A n den Stufen, die in die Tiefe führten, warteten Lukas und Gwendolyn auf die anderen. Während das Quietschen des Flaschenzugs weiter oben zu hören war, schwiegen sie beide. Lukas überlegte, ob er Gwendolyn küssen sollte, schließlich hatte sie ihn vorher auch geküsst. Doch er wagte es nicht.
Seltsam , dachte er. Ich habe keine Angst im Kampf mit Schwert und Degen, aber wenn es um einen Kuss geht, schlottern mir die Knie.
Auch war er plötzlich nicht mehr sicher, ob Gwendolyn eben nicht einfach nur aus einer plötzlichen Laune heraus gehandelt hatte.
Neugierig sah sie sich in dem dunklen Tunnel um.
»Wie tief unten sind wir hier?«, fragte sie. »Was meinst du?«
»Ich weiß es nicht genau«, sagte Lukas. »Aber ich denke, es sind sicher über hundert Schritt, vielleicht auch mehr.«
Das Knarren und Quietschen des Flaschenzugs wurde lauter, schließlich tauchte die Plattform mit Jerome und Giovanni darauf auf.
»150 Schritt!«, vermeldete Giovanni staunend. »Ich habe während unserer Fahrt mitgezählt. Ich glaube, dass es nur wenige deutsche Brunnen gibt, die tiefer hinabgehen.« Im Licht seiner Fackel betrachtete er die Inschrift über dem Eingang. »Sub monte, unter dem Berg … Das sind wir wahrlich!«
»Ah oui , aber ob Kaiser Barbarossa wirklich hier unten schläft?«, fragte Jerome.
Giovanni lächelte. »Das halte ich für eine hübsche Sage. Vielleicht ist dieser Gang auch einfach ein Fluchttunnel. Sowas gibt es auf Burgen immer wieder. Bei einer längeren Belagerung muss es möglich sein, die Burg auch wieder zu verlassen, bevor man verhungert. Diese Tunnel führen manchmal sehr weit, ihre Zugänge sind gut verborgen.«
Die Plattform fuhr wieder nach oben und brachte nach einiger Zeit Paulus, wobei das Seil verdächtig laut quietschte. Zu fünft betraten sie mit den Fackeln den Gang, der auf schlüpfrigen Stufen immer weiter in die Tiefe führte. Der Tunnel war zunächst gemauert, doch schon nach kurzer Zeit ging er in einen natürlichen Felsengang über.
Schließlich standen sie in einer Höhle, die so groß war, dass sie sie mit ihren Fackeln nicht ausleuchten konnten. Im Zwielicht erkannte Lukas Halden mit losem Gestein sowie Felsvorsprünge, die wie die spitzen Zähne eines Drachen von der Decke hingen.
»Ich mag gar nicht daran denken, wie viele Tonnen Fels über uns liegen.«, bemerkte Paulus und sah vorsichtig nach oben. »Ein ganzer Berg! Hoffen wir, dass er nicht über uns einstürzt.«
Sie durchwanderten die große Höhle, bis sie nach einer Weile auf einen unterirdischen See stießen. Schwarz glänzte das Wasser im Licht ihrer Fackeln.
»Brr! Was da wohl drin lauert?« Gwendolyn rückte näher an Lukas heran, was ihm nicht unangenehm war. Von früheren Abenteuern her wusste er, dass Gwendolyn zwar den Mut einer Löwin hatte, sich aber vor Fröschen und anderen glitschigen Wasserwesen grauste.
»He, schaut mal!«, rief Jerome. »Was ist das?«
An Rande des Sees war ein steinerner Tisch zu sehen. Darauf lagen ein Totenkopf und die stinkenden Überreste eines Vogels, wohl der Kadaver eines Raben; auch ein paar Knöchelchen und Glassplitter waren zu erkennen. Ein gepanzerter Handschuh befand sich genau in der Mitte des Tisches. Mit Kohle war ein großes Pentagramm auf die Steinplatte gezeichnet.
