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A ls Lukas mit seinen Freunden etwa eine Stunde später das Zelt verließ, brummte ihm der Schädel. Sie hatten sich gemeinsam über Karten gebeugt, die Truppenbewegungen des Feindes studiert, mögliche Kampfverläufe diskutiert …

Merlins Plan war äußerst heikel, aber er könnte funktionieren.

Allerdings nur, wenn Lukas mitspielte und Merlins Zauber klappte.

»Du kannst immer noch nein sagen«, meinte Giovanni. »Keiner würde es dir übelnehmen, vor allem wir nicht.«

Lukas schüttelte den Kopf. »Es ist unsere einzige Möglichkeit. Ich tue es für Elsa. Aber auch für all die märchenhaften Kreaturen hier.« Er deutete auf ein paar große Nachtfalter, die um eine brennende Fackel flatterten. Wer genau hinsah, erkannte, dass es sich um winzige Elfen mit noch winzigeren Harfen handelte. Zwei Zwerge hasteten mit ihren Schaufeln an Lukas vorbei, gefolgt von einer schönen Frau mit langem grünem Haar und einem Kleid ganz aus Buchenblättern.

»Der Harz ist ihrer aller Heimat«, fuhr Lukas fort. »Und es ist auch die Heimat der Geschichten. Als Merlin vorhin im Rat gesprochen hat, ist mir eines klargeworden: Wir Menschen brauchen Geschichten! Wenn sie mit den Fabelwesen aussterben, wird es öd und leer auf der Welt. Das will Schönborn erreichen: eine Welt ohne Geschichten, in der nur noch Waffen und Geld regieren. Das dürfen wir niemals zulassen!«

»Gut gesprochen, mein Krieger.« Gwendolyn nickte anerkennend. »Du musst wirklich mal mit mir nach Wales kommen. Da wimmelt es nur so von Geschichten. Sie wachsen dort sozusagen auf den Bäumen.«

»Wenn das alles vorbei ist, komme ich gerne mit dir nach Wales. Also, ich meine, nicht für immer, aber …« Lukas spürte, dass er rot wurde, und er brach ab.

Paulus lachte. »He, hört mal unseren Schwerenöter an! Der macht ja selbst Jerome Konkurrenz.«

»Jerome …« Lukas runzelte die Stirn, er hatte seinen französischen Freund tatsächlich kurz vergessen. »Ob es ihm wohl gutgeht? Er müsste doch längst hier sein.«

»Vergiss nicht, er hat keinen weißen Wolf, auf dem er hierher reiten kann«, sagte Giovanni. »Und er ist mit den befreiten Harzschützen unterwegs. Das dauert einfach. Mach dir keine Sorgen, er wird schon noch zu uns stoßen.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, murmelte Lukas. Er gähnte. Erst jetzt spürte er, wie müde er war.

Sie gingen zu dem Zelt, das Merlin ihnen zugewiesen hatte. Schon bald war Lukas eingeschlafen. Das Letzte, was er hörte, war das Wispern der Nickel irgendwo in der Nähe, und von fern das böse Kichern und Schreien, das vom Brocken zu ihnen herüberdrang.

Den ganzen nächsten Tag brachten die Freunde mit Vorbereitungen zu. Polidorius hatte sie verschiedenen Truppenteilen zugeteilt, wo sie die meist ungeübten Fabelwesen in verschiedenen Kampftechniken unterweisen sollten. Gwendolyn zeigte den Moosfrauen, wie sie aus Weidenästen Bögen schnitzen konnten. Paulus half Bombus und seinen Riesen beim Sammeln von Felsen als Wurfgeschosse; Giovanni kümmerte sich derweil darum, die stets durcheinanderplappernden Wichtel und Nickel auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören.

