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U m Lukas herum wütete die Schlacht, doch er nahm alles nur am Rande wahr. Etliche der Zelte waren unter der Last der Vögel, Elfen-Falter und Schmetterlinge zusammengebrochen. Dazwischen liefen Nickel und Wichtel unter der Führung von Flix, die sich mit den Kobolden einen zähen Kampf lieferten. Die Moosfrauen hatten hinter einem der Granitfelsen Stellung bezogen und deckten von dort die Feinde mit Pfeilen ein. Gwendolyn stand in erster Reihe und rief Befehle, doch sie war zu weit weg und es war zu laut, als dass Lukas sie hätte verstehen können.

Der Riese Bombus rang mit einem anderen Riesen, daneben wehrte sich der Baumtroll Farntreu gegen einen Troll, der ganz aus Felsen zu bestehen schien. Zwischen den dunklen Horden teilte Polidorius mit seinen Hufen nach allen Seiten hin aus, während ein Werwolf sich an seiner Seite festgebissen hatte.

Lukas sah sich um. Wo waren Paulus und Giovanni? Wo war Merlin? Er konnte den Zauberer nirgendwo entdecken.

Lukas verlangsamte seine Schritte, als ihm gewahr wurde, dass er nicht wusste, wie es nun weitergehen sollte. Merlin hatte ihn gebeten, die beiden Bücher auszutauschen. Das hatte Lukas getan. Und nun? Er war immer davon ausgegangen, dass Merlin nun erscheinen würde, dass sich die beiden Magier einen Kampf auf Leben und Tod liefern würden, schwarz gegen weiß. Aber keiner von beiden war zu sehen.

Stattdessen erkannte Lukas, dass sie die Schlacht trotz allen Mutes und aller Entschlossenheit verlieren würden. Die Gegenseite war einfach zu stark. Etliche Nickel lagen bereits leblos am Boden, dazwischen ein paar Baumtrolle wie gefällte Eichen. Ein Dutzend heulender Werwölfe sprang eben über die Felsen und griff die Moosfrauen an. Nachtgiger, Riesenfledermäuse und der Drache mit dem feurigen Schweif zogen über den Brockengipfel hinweg, wobei der Schwanz des Drachen alles in Brand steckte, was er berührte. Überall rauchte, brannte, krachte und donnerte es.

Am heftigsten tobte die Schlacht rund um den steinernen Tisch, den Schönborn vorher die Teufelskanzel genannt hatte. Dort stand noch immer unbeweglich Elsa, wie ein Jahrhunderte altes Denkmal, so als würde sie das irdische Chaos, all das Kämpfen, Ringen, Beißen und Stechen zu ihren Füßen nicht weiter kümmern.

Ein Rauschen ertönte in der Luft. Lukas sah hoch und erblickte ein fliegendes Ungetüm. Zuerst dachte er, es wäre eine der Flederkatzen oder ein Nachtgiger, doch die Kreatur war blutrot.

Mein Gott …, dachte er. Wo ist Merlin? Merlin, hilf uns!

Es war Waldemar von Schönborn, der mit seinem roten ausgebreiteten Kardinalsmantel wie ein großer Adler über dem zerstörten Lager schwebte. Er flog einen weiten Bogen und steuerte dann die Teufelskanzel an.

»Walpurgisnacht!«, rief er seinen hunderten Getreuen zu. »Die Nacht des Teufels! Heute werden wir siegen!«

Die Fabelwesen und Gefrorenen jubelten ihm zu. Schönborn landete auf der Kanzel genau neben Elsa. Der Mantel flatterte noch einmal, dann schmiegte er sich an seinen Besitzer.

»Lange haben wir gewartet!«, fuhr Schönborn fort. »Doch jetzt schlägt unsere Stunde. Ich verspreche euch, dass wir Burg Kyffhausen wieder aufbauen, nichts kann uns aufhalten! Die schwarze Macht kehrt zurück!«

Wieder grölten seine vielen Untergeben, über ihnen spuckte der Drache einen großen Feuerball, der den Himmel für einen kurzen Moment glutrot erhellte.

»Das Ritual soll nun beginnen!«, schrie Schönborn und stieß seinen Zauberstab auf den Felsen. Es knirschte und ein armweiter Spalt tat sich in dem Granitblock auf. »Das Tor zur Hölle wird hiermit geöffnet. Wir erwarten unsere dunklen Schwestern und Brüder!«

Lukas sah nun, dass Schönborn in seiner linken Hand das vermeintliche Grimorium hielt. Offenbar hatte er die Fälschung noch nicht bemerkt. Doch wo, um Himmels willen, war Merlin? Der Magier hätte doch schon längst da sein müssen!

Einen Moment lang hatten alle Kämpfer rund um die Teufelskanzel innegehalten, doch nun tobte die Schlacht erbarmungslos weiter. Die guten Fabelwesen versuchten verzweifelt, den Felsen zu stürmen, doch sie wurden von ihren Feinden, die in der Überzahl waren, einer nach dem anderen niedergemacht.

Mit dem Buch im Maul stand Lukas da wie gelähmt. Was sollte er tun? Er musste Elsa helfen. Aber dafür brauchte er Merlin und …

Nutze mich !, erklang plötzlich eine vertraute Stimme in seinem Inneren. Ich kann dir deine Schwester zurückgeben. Ich kann diesen windigen Schwarzmagier für dich töten … Ich kann dich zum Herrscher über all diese Kreaturen machen!

