D as Einhorn trabte voraus, durch den verkrüppelten Wald, während die Sonne hinter den Bäumen langsam unterging. Die Schatten wurden länger und länger, und noch immer hörte Lukas aus der Ferne das furchtbare Schreien, Brüllen und Kichern. Schließlich lichtete sich der Wald wieder, vor ihnen lag ein weites Hochmoor. Kleine Lichter huschten umher, verschwanden hinter den Weiden und flirrten durch die Heide. Etwas wisperte und zischte, ganz so, als würden sich unsichtbare Zwerge miteinander unterhalten.
»Sind das Irrlichter?«, wollte Gwendolyn wissen. »Ich dachte, die sind böse. Als wir mit den Harzschützen unterwegs waren, wollten sie uns schon einmal in ein Moor locken.«
Polidorius blieb schnaubend stehen. »Keine Sorge, diese hier sind auf unserer Seite. Sie sind unsere Wächter.«
»Und was bewachen sie?«, fragte Lukas.
»Du Dummkopf!« Das Einhorn lachte. »Natürlich unser Lager. Was sonst?«
»Aber ich kann kein Lager entdecken«, sagte Paulus. »Nur ein ödes Moor und …«
In diesem Moment stieß Polidorius ein ohrenbetäubend lautes Wiehern aus. Lukas vermutete, dass es im ganzen Harz zu hören sein musste. Im gleichen Augenblick veränderte sich die Landschaft. Statt des Moores zeigte sich nun plötzlich fester, grasbewachsener Grund. Darauf standen dutzende Zelte, Hütten und schiefe Häuschen. Zwischen den Gebäuden bewegten sich die seltsamsten Gestalten, die Lukas je gesehen hatte. Es gab Wichtel mit Kapuzen, nicht größer als eine Handspanne, aber auch riesige Baumtrolle mit Gesichtern aus borkiger Rinde sowie alte bucklige Frauen, die völlig mit Moos bedeckt waren. In einem Holzzuber schwammen zwei kichernde Wassernixen, drei verhutzelte Weiblein saßen daneben auf einer krummen Weide, schnatterten und banden Kräuter zu Sträußen.
Lukas blieb der Mund vor Staunen offenstehen, auch die anderen schwiegen, ganz verzaubert von dem, was sie da sahen.
»Passt auf, wo ihr hintretet«, sagte Polidorius und trabte voraus. »Manche unserer Mitstreiter sind sehr klein.«
Ein Hase mit Geweih hoppelte an ihnen vorbei, gefolgt von einem winzigen Männchen, das aussah wie eine Wurzel auf zwei Beinen. Ein paar Zwerge zerrten an einem Sack Goldmünzen, bis dieser aufplatzte und seinen glitzernden Inhalt freigab. Die kleinen Kerle schimpften und machten sich daran, die Münzen wieder einzusammeln.
»Das Lager der Fabelwesen!«, hauchte Lukas. »Durch Magie verborgen, wie die Burg auf dem Kyffhäuser. Das … das ist wie im Märchen …«
»Nun, was du Märchen nennst, sind im Grunde uralte Geschichten, seit Generationen weitergegeben«, erklärte Merlin lächelnd. »Und Geschichten haben eben immer einen wahren Kern.«
Lukas deutete auf die schimpfenden Zwerge vor ihnen. »Das sind doch diese Nickel, die mir im Harz das Leben schwergemacht haben! Ich fand sie nicht sonderlich nett. Was also machen sie hier im Lager der Weißen …?«
»Seid ihr immer gut?« Das Einhorn Polidorius drehte sich zu den Freunden um. »Bei uns Fabelwesen ist es wie mit den Menschen. Es gibt gute und böse, aber die meisten sind irgendetwas dazwischen. Die Nickel haben sich entschieden, auf unserer Seite zu kämpfen. Sie mögen es nicht, dass Schönborn überall im Harz nach Erz graben lässt.« Er deutete auf die baumlangen Gestalten und die mit Moos bedeckten Frauen. »Die Baumtrolle und die Moosweiblein mussten mit ansehen, wie die Gefrorenen ihre Brüder und Schwestern fällten. Und die Nixen dort hinten im Zuber haben uns berichtet, dass die schmutzige Eisenschlacke ihre Teiche vergiftet. Jeder hat seinen ganz eigenen Grund, gegen den Schwarzmagier zu kämpfen.«
Währenddessen gingen sie weiter durch das märchenhafte Lager. Es war Nacht geworden, kalter Nebel zog auf und erschwerte zusätzlich die Sicht. Dafür brannten überall Fackeln und kleine Feuer, außerdem huschten die Irrlichter an den Außenbereichen des Lagers umher.
