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F alk führte seinen Trupp über Serpentinen hinunter ins Tal. Je weiter sie nach unten kamen, desto genauer konnte Lukas nun die einzelnen Dörfer erkennen. Eines lag ganz nah am Hang, neben der Kirche stand ein Wirtshaus, in dem vermutlich viele Reisende auf ihrem Weg durch die Goldene Aue abstiegen.

»Wenn Schönborn sein Versteck auf dem Kyffhäuser hat und dort heimlich Truppen sammelt, dann weiß man hier vielleicht etwas davon«, wandte sich Lukas an Falk. »Wir sollten uns in dem Wirtshaus auf alle Fälle mal erkundigen.«

»Das werden wir sicher nicht tun«, knurrte Falk. »Wir Harzschützen haben in der Aue nicht den besten Ruf. Man hält uns hier für Räuber und Banditen. Herzog Georg von Braunschweig, genannt die Eisenhand, hat in dieser Gegend das Kommando. Einst marschierte er für die Kaiserlichen, doch der Hund hat die Seiten gewechselt und macht jetzt mit den Schweden gemeinsame Sache.«

»Dann werden eben wir zwei gehen«, schlug Gwendolyn vor. »Lukas und ich, ein Junge mit seiner älteren Schwester. Da wird ja wohl niemand Verdacht schöpfen.« Sie sah Lukas an und lächelte auffordernd. »Was hältst du davon?«

»Das … das ist sicher eine gute Idee«, brachte Lukas verdattert hervor. Offenbar wollte sich Gwendolyn wieder mit ihm versöhnen.

»Nun, warum nicht?«, sagte Falk achselzuckend. »Es kann sicher nicht schaden. Ich schlage vor, dass wir hier in der Gegend die Nacht abwarten. Ihr könnt euch in der Zwischenzeit gerne mal umhören. Wenn ihr zurückkommt, brechen wir zum Kyffhäuser auf. Hier in der ungeschützten Ebene sind wir besser im Dunklen unterwegs.«

Sie fanden eine Lichtung in einem Waldstück, welche ihnen als Lager passend erschien. Ein kleiner Bach führte daran vorbei, die nächsten Häuser waren über eine Meile entfernt. Von dort brachen Lukas und Gwendolyn am Abend zum Dorf auf. Die Straße, die durch den Ort führte, war menschenleer, nur ein paar Hunde streunten kläffend herum. Die Fensterläden waren alle geschlossen, die Türen verrammelt. Die Angst vor marodierenden Söldnern hatte die Dorfbewohner vorsichtig gemacht.

Schweigend gingen Lukas und Gwendolyn nebeneinander die Straße entlang. Es war Gwendolyn, die schließlich das Wort ergriff.

»Hör mal, Lukas, das mit dem Buch …«

»Vergiss es.« Lukas winkte ab. »Das hatten wir schon besprochen. Du hattest ja Recht, früher oder später wäre es ohnehin rausgekommen.« Er versuchte zu lächeln. »Ich … ich freue mich jedenfalls, dass du uns noch immer begleitest. Und ich hoffe, es ist nicht nur wegen der Belohnung.«

»So gut solltest du mich mittlerweile eigentlich kennen«, erwiderte Gwendolyn. »Ich mag eben Abenteuer. Und in Wales wurde mir ohnehin langsam langweilig. Immer nur Schafe und dieses Gefiedel auf der Geige …« Sie zwinkerte ihm zu. »Naja, und vielleicht bin ich ja auch deinetwegen hier, zumindest ein kleines Bisschen.«

Lukas spürte, wie ihm heiß wurde. »Meinet… meinetwegen?« Er errötete.

»Als wir uns in Prag damals voneinander verabschiedeten, sagte ich, dass ich dich mag, Lukas. Aber vielleicht ist es ja mehr als das. Du kamst mir damals noch sehr jung vor. Doch das ist jetzt anders.« Gwendolyn maß ihn mit anerkennendem Blick. »Jetzt steht vor mir ein hübscher junger Mann. Ein sehr tapferer junger Mann nebenbei, der um seine kleine Schwester kämpft. Das gefällt mir. Vielleicht, weil ich auch alles für meinen kleinen Bruder tun würde.«

Mittlerweile waren sie vor dem Wirtshaus angekommen. Hier waren die Fensterläden weit geöffnet, hinter den Butzenglasscheiben leuchtete es hell. Der warme Schein ließ Gwendolyns Haare noch roter als sonst erscheinen.

