Männer froren und fluchten. Am späten Nachmittag wurde die Sicht immer schlechter, sodass sie beschlossen, wieder ein Stück abzusteigen und nahe eines Hochmoors ihr Nachtlager aufzuschlagen.

»Bis in den Mai hinein haben wir hier manchmal Schnee«, schimpfte Lorenz, der die Gegend von früher her kannte. »Ich hab’s doch gesagt, wir hätten die Straße nehmen sollen!«

»Dann kannst du gleich mit wehenden Fahnen und Fanfarenklang zum Kyffhäuser marschieren«, entgegnete Falk. »Wir wollen so lange wie möglich unbemerkt bleiben, schon vergessen? Und was das Wetter angeht …« Er klopfte gegen seinen Mantel und sah Lukas dabei augenzwinkernd an. »Ich habe hier ein hübsches Zauberbuch. Sicher stehen da auch Sprüche drin, die die Sonne …«

»Vergesst es!«, zischte Lukas. »Ich bin nicht Euer Schönwetterzauberer.«

Falks Miene verfinsterte sich. »Vielleicht sollte ich es einfach mal selbst versuchen. So schwer kann das ja nicht sein.«

Doch er tat es nicht, auch später nicht, als zu Beginn der Nacht ein Sturm aufkam, der ihnen die wenigen behelfsmäßigen Zelte beinahe ins Moor wehte. Im Schilf sahen sie Lichter, die hin und her sirrten, wie betrunkene Libellen. Ab und zu glaubte Lukas, ein helles Lachen zu hören.

»Irrlichter«, sagte Lorenz grimmig. »Auch sie sind Fabelwesen aus dem Harz. Ebenso wie die Moorgeister oder die Nebelteufel. Am besten, man beachtet sie gar nicht. Sie wollen einen nur in die Irre führen, bis man im Moor versinkt. Die Welt spielt wirklich verrückt!«

Tatsächlich verschwanden die Irrlichter nach einer Weile wieder, möglicherweise wurden sie vom Sturm vertrieben.

Lukas schlief schnell ein, vielleicht auch deshalb, weil ihn das Grimorium nicht mehr quälte. Er wachte auf durch ein dumpfes rhythmisches Dröhnen. Schnell rappelte er sich auf und blickte sich um. Auch viele andere Männer hatten sich von ihrem Nachtlager erhoben. Sie alle starrten hinüber zu den beiden Gipfeln des Auerbergs. Dazwischen war etwas zu sehen, das Lukas zunächst für eine Täuschung seiner Sinne hielt.

Die Gestalt, die dort im Licht des Mondes stand, sah aus wie ein Mensch, doch sie war viel, viel größer, ein wahrer Gigant. Er trug einen langen Bart und eine Keule, die aus einem Baumstamm geschnitzt war. Sein Gewand ähnelte dem eines Bergarbeiters mit Kapuze. Mit der Keule schlug der baumlange Koloss gegen einen Felsen, was das rhythmische Dröhnen verursachte.

»Klonk, klonk, klonk …«, hallte es vom Berg her.

»Mon dieu !«, hauchte Jerome, der neben Lukas aufgewacht war. »Un colosse …«

Der Riese war über eine halbe Meile entfernt, er schien den Trupp beim Moor glücklicherweise nicht zu bemerken. Nun ertönte von fern ein weiteres Dröhnen. Der Riese hielt kurz inne und lauschte, dann fuhr er mit seinem Hämmern fort.

»Sie reden miteinander!«, sagte Giovanni leise. »Irgendwo im Harz muss noch ein zweiter Riese sein. Vielleicht sind das die zwei, die bei Burg Falkenstein gesehen wurden.«

Die Harzschützen verharrten beinahe andächtig. Lorenz stand ein wenig abseits, den Mund vor Staunen weit geöffnet. Falk war nirgendwo zu sehen.

»Das … das ist unglaublich!«, sagte Lorenz, als sich ihm Lukas näherte. »Wir Harzbewohner kennen natürlich Märchen über Riesen. In den alten Sagen heißt es, dass sie einst in Riesenburgen im Gebirge lebten und über die Täler sprangen; ihre gewaltigen Fußabdrücke, die sie dabei hinterließen, sieht man noch heute. Aber dass es sie wirklich gibt …« Er schüttelte den Kopf und starrte weiter auf den hämmernden Koloss. »Irgendjemand muss ihn gerufen haben.«

Und ich weiß auch, wer , dachte Lukas. Schönborn!

»Auch wir in Wales kennen Riesengeschichten«, sagte Gwendolyn. »Der Riese Ysbaddaden wohnt in einer Burg mit neun Toren, und er hat Augenlider, die so schwer sind, dass Diener sie mit einer Holzgabel …«

»Wo ist Falk?«, wollte Lukas wissen, den eine leise Unruhe überfiel.

»Weiß nicht«, erwiderte Lorenz achselzuckend, ohne den Blick von dem Riesen zu wenden. »Gerade war er noch da …«

Von einer bösen Vorahnung getrieben, eilte Lukas durch das Lager weiter. Er fand Falk am Rande eines erkaltenden Feuers, wo er im Licht der letzten Glut im Grimorium blätterte. Als Lukas auf ihn zukam, klappte er das Buch schnell zu.