Lukas erkannte, dass jedes Fabelwesen auf seine eigene Art untergebracht war. In den winzigen Hütten wohnten die Wichtel, die Moosweiblein hatten sich mit Laub gedeckte Katen gebaut, die Riesen schliefen unter Steintischen, deren Felsen sie selbst mitgebracht hatten, die Nixen in ihren Zubern; die Nickel wiederum hatten ein Loch in den Boden gegraben und mit einem Steinkreis markiert, ganz so, wie sie es von ihrer Heimat her kannten.
In der Mitte des Lagers stand ein riesiges Zelt. Es war strahlend weiß, sodass es in der Finsternis zu leuchten schien.
»Der Weiße Rat ist nun vollständig«, sagte Polidorius. »Alles ist vorbereitet, Merlin. Ich hoffe, du bringst gute Neuigkeiten.«
»Nun, gute und schlechte«, erwiderte Merlin. Er stieg von Zahn ab. »Die Wölfe bleiben draußen. Sie werden dafür sorgen, dass wir keinen unangekündigten Besuch bekommen. Nicht wahr, Greif?«
Greif und die beiden anderen weißen Wölfe knurrten zustimmend und ließen sich vor dem Zelt nieder.
Als sie ins Innere traten, sah Lukas nun auch, warum das Zelt so riesig war. In einem Halbkreis standen Stühle, auf denen vier Wesen in unterschiedlichster Größe saßen. Es gab einen Wichtel mit Zipfelmütze, dem ein zierlicher Hocker genügte, daneben saß ein riesiger Baumtroll auf einem hölzernen Schemel, ein leibhaftiger Riese mit langem roten Bart, wie der von Kaiser Barbarossa, lungerte breitbeinig auf einem steinernen Thron. Die alte Frau in dem Stuhl an seiner Seite kannte Lukas.
»Mama Toda!«, rief er erfreut aus. In ihrem faltigen Gesicht erschien ein Lächeln.
»Guter Junge! Du siehst nicht mehr so blass aus. Mama Todas Eintöpfe haben dir also gutgetan.«
»O ja!« Lukas lachte. »Die Zeit bei Euch werde ich nie vergessen.« Er zögerte. »Auch wenn ich mich, ehrlich gesagt, nicht an vieles erinnern kann wegen des Fiebers.«
»Wir alle sind Mama Toda dankbar, dass sie dich im Wald gefunden und gerettet hat«, sagte Merlin. »Sie hat ihr Volk, die Tatern, mitgebracht. Ich denke, wir werden ihre Hilfe noch benötigen. Ebenso wie die deine, Lukas«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. Er nickte den anderen Anwesenden zu, die wohl so etwas wie die Feldwebel ihrer sonderbaren Armee waren. »Farntreu, Bombus, Flix, was habt ihr zu berichten?«
Der lange Baumtroll namens Farntreu gab ein ächzendes Geräusch von sich, während er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Sein Kopf stieß fast am Zeltdach an. »Wir sind deinen Anweisungen gefolgt, weiser Merlin. Ich konnte nicht alle meine Leute überzeugen, doch die meisten.« Er stöhnte. »Die verfluchten Gefrorenen haben im Westharz böse gehaust und ganze Wälder abgeholzt. Das können wir nicht länger zulassen!«
»Im Ostharz sind sie ebenso eine Plage«, ertönte der brummige Bass des rotbärtigen Riesen Bombus. »Leider haben sich viele meiner Brüder der schwarzen Macht angeschlossen, doch es gibt auch Bergriesen, die auf der weißen Seite stehen.« Er presste seine Faust zusammen, und es gab ein knirschendes Geräusch. »Wir sind gierig darauf, in die Schlacht zu ziehen!«