»Das sieht mir verdammt nach schwarzer Magie aus«, knurrte Paulus und rümpfte dabei die Nase. »Puh, der Vogel stinkt! Der liegt hier wohl schon länger.«
Giovanni griff nach dem Handschuh und untersuchte ihn genauer. Er war aus Eisen geschmiedet und mit Leder und Samt gefüttert.
»Das ist kein einfacher Panzerhandschuh«, sagte Giovanni. »Teile sind aus Silber gefertigt, Ornamente und Figuren sind hineinziseliert. So etwas tragen eigentlich nur Feldherren …«
»Wallenstein!« Lukas nickte aufgeregt. »Hier muss die Beschwörung stattgefunden haben, von der Senno gesprochen hatte. Ihr erinnert euch? Der Zauber, dem Wallenstein zum Opfer fiel. Wir sind Schönborn dicht auf den Fersen! Sicher ist Elsa auch hier irgendwo.«
Giovanni legte den Handschuh zurück auf den Tisch. »Dann sollten wir keine Zeit verlieren.«
Sie durchsuchten weiter die riesige Höhle und stießen gleich auf mehrere Gänge, die tiefer in den Berg hineinführten.
»Welchen sollen wir nehmen?«, fragte Gwendolyn. »Und wie können wir sicherstellen, dass wir uns nicht verirren? Diese Höhle ist wirklich ein einziges großes Labyrinth!«
»Wartet, ich habe eine Idee.« Giovanni eilte zurück zu dem Steintisch und kam mit ein paar Kohlestücken zurück. »Wir markieren unseren Weg. An jeder Abzweigung hinterlassen wir ein Zeichen.«
Sie betraten einen der Gänge, der sich jedoch schnell als Sackgasse herausstellte. Der zweite führte weiter in der Tiefe. Der Felsboden war nass und schlüpfrig, kleine Rinnsale liefen an den Wänden herunter. Nach einiger Zeit sahen die Freunde plötzlich vor sich ein Glühen, das schnell näherkam.
»Was ist das?«, flüsterte Jerome. »Jemand mit einer Fackel? Ein Gefrorener? Dafür bewegt er sich eigentlich zu flink. Schaut eher aus wie eines dieser Irrlichter.«
Mit gezückten Waffen erwarteten sie das fliegende Ding. Es entpuppte sich als leuchtende, etwa kopfgroße Kugel, die sie in Augenhöhe neugierig umschwebte.
»Wer bist denn du?«, fragte Gwendolyn und stupste die Kugel an. Diese wich kurz zurück und begann dann erneut, um die Freunde herumzukreisen.
»Wohl so etwas wie eine magische Laterne«, meinte Giovanni. »Vielleicht kann sie uns den Weg weisen?«
»Oder sie warnt Schönborn«, sagte Lukas, der die Kugel weiterhin argwöhnisch betrachtete. Wie ein kleiner Hund tollte sie um sie herum.
Jerome grinste. »Sieht eher aus, als wäre ihr langweilig.« Er ging ein paar Schritte voraus, und die Kugel folgte ihm. »Ich denke, sie mag mich«, sagte er lachend. »He, kleiner Ball, führe uns durch das Labyrinth! Seht ihr, sie hört auf mich. Brav!«
Tatsächlich schwebte die Leuchtkugel jetzt langsam voraus. Sie leitete sie durch eine Vielzahl weiterer Felsengänge, wobei die Freunde nicht vergaßen, auch immer wieder ihre Markierungen anzubringen. Nach einer Weile kamen sie in einen Bereich, der bewohnter als die vorherigen aussah. Weitere Kugeln schlossen sich der ersten Leuchtkugel an und verbreiteten eine angenehme Wärme. Von den Gängen gingen jetzt einzelne Türen ab.
»Ich vermute, die hat Schönborn erst kürzlich anbringen lassen«, flüsterte Giovanni. »Wir sind jetzt wohl in seinem Zuhause angelangt. Also, Vorsicht!«
Leise und mit gezogenen Klingen betraten sie die einzelnen Räume. Der erste Raum sah auf den ersten Blick aus wie eine gewöhnliche Küche. Es gab eine Feuerstelle in der Mitte, auf der ein Dreibein mit einem großen Kupfertopf stand. Darüber befand sich ein rußiges Abzugsloch in der Felsdecke. Es gab keine Bediensteten, stattdessen rührte ein Kochlöffel ganz allein in einer Rührschüssel, eine Kanne Milch schwebte durch den Raum und ergoss sich in die Schüssel, es folgten ein halbes Dutzend fliegende Eier, die über der Schüssel zerbrachen. Ein Messer schnitt, wie von Geisterhand, auf einem Brett einen Apfel in Scheiben.