Lukas räusperte sich. »Gwendolyn, ich … ich mag dich auch. Also sogar mehr als das, ich …«

Die Tür sprang auf, und zwei Betrunkene stolperten hinaus. Sie hatten sich gegenseitig am Kragen gepackt und fingen auf der Straße eine wütende Rauferei an. Lukas fluchte leise. Der traute Moment der Zweisamkeit war vorüber.

»Da ist noch was …«, begann Gwendolyn erneut. »Falk sollte das Grimorium nicht besitzen, du solltest es haben. Es gehört dir, Lukas! Ein Wort von dir, und ich besorge es uns.«

»Du willst es ihm stehlen?«, fragte Lukas. »Wie soll das gehen? Falk trägt es unter seinem Mantel, und den zieht er nicht mal nachts aus.«

Gwendolyn grinste. »Du hast wohl vergessen, dass ich eine Meisterdiebin bin. Ich habe schon ganz andere Sachen gestohlen.«

Das stimmte. In Prag war es vor allem Gwendolyn zu verdanken gewesen, dass die drei Reichinsignien wieder in ihren Besitz gelangt waren.

»Wir brauchen Falks Hilfe im Kampf gegen Schönborn«, gab Lukas zu bedenken. »Wenn du das Buch stiehlst, wird er sofort uns im Verdacht haben. Das ist zu gefährlich. Aber ich komme vielleicht auf dein Angebot zurück.«

»In Ordnung.« Gwendolyn nickte. »Und wenn, dann überleg nochmal, ob du das Grimorium nicht doch verwenden möchtest. Zum Wohle aller, auch zum Wohle deiner Schwester.«

Mit diesen Worten betrat sie das Wirtshaus und Lukas folgte ihr.

Die Gaststube war gut gefüllt. Es war die typische Mischung aus Reisenden in staubigen Gewändern, einigen betrunkenen Soldaten und ein paar einheimischen Bauern. Lukas und Gwendolyn begaben sich so weit wie möglich weg von den Soldaten. Neben zwei Männern in einfachen Bauernkitteln war noch ein Tisch frei. Sie setzten sich, bestellten heißen Gewürzwein und lauschten den beiden Männern am Nachbartisch, die sich angeregt unterhielten.

»Und wenn es doch ein gutes Zeichen ist?«, sagte der eine eben. »Ein … ein Omen, so sagt man doch. Es heißt, dass in schlimmen Zeiten der Kaiser zurückkehrt …«

»Von dort oben kommt nichts Gutes, das sag ich dir«, unterbrach ihn der andere kopfschüttelnd. Er war älter und hatte kaum noch Haare am Kopf. »Denk dran, was die gute Dorte erzählt hat! Die wohnt nicht weit weg, die hat so komische spanische Söldner mit toten Augen gesehen. Du kennst die Geschichte, dass Soldaten einen Pakt mit dem Teufel schließen? Ihre Seele gegen Unverwundbarkeit! Und dann überall diese Feuer dort oben, das Rumpeln und Rumoren, riesige Vögel, die um den Berg kreisen …«

»Das sind die Adler aus der Prophezeiung!«, rief der Jüngere. »Erinnere dich! Wenn ein großer Adler die Raben vertreibt, dann kommt der Kaiser zurück!«

»Unsinn, das sind keine Adler«, knurrte der Alte. »Irgendetwas Übles ist es. Der Berg bringt Böses hervor. O ja!«

Lukas hatte lange genug gelauscht. Jetzt räusperte er sich und richtete das Wort an die Männer.

»Verzeiht, aber sprecht Ihr da vom Kyffhäuser?«, fragte er.

»Wer will das wissen?«, entgegnete der ältere Glatzkopf argwöhnisch.