»Das ist ja in einer völlig idiotischen Sprache geschrieben«, knurrte er. »Wie soll man das lesen können? Nichts als Blödsinn!«

»Es sind viele Sprachen miteinander vermischt«, sagte Lukas. »Doch die Wörter sind ohnehin nicht so entscheidend. Ich habe es Euch bereits mehrmals gesagt: Ihr könnt mit dem Buch nichts anfangen.«

»Dann zeig du es mir!«, schrie Falk plötzlich und streckte ihm das Buch entgegen. »Wenn du schon selbst nicht zaubern willst, bring es mir bei!«

»Das kann ich nicht«, erwiderte Lukas leise.

»Du willst nur nicht! Du … du hast diese mächtige Waffe, und du nutzt sie nicht! Wenn der Riese meine Männer angreift, dann …«

»Das wird er nicht«, unterbrach Lukas. »Schaut selbst.«

Er deutete auf den Koloss, der eben dabei war, zwischen den beiden Gipfeln zu verschwinden. Ein letztes Mal ertönte das dröhnende Klonk seiner Keule, ein letztes Mal wurde der Schlag mit einem fernen Pochen beantwortet. Dann war der Spuk vorbei.

Als hätten wir alle nur geträumt , dachte Lukas.

Wütend klappte Falk das Buch zu und steckte es wieder unter den Mantel.

»Diesmal haben wir noch Glück gehabt«, zischte er. Er sah auf. »Du hast noch Glück gehabt!«

In Falks Augen glomm ein hasserfülltes Funkeln, das Lukas überhaupt nicht gefiel.

Am nächsten Morgen redeten die Männer noch immer über den Riesen. Lukas hörte ihnen zu, während er am Feuer seinen heißen Haferbrei löffelte.

»Wo mag der Hüne hingegangen sein?«, fragte Lorenz. »Hinüber zum Kyffhäuser? Wenn er das tut, dann sieht ihn das ganze Land. Die Goldene Aue ist flach wie ein Teller.«

»Na, ich bin froh, wenn er einen anderen Weg einschlägt«, verkündete einer der jüngeren Harzschützen. »Gegen so ein Monstrum sind wir machtlos. Stellt euch vor, der drischt mit seiner Keule in unseren Haufen. Dann sind wir alle Matsch!«

»Du vergisst, dass wir den magischen Krieger an unserer Seite haben«, sagte ein zweiter. »Der würde den Riesen vielleicht in eine Maus verwandeln.« Die beiden sahen vieldeutig zu Lukas hinüber.

Lukas stellte seinen Holzteller beiseite, ihm war bei dem Gerede der Appetit vergangen. Paulus griff danach und verspeiste in aller Seelenruhe seine zweite Portion.

»Bevor es die Vögel fressen …«, brummte er mit vollem Mund. »Oder diese komischen Irrlichter.«

Mittlerweile hatte sich das Wetter wieder beruhigt. Nur hie und da lagen noch Reste von Schnee, die die Sonne jedoch rasch wegtaute. Sie kamen nun schneller voran, bald hatten sie den Pass zwischen den beiden Gipfeln erreicht. Im morastigen Boden waren noch immer die riesigen Fußabdrücke zu sehen.

Falk ging schweigend voraus. Über das gestrige Gespräch mit Lukas verlor er kein Wort, das hasserfüllte Funkeln in seinen Augen war verschwunden. Auch holte er das Grimorium nicht mehr hervor. Lukas hoffte, dass es so blieb.

Nicht viel später ging der Wald in eine sumpfige Wiesenlandschaft über, es folgten einige Hänge, noch ein Waldstück, dann lichteten sich die Bäume …

… und der Harz hörte plötzlich auf.

Lukas blieb wie verzaubert stehen. Vor seinen Füßen fiel das Land steil ab, tief unten waren grüne Wiesen zu sehen, dazwischen funkelten im Mittagslicht die Dächer von Dörfern und kleineren Städten. Auf schwarzbraunen Feldern keimte die Saat. Im Gegensatz zum schroffen Harz machte die Gegend dort unten einen sehr friedlichen Eindruck, sie wirkte fast wie eine Spielzeuglandschaft.

»Die Goldene Aue«, erklärte Falk und machte eine weite Handbewegung. »Einst war hier nur Sumpf. Doch unter Kaiser Barbarossa wurde die Gegend urbar gemacht. Jetzt ist sie das Paradies auf Erden.« Er seufzte. »Nun, ja, es wäre das Paradies, wenn nicht auch hier der Krieg Einzug gehalten hätte. Lange ist die Aue davon verschont geblieben.«

Giovanni deutete auf einen bewaldeten Bergrücken, der im Süden hinter der Goldenen Aue aufragte. »Ist das der Kyffhäuser?«

Falk nickte. »Wenn ihr gute Augen habt, könnt ihr vielleicht sogar die große Burgruine darauf sehen. Das ist die alte Reichsburg Kyffhausen.«

Lukas blinzelte. Tatsächlich glaubte er, einen Turm zu erkennen, und ein wenig links davon ein Glühen, wie von einem wachsamen Auge. Doch er war nicht ganz sicher, dafür war der Kyffhäuser viel zu weit weg. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf, als er daran dachte, dass dort irgendwo vermutlich Schönborns Versteck war.

Im Berg … über dem Berg … unter dem Berg , dachte Lukas. So stand es in der Karte.

Er war jetzt schon ganz nah bei seiner Schwester.