»Was das wohl wird?«, fragte Paulus. »Apfelküchlein? Hmmm! Die hat meine Mutter auch immer gemacht. Vielleicht sollten wir eine Weile …«
»Vergiss es«, sagte Lukas, dem einfiel, dass auch Elsa früher für ihr Leben gern Apfelküchlein mit Honig gegessen hatte. »Wir suchen meine Schwester. Ich bin immer sicherer, dass sie hier irgendwo steckt!«
Ihre Suche führte sie in einen weiteren Raum mit einem Dutzend lebender Stoffpuppen, die in ihren kleinen Bettchen standen und am Gitter rüttelten.
»Wo ist Elsa?«, klagte eine immer wieder. Sie hatte große Augen, ihr Kopf wackelte immerzu. »Wo ist Elsa? Elsa soll uns füttern!«
Die anderen Puppen weinten und jammerten, während ein silberner Schwan auf Rädern ratternd durch das Zimmer kreiste. Aus einer Ecke mit vielen flauschigen Samtkissen ertönte der monotone Klang einer Spieluhr. All das vermischte sich zu einem nervtötenden Lärm.
»So wie es aussieht, hat Schönborn seine Tochter gut versorgt!«, rief Gwendolyn gegen das Geschrei der Puppen an. »Apfelküchlein, Puppen, Spielsachen … Alles, was sich ein Kind nur wünschen kann.«
»Und doch ist Elsa das einsamste Kind der Welt«, murmelte Lukas. Mit Grausen betrachtete er die Zauberpuppen, die weiter laut jammerten und nach Elsa riefen. Doch es klang nicht echt. Nichts hier war echt. Es war eine tote Welt, in die der Zauberer seine Tochter gesperrt hatte.
»Warum macht Schönborn das alles?«, fragte Gwendolyn weiter. »Gut, er ist Elsas Vater. Aber ob er sie wirklich liebt? Ob er ihr hier wirklich so etwas wie ein Zuhause bieten will?«
»Ich denke, er will etwas von ihr«, sagte Giovanni. »Elsa ist eine mächtige Magierin, trotz ihrer jungen Jahre. Schönborn will ihre Kräfte für sich nutzen. Dafür muss er sie jedoch erst mal gefügig machen. Das schafft er nicht, wenn er sie in einen finsteren Kerker einsperrt.«
»Das hier ist ein Kerker«, bemerkte Lukas bitter. Ihn grauste beim Anblick all der Puppen und Automaten, die Spieluhr leierte weiter ihr Lied. »Vielleicht ein goldener Kerker, aber es bleibt ein Kerker.«
Sie ließen das unheimliche Spielzimmer hinter sich und durchwanderten weiter die vielen Gänge und Räume. Schließlich kamen sie in eine riesige Bibliothek. Noch nie hatte Lukas etwas Vergleichbares gesehen. Dutzende Leuchtkugeln schwebten hin und her und auf und nieder, trotzdem gelang es ihnen nicht, den Raum ganz auszuleuchten. Er schien so groß wie ein Dom zu sein, an den Felswänden verliefen Regale, die sich in der Unendlichkeit verloren. Leitern und fahrbare Holzstiege führten in die Höhe zu Galerien, wo weitere Buchregale zu sehen waren.