»Sie sind wie kleine Kinder!«, stöhnte er während ihrer kurzen Mittagsrast. »Eigentlich noch schlimmer. Kaum schaust du mal kurz nicht hin, balgen sie schon wieder miteinander oder hecken irgendeinen Streich aus. Und wenn man nicht aufpasst, tritt man schnell einem von ihnen auf den Bart.«

»Ich denke, sie werden sich schon zusammenreißen, wenn es gegen Schönborn geht«, erwiderte Gwendolyn und nippte an einer dampfenden Tasse kräftigender Brühe, die die Kräuterweiblein zubereitet hatten. »Meine Moosfrauen stellen sich nicht dumm an. Allerdings haben sie noch nie auf jemanden geschossen. Für so eine Schlacht sind sie eigentlich viel zu friedlich.«

»Wir sind eben die Guten«, brummte Paulus. »Böse Fabelwesen sind da klar im Vorteil.«

Jerome war immer noch nicht aufgetaucht, und Lukas begann, sich mehr und mehr Sorgen zu machen. Als Einziger der Freunde hatte er keine feste Aufgabe im Lager. Er half Polidorius ein wenig dabei, Waffen auszuteilen, sprach hier und dort Mut zu, schlichtete einen Streit zwischen Zwergen und Blütenelfen … Ansonsten wartete er darauf, dass Merlin ihn zu sich ins Zelt rief, um den Zauber, den sie beschlossen hatten, endlich beginnen zu lassen.

Die ganze Zeit über war vom Brocken her das schrille Kreischen ihrer Feinde zu hören, zusätzlich hatte nun eine Pauke eingesetzt, die dumpf und regelmäßig vom Gipfel hallte.

Schließlich war die Stunde der Wahrheit gekommen. Greif kam auf Lukas zu und stupste ihn mit der Schnauze an.

Es ist soweit, Wolfstöter. Merlin will dich sehen.

Lukas folgte Greif zu Merlins Zelt, das ein wenig abseits des Lagers stand. Die beiden anderen Wölfe Zahn und Klaue lagen davor wie müde Hunde. Doch ihre Augen blitzten überaus wachsam. Kein Spion, kein Meuchler hätte sich an ihnen vorbeischleichen können. Lukas befürchtete, dass Schönborns Zelt im feindlichen Lager ebenso gut bewacht war.

Nun, er würde es bald herausfinden.

Merlin erwartete ihn bereits. Der Magier stand an einem Tisch, wo er eben mit einem Fläschlein hantierte. Daneben lag ein unscheinbares, in Leder gebundenes Buch, das Lukas sehr vertraut vorkam.

»Das Grimorium!«, rief Lukas aus. »Aber wieso …«

Er hielt inne, als er Merlins Lächeln sah. »Es ist nur eine Fälschung, nicht wahr?«

Merlin nickte. »Aber offenbar ist sie mir ganz gut gelungen. Wir können von Glück reden, dass das Grimorium Nocturnum so ein schlichtes Werk ist. Ich mag mir gar nicht vorstellen, dass ich das Liber Cantiones hätte fälschen müssen. Allein die mit Edelsteinen verzierten Goldspangen hätten mich in den Wahnsinn getrieben! Schwieriger war allerdings der Inhalt, er hat mich Stunden gekostet.« Merlin blätterte durch die vielen beschriebenen Seiten. »Ich habe etliche Zaubersprüche notiert, aber ich kann nicht alle auswendig. Es ist also viel Unsinn dabei, sicher habe ich mich auch an der einen oder anderen Stelle verschrieben.«

»Schönborn wird das sofort bemerken«, sagte Lukas.

»Sicher, sicher. Deshalb müssen wir ihn eben zum genau richtigen Zeitpunkt ablenken. Und da kommst du ins Spiel, Lukas.« Merlin griff nach dem kleinen Fläschchen, in dem eine grünliche Flüssigkeit schimmerte. »Bist du bereit?«

»Für Elsa und die Fabelwesen«, sagte Lukas und streckte die Hand nach dem Fläschchen aus.

Gestern im Rat hatten sie alles genau besprochen. Merlin hatte über Nacht einen Zaubertrank gebraut, der Lukas in einen weißen Wolf verwandeln würde. Er würde Greifs Brüdern zum Verwechseln ähnlich sehen. Zusammen mit den anderen Wölfen sollte er dann das Lager des Feindes betreten. Die weißen Wölfe gehörten zu Schönborns Truppe. Merlin hoffte, dass sich noch nicht herumgesprochen hatte, dass Greif sich im Kyffhäuser gegen den Zauberer entschieden hatte. Als Wolf konnte Lukas das Lager unerkannt durchstreifen, Schönborns Zelt suchen – und hoffentlich das echte Grimorium finden. Im richtigen Moment würde er beide Bücher gegeneinander austauschen.