Lukas deutete auf Gwendolyn. »Meine Schwester und ich sind den ganzen Weg von Magdeburg hierher geflohen. Zu unserem Onkel wollen wir, nach Nordhausen. Naja, wir haben diese Geschichten über den Kyffhäuser gehört. Und nun haben wir Angst, allein auf der Straße zu reisen.«

Der Glatzkopf winkte ab. »Noch seid ihr weit genug vom Berg entfernt. Aber es stimmt schon, was ich gesagt habe. Da oben geschieht irgendetwas Übles. Allein das Rumoren, das man bis zu uns hier hört! Als würde der Berg schon bald explodieren, wie einer dieser Vulkane. Und das Leuchten kommt auch nicht einfach von irgendwelchen Lagerfeuern. Da oben versammelt sich übles Volk, o ja!« Er senkte die Stimme. »Der Herzog hat jetzt ein paar Truppen dorthin entsandt, die sollen nach dem Rechten sehen. Vielleicht ist dort oben ja auch nur irgendein Scharlatan, der irgendwas vom letzten Tag und der Apokalypse predigt. Ich hoffe es fast!«

»Ein Scharlatan?«, fragte Gwendolyn. »Wie meint Ihr das?«

Der Jüngere zuckte die Schultern. »Naja, es kam schon öfter vor, dass sich irgendein Verrückter auf dem Kyffhäuser als der neue deutsche Kaiser ausgegeben hat. Die Obrigkeit mag sowas gar nicht. Aber diesmal ist es ernst, das spüre ich!« Er warf einen Blick hinüber zu den betrunkenen Soldaten. »Egal, wer der neue Herrscher ist, ich hoffe, dass er mit harter Hand aufräumt. Dieses Land braucht wieder einen starken Kaiser!«

Plötzlich war Lukas gar nicht mehr so sicher, ob die Leute hier in der Gegend nicht sogar einen Waldemar von Schönborn als ihren neuen Herrscher begrüßen würden, wenn er ihnen nur Ruhe und Ordnung brachte. Ein schrecklicher Gedanke.

Sie tranken ihren Gewürzwein aus, zahlten und gingen nach draußen. Ein paar Soldaten pfiffen Gwendolyn hinterher, doch glücklicherweise kam ihr keiner zu nahe. Lukas wusste, dass dies nicht gut ausgegangen wäre.

Draußen vor der Tür sahen sie sich ernst an.

»Ein Berg, der rumort, unheimliches Leuchten, riesige Vögel, nicht zu vergessen, die Gefrorenen …« Lukas schüttelte den Kopf. »Das klingt nach keinem gemütlichen Spaziergang, den wir da vor uns haben.«

»Was hattest du erwartet?« Gwendolyn zuckte mit den Schultern. »Zumindest wissen wir jetzt, dass auch der Herzog ein Interesse daran hat, was dort oben vor sich geht. Er hat Truppen dorthin geschickt.«

»Das heißt, wir müssen ab sofort doppelt wachsam sein«, sagte Lukas.

Er hob den Kopf. Weit entfernt sah er tatsächlich jetzt ein schwaches Leuchten. Es kam vom Kyffhäuser her.

»Was um Himmels Willen mag dort oben nur vor sich gehen?«, fragte er leise. »Was hat Schönborn vor?«

»Wir werden es schon bald erfahren«, erwiderte Gwendolyn. »Lass uns zurück zu den anderen gehen.«

Auf dem Heimweg schwiegen sie. Und Lukas wagte auch nicht mehr, Gwendolyn seine Liebe einzugestehen. Dafür schien ihm nicht der geeignete Zeitpunkt zu sein.

Er hoffte nur, dass dieser Zeitpunkt irgendwann noch kommen würde.

Zurück im Lager kamen ihnen die Freunde schon aufgeregt entgegen. Auch sie hatten das Leuchten auf dem Berg gesehen. Außerdem ertönte ein fernes Rumpeln, genauso, wie die Bauern es vorher beschrieben hatten.