»Und wir ebenso«, wisperte der kleine Wichtel, der offenbar Flix hieß. Er rutschte unruhig auf seinem Hocker hin und her, das kleine verhutzelte Gesicht zornrot. »Wir Hausgeister brauchen die Menschen und ihre Häuser! Der große Krieg hat schon seit langem dafür gesorgt, dass im Harz immer weniger Menschen wohnen. Nun fliehen mehr und mehr! Wer legt uns Milch und Brot auf die Türschwelle? Wem sollen wir noch Streiche spielen oder mit einem Schatz belohnen, wenn keiner mehr im Harz lebt?«
Das Einhorn Polidorius trat in die Mitte des Stuhlkreises und wandte sich an Merlin. »In deiner Abwesenheit, Merlin, haben wir Fabelwesen uns hier im Moor unter dem Brocken versammelt. Aber auch die schwarze Macht hat ihre Kräfte gebündelt! Schönborns Unholde lagern oben auf dem Gipfelplateau, vor einer Stunde sind wohl auch die Gefrorenen und der Zauberer selbst hinzugestoßen. Bis hier herunter kann man ihr Triumphgeheul hören. Sie sind sich ihrer Sache wohl sehr sicher. Gerade eben wurde das Heulen noch lauter.«
»Vielleicht ist es auch Wutgeheul«, meinte Merlin. »Schönborns Burg auf dem Kyffhäuser ist nämlich zerstört. Das ist die gute Nachricht, die ich bringe.«
»Und die schlechte?«, fragte Polidorius,
»Schönborns Armee ist größer geworden, auch etliche Harzschützen sind zu ihm übergelaufen, als Gefrorene. Aber das ist nicht das Schlimmste …« Merlin seufzte. »Schönborn hat das Grimorium Nocturnum.«
»Das Grimorium ist in der Hand des bösen Zauberers?« Mama Toda schüttelte den Kopf, und die anderen murmelten und zischten aufgeregt. »Das ist nicht gut. Gar nicht gut.« Die alte Frau sah Lukas an. »Ich habe dir gesagt, dass das Buch böse ist. Ich hätte es verbrennen sollen! Aber ich habe es nicht gewagt, das Grimorium ist überaus mächtig, ich hatte Angst vor den Folgen …«
»Hat der Junge selbst dem Zauberer das Buch gegeben?«, grollte der Bergriese Bombus.
»Lukas kann nichts dafür«, sagte Merlin. »Aber das ist nicht die einzige schlechte Nachricht, die ich habe. Ich fürchte, dass Schönborn über ein sehr mächtiges Opfer verfügt.«
Er erzählte den anderen von Elsa und Schönborns möglichen neuen Plänen. »Ich denke, er will seine eigene Tochter dem Teufel opfern«, endete Merlin. »Zusammen mit der Macht des Buches sollte das genügen, um die höllischen Heerscharen zu beschwören. Wenn sie erstmal aus dem Brocken gekrochen kommen, gibt es keine Hoffnung mehr. Das gilt für das Deutsche Reich und auch für viele andere Länder.«
»Dann müssen wir sofort angreifen!«, meinte Polidorius und scharrte mit den Hufen. »Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
»Wie lange noch?«, fragte Lukas, dem die Angst um seine Schwester die Kehle zuschnürte.
»Ich vermute, bis morgen Nacht«, sagte Giovanni und trat neben Lukas. Er sah in die Runde. »Habe ich recht? Morgen Nacht wird Schönborn die Heerscharen der Hölle beschwören.«
Die Mitglieder des Weißen Rats schwiegen, schließlich nickte Mama Toda.