Was dann geschehen würde, stand allerdings in den Sternen.

»Wie gesagt, es kommt auf den richtigen Zeitpunkt an«, sagte Merlin. »Um Schönborn abzulenken, greifen unsere Truppen genau dann an, wenn die Sonne hinter dem Brocken versinkt. Du musst die Bücher austauschen, wenn das Chaos am größten ist. Dann hat Schönborn keine Gelegenheit mehr, den Irrtum zu bemerken. Er wird das Ritual mit dem falschen Buch beginnen. Dann sollte es mir möglich sein, ihn im Kampf der Magier zu besiegen.« Er zögerte. »Soweit die Theorie. Die Wirklichkeit hält sich leider oft nicht an Theorien.«

»Wie lange wird die Wirkung des Tranks denn anhalten?«, fragte Lukas, der das Fläschchen nachdenklich zwischen den Fingern rollte.

»Auch das kann ich nicht mit Gewissheit sagen«, erwiderte Merlin. »Ich hoffe, lange genug, damit du das Buch austauschen kannst. Vielleich kürzer, vielleicht länger. Es gibt auch die winzige Möglichkeit, dass die Wirkung niemals aufhört.«

»Niemals?« Lukas ließ das Fläschchen vor Schreck fast fallen.

Merlin zuckte die Achseln. »Ich hatte dir gesagt, dass es gefährlich ist. Du kannst immer noch …«

»Ich tue es«, unterbrach Lukas. Noch einmal zögerte er. »Was ich allerdings immer noch nicht verstehe, ist, warum ich manchmal zaubern kann und dann wieder nicht. Ich weiß, es hat irgendwie mit Liebe zu tun. Aber auch jetzt geht es doch um die Liebe zu meiner Schwester! Also, warum kann ich mich nicht einfach selbst in einen Wolf verwandeln oder in irgendetwas anderes?«

Merlin seufzte. »Du besitzt eine sehr seltene Gabe, Lukas. Wir Zauberer nennen sie die intuitive Magie. Du kannst sie nicht steuern. Sie kommt einfach über dich, anders als bei deiner Schwester. Diese Magie kann sehr stark sein, stärker als die von Elsa, vielleicht sogar stärker als meine. Aber leider lässt sich nie vorhersehen, wann sie über dich kommt.« Der Zauberer lächelte. »Deswegen ist sie mit der Liebe vergleichbar.«

»Dann soll es so sein.« Lukas hatte das Fläschchen bereits entkorkt und führte es zum Mund. Die Flüssigkeit schmeckte leicht bitter und scharf, sie brannte auf der Zunge. Er schluckte sie hinunter, setzte das Fläschchen ab und wartete.

Nichts geschah.

»Hm, seltsam«, murmelte Merlin. »Vielleicht hätte ich doch mehr Stechapfel …«

In diesem Moment knackste und knirschte es.

Ein unendlicher Schmerz durchfuhr Lukas, und er musste mit Entsetzen feststellen, dass es seine Knochen waren, die da knackten.

Ein Ruck ging durch seinen Körper, etwas zog und zerrte an ihm. Hemd und Hose platzten auf, Knöpfe sprangen ab, darunter wuchs ihm weißes Fell.

Lukas wollte schreien, doch seiner Kehle entfuhr nur ein langgezogenes Heulen. Er fiel auf seine Hände und Füße, aber da waren keine Hände und Füße mehr; stattdessen Tatzen mit spitzen Klauen. Lukas knurrte und hechelte, seine Zunge stieß an scharfe lange Zähne. Groß wie ein Pferd starrte er auf den kleinen Merlin hinunter, der ihn mit einer Mischung aus Neugier und Vorsicht betrachtete.

»Wirklich erstaunlich«, sagte der Zauberer. »Ich habe den Trank schon lange nicht mehr hergestellt. Ehrlich gesagt, war ich auch nicht sicher, ob dir nicht vielleicht einfach nur lange Eselsohren wachsen würden. Aber das Ergebnis ist, nun ja … recht überzeugend.«

Lukas wollte etwas erwidern, doch er brachte erneut nur ein Heulen hervor. Er besann sich darauf, wie Greif mit ihm gesprochen hatte und konzentrierte sich ganz auf seine innere Stimme.