»Viele der Harzschützen haben Angst«, sagte Giovanni. »Auch wenn sie es nicht zeigen wollen. Man munkelt von Geisterkriegern und Gespenstern.«

»Und da haben sie nicht mal unrecht.« Lukas seufzte. »Ich kann ihnen ihre Angst nicht verdenken. Was sagt Falk?«

»Er ist immer noch auf unserer Seite«, erwiderte Paulus. »Aber es gefällt mir nicht, was er mit dem Grimorium anstellt. Vor Kurzem hat er wieder darin geblättert und ein paar der Sprüche vor sich hingemurmelt.«

»Es wird ihm nicht gelingen zu zaubern«, sagte Lukas. »Lasst mich nach ihm sehen, es gibt ohnehin einiges zu besprechen.«

Falk saß am Lagerfeuer und starrte stumpf in die Flammen, das aufgeschlagene Buch auf seinen Schoß. Als Lukas kam, blickte er auf.

»Du hast das Leuchten gesehen, ja?«, fragte Falk. »Hast das Rumpeln und Rumoren gehört? Viele meiner Männer fragen mich, was wir hier eigentlich tun.« Falk zuckte die Achseln. »Ich antworte ihnen, dass wir unsere Heimat verteidigen, gegen das Böse. Und ich verspreche ihnen, dass wir nicht ohne Schutz in diesen Kampf ziehen. Kannst du ihnen diesen Schutz bieten, Lukas?«

»Ich hoffe es«, erwiderte Lukas leise. Er hob die Stimme. »Zunächst einmal haben wir es aber mit ganz irdischen Problemen zu tun.«

Er berichtete Falk von der Kompanie des Herzogs, die als Spähtrupp zum Kyffhäuser geschickt worden war.

Falk winkte ab. »Damit werden wir fertig. Außerdem ist der Berg groß. Es ist nicht gesagt, dass wir überhaupt auf die Soldaten treffen.« Er stand auf. »Lass uns jetzt aufbrechen. Dann sind wir noch vor Morgengrauen am Kyffhäuser. Was dann geschieht …« Falk klopfte gegen seinen Mantel, unter dem er das Grimorium verwahrte. »Nun, wir werden sehen. Doch ohne Zauber wird es nicht gehen, so viel ist sicher.«

Als sie später durch die Dunkelheit Richtung Süden marschierten, grübelte Lukas, was er tun sollte. Falk hatte ja Recht. Dort oben lauerte ein Unheil, das sich vermutlich nicht allein mit Schwert und Degen bekämpfen ließ. Sollte Lukas das Grimorium also doch benutzen? Aber wie ging das überhaupt? Bislang war es ihm immer so vorgekommen, als ob das Buch ihn benutzte und nicht andersherum. Mama Toda hatte von seiner eigenen Stärke gesprochen. Aber gerade im Moment kam sich Lukas unendlich schwach vor.

Was sollte er tun?

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen durch ein Ereignis, just als sie den Fuß des Kyffhäusers erreichten. Mittlerweile hatten sie die offenen Wiesen und Felder hinter sich gelassen. Es gab auch keine Dörfer oder Weiler mehr, stattdessen breitete sich dichter Wald aus. Über ihnen leuchteten die Sterne, ein kalter Aprilwind wehte vom Osten her.

Der Berg selbst war ein langgezogener Kamm, der sich wie ein schlafender Drachen über die Goldene Aue legte. Zwischen den Zweigen konnte Lukas manchmal den Gipfel sehen, auf dessen höchster Stelle eine Turmruine stand, vermutlich ein ehemaliger Bergfried. Von ihm ging weiterhin das blaue Leuchten aus. Vom Rest der Burganlage war von hier unten nichts zu erkennen, vermutlich war sie längst verfallen. Immer noch rumpelte und rumorte es in unregelmäßigen Abständen. Die Männer blickten sich verunsichert um, ihre Hände umklammerten die Schwertgriffe, als könnte jeden Moment ein Bergtroll oder Schlimmeres aus dem Dickicht stürzen.