»Schönborns Bibliothek!«, sagte Giovanni andächtig. Er streckte den Hals, um all die Regale in Augenschein zu nehmen. »Himmel, sind das viele Bücher! Viel mehr als in jedem Kloster, vermutlich sogar mehr als in der vatikanischen Bibliothek.« Er ging auf eines der unteren Regale zu und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken. »Ich denke, wenn ich ein paar davon mitnehme …«
»Denk nicht mal dran!«, brummte Paulus. »Ich habe keine Apfelküchlein bekommen, also bekommst du auch keine Bücher.«
Lukas war in der Zwischenzeit an einen langen Holztisch getreten, der in der Mitte der Bibliothek stand. Darauf lagen einige dicke aufgeschlagene Wälzer. Lukas erkannte, dass es sich wohl um Zauberbücher handelte. Einige Einbände waren mit Knochensplittern verziert, andere mit schweren Vorhängeschlössern gesichert. Wieder andere enthielten Münder, deren Lippen sich flüsternd bewegten. Ein paar beschriebene Pergamente lagen neben den Folianten. Lukas warf einen Blick darauf …
Und erstarrte.
Er erkannte Elsas kindliche Handschrift darauf.
Offenbar hatte Elsa auf den Seiten ein paar Zaubersprüche notiert, außerdem einige lateinische Wörter. Manche davon waren durchgestrichen und mit einer anderen Handschrift verbessert worden.
»Schönborn betrachtet Elsa wohl als seine Schülerin«, sagte Lukas. »Hier in der unterirdischen Bibliothek haben sie Magie und Latein gepaukt.«
Zusätzlich zu den Leuchtkugeln standen auch einige brennende Kerzen auf dem Tisch.
»Kerzen in einer Bibliothek sind eine gefährliche Sache«, bemerkte Giovanni. »Diese hier sind noch nicht weit heruntergebrannt. Ich denke, jemand war bis vor kurzem noch hier und hat in aller Eile vergessen, sie auszupusten.«
»Dann muss Elsa also irgendwo hier in der Nähe sein!«, sagte Lukas aufgeregt. »Nur wo?« Er sah hinauf zu den Leuchtkugeln. »Wenn diese Dinger nur reden könnten!«
Die Sehnsucht nach seiner Schwester war mit einem Mal so stark, dass sie ihn beinahe schmerzte. Elsa war noch kürzlich hier gewesen! Und sie hatte sich sicher furchtbar allein gefühlt, trotz all der Puppen, Leuchtkugeln und Automaten. Lukas dachte an ihre letzte Begegnung im Harz. Elsa war zwar einerseits voller Hass auf ihn gewesen, aber sie war ihm auch sehr klein und zerbrechlich vorgekommen. Ohne Gedächtnis, ohne Erinnerungen an sie liebende Menschen … Tränen stiegen Lukas in die Augen.
Wo bist du Elsa …? Wo?
Plötzlich geschah etwas Seltsames. Eine der Leuchtkugeln schwebte von weit oben zu ihm herab, wie ein Stern, der vom Himmel fällt. Die Kugel umkreiste Lukas ein paar Mal, stupste ihn auffordernd an, dann flog sie auf den Gang zu und kam wieder zu ihm zurück.
»Was soll das?«, fragte Gwendolyn stirnrunzelnd. »Sieht fast so aus, als wollte sie dir irgendwas zeigen.«
Wieder flog die Kugel voraus. Diesmal folgte ihr Lukas.
»Kommt!«, rief er den anderen nach. »Ich weiß nicht, wieso. Aber ich glaube wirklich, dass diese Kugel uns zu Elsa führt.«
»Wollen wir hoffen, dass du recht hast«, sagte Jerome. »Wenn wir Pech haben, laufen wir stattdessen Schönborn direkt in die Arme.«
»Das Risiko nehme ich auf mich«, erwiderte Lukas. »Meine Schwester ist hier irgendwo! Und ich werde sie finden!«
Dann rannte er den Gang entlang, während die Kugel vor ihm schneller und schneller wurde.
Die Leuchtkugel führte die Freunde immer weiter in die Tiefe, an etlichen Abzweigungen vorbei. Sie flog so schnell, dass Lukas Mühe hatte, ihr zu folgen. Sein Herz raste vor Anstrengung, aber auch vor Aufregung, dass er seiner Schwester vielleicht schon bald wieder gegenüberstehen würde. Würde Elsa ihn immer noch hassen und ihn vernichten wollen? Was sollte er dann tun?