»Das stimmt, Junge. Dann weißt du also auch, was für eine unheilvolle Nacht das ist?«
»Die Walpurgisnacht«, antwortete Giovanni. »Ich hab es mir schon gedacht, als Merlin heute ständig zur Eile drängte. Es ist die Nacht auf den 1. Mai, und die ist morgen. Es heißt, dass in dieser Nacht das Böse über das Land kommt. Der Teufel erscheint den Menschen als großer Ziegenbock, Hexen fliegen auf ihren Besen um die Berggipfel …«
»Wie ich schon öfter gesagt habe, das mit den fliegenden Hexen ist Blödsinn«, sagte Merlin. »Aber der Rest stimmt. Gerade hier auf dem Brocken ist das Böse dann besonders stark. In den alten Zeiten verbrannte man in Weidenkörben sogar Menschen, um sie dem Teufel zu opfern …«
»Und das hat Schönborn mit meiner Schwester vor?«, fragte Lukas entsetzt. »Ich werde niemals zulassen, dass …«
»Nur die Ruhe, Junge«, besänftigte ihn Merlin. »Wir wissen nicht genau, was Schönborn plant. Wir wissen nur, dass die Beschwörung morgen in der Walpurgisnacht stattfinden wird. Und er hat das Grimorium.«
»Dann nehmen wir es ihm halt wieder weg«, knurrte Paulus. Er zog seinen Palasch aus der Scheide. »Oder noch besser, ich zerreiße es in tausend Fetzen.«
»Das geht nicht so einfach«, sagte Polidorius. »Auch Schönborns Armee hat ihr Heerlager durch Magie gut verborgen. Und selbst wenn ihr es ins Lager auf dem Brocken schafft und an all den Wachen vorbei … Das Buch gehört jetzt Schönborn. Er ist der Träger …«
»Nun, das ist nicht gesagt«, entgegnete Merlin. »Ich kenne das Grimorium vermutlich so gut wie kein Zweiter, schließlich hat es mein Lehrmeister Taliesin einst geschrieben. Das Buch sucht sich selbst seinen Träger. Zuletzt war das Lukas.« Er drehte sich zu Lukas um. »Ich denke, wenn es jemanden gibt, der dieses Buch wieder von Schönborn zurückholen kann, dann bist es du, mein Junge.«
Lukas spürte, wie die Blicke von Mama Toda und den Fabelwesen auf ihn gerichtet waren. Er schluckte schwer, dann nickte er.
»Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, meiner Schwester zu helfen, werde ich es tun«, sagte er.
»Ihr wollt Lukas allein in Schönborns Lager schicken?«, empörte sich Giovanni. »Das ist Wahnsinn! Gerade eben habt ihr doch noch selbst gesagt, dass es gut bewacht ist.«
»Ein Einzelner könnte es vielleicht schaffen«, sagte Merlin. »Das Problem ist nur, dass Schönborn das Verschwinden des Buches vermutlich schnell bemerken würde. Wir müssten ihm eine Fälschung unterschieben.«
»Aber die würde er doch sofort erkennen«, gab Gwendolyn zu bedenken. »Er ist ein Zauberer, kein Bauer, der nicht lesen kann. Der lässt sich doch nicht so einfach täuschen.«
»Man müsste ihn ablenken«, sagte Merlin. »Er darf überhaupt keine Zeit haben, sich länger mit dem Buch zu beschäftigen. Das gelingt am besten kurz vor der Beschwörung. Und zwar dann, wenn genau in diesem Moment unser Angriff erfolgt.«
»Ah, jetzt verstehe ich.« Der Riese Bombus nickte. »Unser Angriff soll Schönborn nur ablenken. Ein höchst wagemutiger Plan …«
Merlin hob die Hand. Er wandte sich an Polidorius. »Seien wir ehrlich, General. Unsere Truppen allein können den Sieg nicht erringen. Schönborn hat die Gefrorenen, und er verfügt über eine größere Anzahl an Fabelwesen. Ich habe selbst einige von ihnen gesehen. Die Riesen, die Nachtgiger, die Werwölfe … Gegen sie alle zusammen sind wir machtlos. Unsere einzige Möglichkeit, die Beschwörung zu verhindern, ist Lukas. Er soll das Buch an sich bringen. Ohne das Buch habe ich die Möglichkeit, Schönborn in einem Kampf der Magier zu besiegen. Das funktioniert allerdings nicht, wenn er das Grimorium besitzt.«
»Und was ist mit Elsa?«, wollte Lukas wissen. »Ihr sprecht hier von großen Taten und Schlachten. Aber was ist mit meiner Schwester? Können wir ihr helfen? Schließlich ist sie der Grund, warum ich mich überhaupt auf diese gefährliche Reise begeben habe.«
»Ich weiß nicht, was Schönborn genau mit ihr vorhat«, sagte Merlin. »Aber ich schwöre dir, Lukas: Ich werde alles tun, um deine Schwester zu befreien.«
Lukas zögerte nur kurz, dann nickte er. »Also gut. Ich werde euer Dieb sein. Dieses verdammte Buch ist wohl mein Schicksal! Was genau hast du vor, Merlin?«
»Hört gut zu«, flüsterte Merlin. »Wir werden einen mächtigen Zauber weben.«
Dann erklärte er dem Weißen Rat seinen Plan.