Falk hatte jegliches Gespräch verboten, sodass nur ihre Schritte zu hören waren, die auf trockenes Reisig traten. So marschierten sie schweigend auf den Bergrücken zu, einmal erklang der Schrei einer Eule, ein paar aufgescheuchte Krähen krächzten. Doch ansonsten blieb alles ruhig. Auch das unheimliche Leuchten war nicht mehr zu sehen. War es verschwunden? Oder standen die Bäume einfach zu dicht? Lukas vermochte es nicht zu sagen.

Ganz plötzlich ertönten nicht weit entfernt menschliche Stimmen. Falk gab den Männern ein Zeichen, in Deckung zu gehen. Dann winkte er Jerome zu sich.

»Du bist von uns allen der Leiseste und Geschickteste«, flüsterte Falk. »Erkunde, was dort vor sich geht.«

Jerome nickte und verschwand lautlos im Dickicht. Schon kurz darauf kam er wieder zurück.

»Es sind herzogliche Soldaten«, berichtete er leise. »Keine Schweden, keine Gefrorenen. Nur ein kleiner Trupp, vielleicht ein Dutzend. Ich denke, es sind Späher, die der Kompanie später berichten sollen.«

»Mit einem Dutzend werden wir leicht fertig«, sagte Falk.

»Wir müssen sie nicht angreifen«, entgegnete Jerome. »Sie ziehen in eine andere Richtung. Wenn wir nur eine Weile still …«

»Nichts da.« Falk schüttelte den Kopf. »Wir machen sie nieder. Die Herzoglichen sind ebenso unsere Feinde wie die Schweden. Außerdem stärkt das die Moral der Truppe.«

»Ihr wollt Männer töten, weil das die Moral der Truppe stärkt?«, fragte Lukas ungläubig.

»Hör mal, Junge«, hob Falk an. »Meine Männer haben Angst vor dem, was sie da oben auf dem Kyffhäuser erwartet. Die Herzoglichen sind Gegner aus Fleisch und Blut, man kann sie mit dem Schwert bekämpfen. Wir werden mit frischem Mut aus diesem Kampf hervorgehen.«

»Aber …«, versuchte es Lukas noch einmal. Doch Falk hatte sich schon abgewendet und besprach sich mit Lorenz und seinen anderen Feldwebeln. Nur kurze Zeit später schwärmten die Harzschützen aus.

»Merde !«, zischte Jerome. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihnen niemals von den Soldaten erzählt.«

»Wir werden uns an diesem Gemetzel jedenfalls nicht beteiligen«, sagte Paulus entschieden. »Dieser Falk gefällt mir immer weniger.«

»Mir auch nicht«, murmelte Lukas. Auch ihm war aufgefallen, wie sehr sich Falk verändert hatte, seitdem er das Grimorium bei sich trug.

Mit einem Mal waren Schüsse zu hören, dann Schreie und Schwerterklirren. Die Harzschützen griffen die Herzoglichen an. Wegen der Dunkelheit und des dichten Waldes konnten die Freunde nicht mehr als ein paar Schemen zwischen den Bäumen erkennen. Doch sie wussten auch so, dass es ein äußerst ungleicher Kampf war. Gut fünfzig Harzschützen gegen ein Dutzend Soldaten, die noch dazu überrumpelt wurden. Alarmschreie hallten durch die Nacht, jemand schien nicht weit entfernt fliehen zu wollen, doch seine Schritte brachen jäh ab. Ein gellender Schrei ertönte.

»Herrgott, lange höre ich mir das nicht mehr an!«, schimpfte Paulus.

»Was willst du tun?«, fragte Gwendolyn. »Etwa gegen Falk und seine Männer kämpfen?«

Paulus wollte eben etwas erwidern, als ein greller Blitz zwischen den Bäumen zuckte. Es krachte so laut, dass sich die Freunde unwillkürlich auf den Boden warfen. Als sie aufblickten, sahen sie an einigen nahestehenden Fichten Flammen emporzüngeln.

»Was, um Himmels willen, war das?«, fragte Giovanni.