Mittlerweile hatten sie den bewohnten Bereich der Katakomben wieder hinter sich gelassen. Sie trafen auf keine Wachen. Dafür stieg Lukas ein merkwürdiger Geruch in die Nase. Es roch nach Stall und Raubtier.
Nach Wolf …
Er verlangsamte seine Schritte, auch die Kugel bremste plötzlich ab. Schließlich schwebte sie vor einem Gitter, dem sich Lukas vorsichtig näherte. Aus dem Raum dahinter klang ein bösartiges Knurren.
»Mon dieu , das sind die weißen Wölfe!«, flüsterte Jerome, der mit den anderen hinter Lukas stehengeblieben war. »Dieses Knurren vergesse ich nicht so schnell.«
Lukas spähte durch das Gitter, das von außen mit einem Riegel gesichert war. Tatsächlich, in dem Zwinger kauerten drei große weiße Wölfe! Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass der größte von ihnen leblos auf dem Boden lag, vermutlich war er tot. Die zwei anderen knurrten und fletschten ihre Zähne, doch sie wirkten eher ängstlich, wie Hunde, die man geschlagen hatte. Noch immer schwebte die Leuchtkugel vor dem Zwinger. Lukas fragte sich, warum sie ihn gerade hierhergebracht hatte. Elsa war nirgendwo zu entdecken.
Eine unendliche Enttäuschung machte sich in ihm breit. Er hatte so sehr gehofft, seine Schwester hier zu finden! Die Prophezeiung auf Merlins Zauberpergament hatte ihn hierhergeführt, unter den Kyffhäuser, doch Elsa blieb weiterhin verschwunden.
Die Kugel stupste ihn auffordernd an, dann flog sie zwischen den Gitterstäben hindurch und auf die noch lebenden Wölfe zu. Diese winselten, trotz ihrer Größe klang es nicht gefährlich, sondern eher wie das Weinen kleiner Kinder. Sie trauerten um ihren dritten Weggefährten, der vermutlich ihr Anführer gewesen war.
Und plötzlich verstand Lukas.
Elsa war zwar nicht hier, doch diese Wölfe konnten ihm sagen, was geschehen war. Deshalb hatte die Kugel ihn hierhergeführt!
Er zögerte nur kurz, dann ging seine Hand zum Riegel.
»Nicht!«, rief Giovanni. »Du willst doch nicht etwa da rein, zu diesen Monstern?«
»Ich muss«, sagte Lukas bestimmt. »Nur die Wölfe können mir sagen, was mit Elsa geschehen ist.«
»Sie werden dich zerfleischen«, meinte Gwendolyn. »Das hilft weder dir noch deiner Schwester.«
»Das werden sie nicht tun. Ich weiß jetzt, warum die Kugel uns hierher gelotst hat. Sie hat gespürt, dass es zwischen Elsa und mir eine Verbindung gibt. Und das werden die Wölfe ebenso spüren.«
Lukas klang selbstsicherer, als er sich fühlte. Er schob den Riegel zur Seite und öffnete die Tür einen Spalt weit. Hinter sich hörte er das Klirren von Waffen.
»Lasst eure Degen stecken!«, wandte er sich warnend an die Freunde.
Er selbst legte seinen Degen am Eingang des Zwingers ab und betrat den niedrigen stinkenden Raum. Die Kugel folgte ihm. Im magischen Schein sah Lukas etwas am Boden glitzern, er beugte sich hinunter und nahm es vorsichtig in die Hand. Sein Herz klopfte, als er sah, was es war.
Das Amulett!
Es war schmutzig und zerkratzt, doch das Bild der Mutter war noch gut zu erkennen. Elsa war also tatsächlich hier gewesen. Doch was war dann geschehen?
Die beiden weißen Wölfe knurrten, doch sie griffen ihn nicht an. Lukas hob die Hände über den Kopf, als Zeichen seiner Wehrlosigkeit.