Es tut weh, sagte er. Furchtbar weh …

Merlin nickte. »Das sind deine Knochen, die müssen sich erst an den neuen Körperbau gewöhnen, auch an das Laufen auf vier Pfoten. Es ist ja nicht für immer …« Er stockte. »Also hoffentlich nicht.«

Merlin ergriff das Grimorium. Er überlegte kurz, dann wickelte er es in einige große Farnblätter. »Du wirst das Buch im Maul tragen müssen. Pass auf, dass du es mit deinen Zähnen nicht versehentlich annagst. Es wäre schade drum!« Er schob Lukas das Grimorium in den Rachen und rümpfte die Nase. »Puh, du stinkst nach Raubtier. Die Verwandlung ist wirklich perfekt.«

Schließlich ging der Zauberer zum Zelteingang und spähte hinaus. »Es ist schon später Nachmittag. Du solltest dich jetzt wirklich auf dem Weg machen. Am besten, du zeigst dich deinen Freunden nicht in deiner neuen Gestalt. Wir wollen sie doch nicht erschrecken, nicht wahr?« Merlin lächelte. »Und nun leb wohl, Lukas! Das Schicksal des Harz, ja, des ganzen Reiches, liegt in deinen, äh …« Er hüstelte. »Fängen.«

Der Zauberer streichelte Lukas noch einmal über den pelzigen Kopf, dann öffnete er den Zeltvorhang.

Draußen warteten Greif, Zahn und Klaue. Sie richteten sich neugierig auf und schnupperten.

Du riechst noch immer nach Mensch, Wolfstöter «, sagte Greif. Die Werwölfe werden es merken, von ihnen solltest du dich fernhalten. In seinen Augen glomm plötzlich ein Feuer. Aber davon abgesehen … Du erinnerst mich an Fang.

Lukas schluckte. Fang war im Kampf an der Teufelsmauer gefallen, durch seine Klinge. Er fing mit seiner inneren Stimme zu sprechen an.

Hör zu, Greif, es tut mir unendlich leid, was …

Greif schüttelte den Kopf. Wir waren Feinde, jetzt sind wir Verbündete, Wolfstöter. Die Welt der Wölfe ist grausamer als die eure. Wir leben schnell, wir töten schnell, wir sterben schnell … Nun komm!

Zu viert trabten sie durchs Lager. Lukas war tatsächlich erleichtert, dass er seinen Freunden nicht mehr begegnete. Was Gwendolyn wohl gesagt hätte? Trotz des Fells fühlte er sich nackt und auch irgendwie schmutzig. Aus dem Augenwinkel sah er, wie ihn einige der Fabelwesen verstohlen musterten. Sie hatten Angst vor ihm, und das war auch nur zu verständlich. Lukas wusste aus eigener Erfahrung, welchen Eindruck die riesigen weißen Wölfe auf ihre Umwelt machten. Auch er war jetzt eine solch grausame Kreatur, ein Monstrum, geboren, um zu töten.

Bald schon hatten sie den Kreis der Irrlichter und das Hochmoor hinter sich gelassen. Das Kreischen, Schreien und Trommeln wurde lauter, je weiter sie sich dem Gipfel des Brocken näherten. Hier oben wurden die Bäume immer lichter und kleiner, sie duckten sich wie vor unsichtbaren Schlägen. Wurzelwerk schlängelte sich über die Felsen, dazwischen wuchs dürre Heide. Obwohl hier in der Höhe ein kühler Wind wehte, war Lukas nicht kalt. Das Fell schützte ihn. Immer wieder sahen Zahn und Klaue zu ihm hinüber und knurrten böse.

Wir sind Verbündete!, rief Greif ihnen zu. Vergesst das nicht!

Er hat Fang auf dem Gewissen , antwortete Klaue. Auch das können wir nicht vergessen!

Greif fletschte die Zähne. Ich habe Merlin mein Wort gegeben. Wer den Jungen angreift, der bekommt es mit mir zu tun! Die Meisterin und er sind aus dem gleichen Wurf.

Daraufhin hörte das Knurren auf. Sie trabten an ein paar letzten großen Felsen vorbei, dann betraten sie den Gipfel des Brocken.