»Ich fürchte, ich weiß, was es war«, sagte Lukas. Er erhob sich und rannte auf die brennenden Bäume zu. Zwischen ihnen tat sich ein hüfttiefer Krater im Waldboden auf, aus dem es qualmte und rauchte. Am Rande des Kraters stand Falk von Dinkelbühl. Die Haare des Anführers waren leicht versengt, sein Gesicht rußschwarz. Er hielt das Grimorium in den zitternden Händen und blickte sich staunend um. Einige Soldaten in der Montur der herzoglichen Truppen lagen leblos auf dem Boden, die Harzschützen standen nicht weit entfernt im Dickicht.

»Es … es hat funktioniert!«, schrie Falk wie von Sinnen. »Das Zauberbuch! Ich kann es benutzen! Ha! Ich … ich bin ein Magier!«

Er wedelte mit dem Grimorium, während Lukas langsam auf den rauchenden Krater zutrat. Er wagte nicht hineinzusehen. Auch so konnte er sich gut vorstellen, wo die restlichen herzoglichen Soldaten geblieben waren.

»Die … die Worte kamen einfach so aus meinem Mund!«, fuhr Falk aufgeregt fort. In seinen Augen funkelte es wieder wie in der Nacht zuvor, allerdings erschien Lukas das Funkeln jetzt noch dämonischer. Falk wandte sich an seine Männer, die immer noch ängstlich zwischen den Bäumen standen, fassungslos von dem, was sie eben gesehen hatten.

»Wisst ihr, was das bedeutet?«, rief Falk. »Niemand kann uns mehr aufhalten! Wir werden diesen elendigen Zauberer vernichten, und dann die Schweden aus dem Harz vertreiben. Später knöpfen wir uns die herzoglichen und die kaiserlichen Truppen vor. Wir ziehen gegen Goslar und dann gegen Magdeburg! Wir werden …«

»Hört auf!«, schrie Lukas. »Merkt Ihr nicht, was Ihr da redet? Es ist das Buch, das das mit Euch macht.«

Falk sah ihn hasserfüllt an. »Das sagst du nur, weil du das Buch zurückhaben möchtest. Aber es gehört jetzt mir, mir ganz allein! Du warst zu schwach, hast es nicht verwenden wollen! Es braucht einen starken Träger wie mich …«

»Lorenz, sag doch etwas!«, wandte sich Lukas an Falks obersten Feldwebel. Der Köhler war zwischen den Bäumen hervorgetreten und starrte auf Falk und den rauchenden Krater.

»Du hast selbst gesehen, was das Buch macht, Lorenz!«, fuhr Lukas fort. »Falk denkt, er beherrscht es. Doch es beherrscht ihn! Wir dürfen das nicht zulassen!«

»Was ich gesehen habe, war, dass dieses Buch ein halbes Dutzend Soldaten einfach so vernichtet hat, wie … wie mit einem Fingerschnippen«, sagte Lorenz langsam. »Es scheint eine sehr mächtige Waffe zu sein …«

»Glaubt mir, wir wissen, was das Grimorium anstellen kann«, meldete sich nun Giovanni. »Es verändert Menschen. Und es ging noch nie etwas Gutes von ihm aus.«

»Unsinn!«, fauchte Falk. »Das Buch wird uns helfen, den Zauberer und seine bösen Fabelwesen zu besiegen. Und nicht nur sie, sondern alle, die sich den Harzschützen in den Weg stellen! Womit wolltet ihr denn gegen den Zauberer kämpfen? Mit euren Degen und Bögen etwa?« Er lachte. »Das kitzelt ihn doch höchstens.«

Mit lauter Stimme sprach Falk nun zu seinen Männern: »Ihr hattet Angst, doch jetzt müsst ihr keine Angst mehr haben. Die Magie ist auf unserer Seite, das Gute wird gewinnen!« Dann wandte er sich an Lukas und seine Freunde. »Ihr könnt euch entscheiden. Kommt mit uns, oder lasst es bleiben. Doch das Buch bleibt bei mir.« Er funkelte Lukas warnend an. »Und wage nur nicht, es mir wegzunehmen! Du hast selbst gesehen, wozu ich in der Lage bin.«

»Das ist Wahnsinn!«, rief Lukas noch einmal. »Ihr könnt nicht …« Doch Gwendolyn legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Es ist zu spät, Lukas«, sagte sie leise. »Ich hatte dir angeboten, Falk das Buch zu stehlen. Nun ist es zu gefährlich. Aber ich weiß auch, dass ich nicht mit diesem Verrückten in den Krieg ziehen werde.«

»Wir auch nicht«, sagten Giovanni, Jerome und Paulus wie aus einem Mund.