»Ich bin nicht gekommen, um zu kämpfen«, sagte er. »Es ist schon genug Blut geflossen.«
Er trat näher. Nun erst sah er, dass der große Wolf doch nicht tot war. Sein pelziger Brustkorb hob und senkte sich fast unmerklich. Ein schwarzes Loch war auf der Brust zu erkennen, als hätte ihn dort etwas mit tödlicher Wucht getroffen.
Magie , dachte Lukas. Das muss Schönborn gewesen sein!
Ohne zu wissen, was er eigentlich genau machte, kniete er sich vor dem großen Wolf nieder. Er legte die Hand auf dessen Brustkorb und schloss die Augen.
»Was soll das werden, Lukas?«, zischte Gwendolyn. »Ein Gebet wird das Biest wohl kaum retten …« Dann hellte sich ihre Miene auf. »Du nutzt deine magischen Kräfte! Natürlich, du machst das Gleiche, was du damals bei mir in Prag gemacht hast! Aber warum …?«
In Prag war Gwendolyn nach einem Sturz tödlich verletzt gewesen. Lukas hatte sie geheilt. Er hatte gelernt, dass er nur dann zaubern konnte, wenn er Liebe verspürte. Zwar empfand er keine Liebe zu dem großen weißen Wolf, aber er spürte, dass Elsa das Tier über alles liebte. Diese Liebe übertrug sich nun auf ihn. Seine Hand wurde wärmer und wärmer, ein Zittern ging durch den Körper des Wolfs. Plötzlich schlug das Tier die Augen auf.
Wolfstöter! , hörte Lukas eine Stimme in seinem Kopf. Du bist hier … Warum …?
Mit der gleichen Stimme hatte der andere Wolf zu ihm im Lager der Harzschützen gesprochen. Offenbar konnte Lukas auf diese Weise mit den großen Tieren kommunizieren. Vermutlich hatte auch Elsa sich auf diese Weise mit den Wölfen verständigt.
»Ich bin hier, um dir zu helfen«, flüsterte er. Der Name des Wolfs tauchte deutlich vor Lukas’ innerem Auge auf.
Greif.
Ihr habt meine Brüder getötet , sagte Greif. Lupus, Fang, Blitz …
»Aber nur, weil ihr uns angegriffen hattet«, erwiderte Lukas leise. »Ich wollte nie gegen euch kämpfen. Ich wollte …«
»Mit wem, zum Teufel, spricht Lukas denn da?«, meldete sich Paulus von außerhalb des Zwingers. »Doch nicht etwa mit diesem Monstrum?«
»Psst!«, zischte Giovanni. »Lass ihn machen. Das ist Magie, davon verstehst du Brummbär nichts.«
Währenddessen floss ein steter Energiestrom weiter von Lukas’ Händen in den Wolf. Das schwarze Loch in dessen Brust wurde kleiner und kleiner.
Warum tust du das?, fragte Greif.
»Ich bin nicht dein Feind«, wiederholte Lukas leise. »Und ich bin auch nicht der Feind deiner Meisterin. Ich bin ihr Bruder, und ich suche sie. Ich will sie aus der Gewalt des bösen Zauberers befreien. Er ist unser gemeinsamer Feind! Weißt du, wo meine Schwester ist?«
Der Zauberer hat sie mitgenommen. Hat sie verzaubert und entführt. Er hat ein mächtiges Buch.
»Das Grimorium!«, hauchte Lukas. Das war zu befürchten gewesen. Das Zauberbuch war nun tatsächlich in Schönborns Hände gelangt.
Greifs Brustkorb bebte.
Ich konnte nichts für sie tun …
Die Stimme des großen Wolfs klang brüchig, fast so, als würde er weinen.
»Wo ist er mit ihr hingegangen?«, fragte Lukas erneut.
Ich weiß es nicht, Wolfstöter. Vielleicht ist er immer noch hier …
In diesem Moment erklangen Schritte vom Gang her.
»Da kommt jemand!«, flüsterte Jerome. »Wer mag das sein?«
Lukas hielt den Atem an, die Ohren der drei Wölfe stellten sich auf, während die Freunde erneut zu ihren Waffen griffen.
Die Schritte kamen näher.
Im Licht der magischen Leuchtkugel tauchte im Gang ein großer langer Schatten auf.