»Ihr werdet uns also nicht begleiten?«, erkundigte sich Lorenz.

Falk winkte ab. »Lasst die Heulsusen hier. Sie würden uns ohnehin nur behindern. Wenn wir mit dem Zauberer, der unsere Heimat bedroht, fertig sind, schlagen wir dort oben unser neues Lager auf und holen die anderen Männer nach. Vom Kyffhäuser aus soll ein neues Reich entstehen! Das Reich der Harzschützen! Seid ihr dabei, Männer?«

Ein paar jubelten, doch der Rest verfiel in ängstliches Schweigen.

»Ob ihr dabei seid, will unser Anführer wissen!«, rief nun Lorenz. »Herrgott, was seid ihr? Harzschützen oder Memmen?«

Nun wurde der Jubel ein wenig lauter, ein paar reckten ihre Spieße und Schwerter in die Höhe. Aber es gab auch etliche, die heimlich Blicke austauschten.

Falk nickte entschlossen. »Dann soll es so sein. Wir ziehen weiter, gegen jeden, der sich uns in den Weg stellt. Ob Mensch oder Monstrum.« Er sah Lukas ein letztes Mal an. »Was mit deiner Schwester geschieht, das kann ich dir allerdings nicht sagen. Wir haben jetzt höhere Ziele, als ein kleines Mädchen zu retten.« Er wandte sich an seine Feldwebel. »Fesselt sie, Männer!«

»Aber wieso …?«, protestierte Jerome, den eben zwei Harzschützen packten und an einen Baum banden.

»Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, sagte Falk. »Es ist zu gefährlich, euch hier allein zurückzulassen. Weiß der Teufel, was ihr wieder ausbrütet.«

Paulus wollte sich wehren, doch Falk hielt drohend das Buch in die Höhe. »Willst du wirklich riskieren, dass ich das hier einsetze, Großer?« Er lächelte böse. »Ein Wort von mir und du bist nur noch Asche.«

»Ein Tritt von mir, und ich befördere dich Drecksack von hier zurück nach Quedlinburg«, knurrte Paulus.

»Lass gut sein, Paulus«, versuchte Lukas zu beruhigen. »Er hat ja recht. Wir haben gesehen, was das Buch bereits angerichtet hat. Wir wollen nichts riskieren.«

»Aber es ist dein Buch, Lukas!«, rief Jerome.

»Jetzt nicht mehr«, sagte Falk. »Oder wollt ihr etwa bezweifeln, dass es sich einen neuen Träger ausgesucht hat?« Er wies auf den Krater. »Nach dem, was gerade hier passiert ist?« Tatsächlich schien das Buch in Falks Händen leicht bläulich zu schimmern.

Lukas hörte keine innere Stimme mehr, und er spürte auch kein Verlangen danach.

Das Grimorium hatte ihn verlassen.

Paulus ließ die Schultern sinken. Die Harzschützen nahmen ihnen allen die Waffen ab und fesselten sie einen nach dem anderen an die Bäume. Lukas konnte sehen, dass Lorenz zögerte. Doch auch er wagte nicht einzugreifen.

Als die Männer schließlich mit ihrer Arbeit fertig waren, schauten sie abwartend hinüber zu ihrem Anführer.

»Folgt mir und dem Buch!«, rief Falk von Dinkelsbühl. »Es wird uns zum Sieg führen. Zum Sieg über das Böse auf der Welt, egal, wo es sich auch verkriecht. Ein Hoch auf die Harzschützen!«

Mit diesen Worten marschierte Falk voraus, das Buch wie eine Trophäe vor sich hertragend.

Lukas und seine Freunde blieben gefesselt zurück, während es noch immer schwarz aus dem Krater qualmte.