Nein! , keuchte Lukas. Niemals! Du … du bist böse …

Doch die Zweifel in ihm wuchsen. Warum eigentlich hatte er sich so lange dagegen gesträubt, das Grimorium einzusetzen? Endlich befand es sich wieder in seinem Besitz! Wenn Merlin ihm nicht half, dann musste er sich eben selbst helfen.

Nutze mich !, raunte das Buch erneut. Ein Wort von dir …

Lukas öffnete den Mund, und das Grimorium fiel zu Boden. Die Seiten blätterten sich wie von allein auf. So viele mächtige Zaubersprüche …

Nutze mich! Nur ein Wort von dir und …

»Lukas!«, hörte er plötzlich seinen Namen ganz in seiner Nähe. »Bist du das, Lukas?«

Lukas hob den Kopf und sah Jerome vor sich stehen. Der Freund grinste breit. Sein schönes Samtwams hing in Fetzen, das Rapier war leicht verbogen. In der linken Hand führte Jerome einen Parierdolch, der mit schwarzem Trollblut befleckt war. »Mon dieu , du bist es wirklich! Ich erkenne dich an deinen Augen.«

Lukas winselte freudig. Mit Jerome konnte er nicht so sprechen wie mit Greif oder Merlin. Doch sein Freund hatte ihn auch so erkannt.

»Hab es mit den Harzschützen und den Gefangenen gerade erst ins Lager geschafft«, erklärte Jerome. »Giovanni hat mir von Merlins Plan erzählt. Und Paulus …« Er duckte sich und eine geworfene Sichel flog dicht über sie beide hinweg. »Naja, die beiden sind vorne am Felsen und kämpfen wie die Berserker. Ich hab eben ein paar Verletzte vom Schlachtfeld getragen. Wollte gerade wieder zurück zu den anderen.« Erst jetzt entdeckte er das Grimorium am Boden. »Ah, das verfluchte Buch!« Jerome wirkte traurig. »Bon sang ! Es sieht nicht gut aus. Wo nur Merlin bleibt?«

Lukas jaulte, und Jerome nickte. »Elsa, nicht wahr? Ich habe sie oben auf dem Felsen gesehen, und nun auch noch Schönborn …« Er blickte Lukas entschlossen an. »Wir müssen etwas unternehmen, Lukas! Einer für alle, und alle für einen! Das gilt noch immer, c’est vrai

Lukas nickte unmerklich mit seinem Wolfskopf. Und plötzlich wusste er, was er tun musste. Wenn Merlin ihm nicht half, würde er sich eben selber helfen müssen. Er würde Elsa befreien, egal, wer oder was sich ihm in den Weg stellte. Ganz ohne Zauberbuch, nur getrieben von seiner Wut und seinem Hass auf den Mann, der seine Schwester ins Unglück gestürzt hatte. Er knurrte noch einmal, dann lief er auf die Kanzel zu.

Einer für alle …

»He, was ist mit dem Grimorium?«, rief ihm Jerome nach. »Ich denke, es ist keine gute Idee, es hier einfach … ach, verdammt!«

Jerome schnappte sich das Grimorium, steckte es unter sein Wams, und gemeinsam warfen sie sich in die Schlacht.

Oben auf der Kanzel stand noch immer Waldemar von Schönborn und murmelte irgendwelche Zauberwörter, während aus dem Spalt im Felsen schwarzer Rauch kroch. Zu Füßen der Teufelskanzel waren die Leiber der Kämpfenden so ineinander verkeilt, dass man Freund von Feind kaum noch unterscheiden konnte.

Mittlerweile war es tiefe Nacht geworden. Auf dem Rücken von Polidorius saßen zwei Werwölfe. Das Einhorn bäumte sich auf und warf sie ab, mit seinem Horn durchbohrte es eines der Monstren. Doch zwei weitere Biester sprangen Polidorius an. Der Baumtroll Farntreu brannte lichterloh an beiden Händen, auch viele seiner Baumfreunde hatten Feuer gefangen. Die Wassernixen hatten ihre Zuber verlassen und löschten, wo immer sie nur konnten. Durch die vielen Feuer lag über dem ganzen Geschehen ein unheimlicher rötlicher Schein.

In der Mitte des Kampfgeschehens entdeckte Lukas nun auch Giovanni und Paulus. Die beiden Freunde standen Rücken an Rücken und wehrten die Hiebe von Kobolden, Trollen und Gefrorenen ab. Giovannis Degen setzte gezielte Stiche, während Paulus mit seinem wuchtigen Palasch kreisende Bewegungen vollführte und sich so die Gegner vom Leib hielt.

»He, ihr zwei!«, schrie Jerome, während er selbst unter der Keule eines Riesen wegtauchte. »Schaut mal, wen ich im Gewühl gefunden habe!«

Die beiden blickten kurz herüber. Paulus grinste, der Schweiß lief ihm von der Stirn.

»Na, wenn das nicht Lukas ist, der da mit heraushängender Zunge hechelt. Ich hoffe, du hast Merlin mitgebracht. Hier wird es langsam …« Er hob seinen Palasch und parierte im letzten Augenblick den Schwerthieb eines Gefrorenen. »… etwas brenzlig.«

Für lange Erklärungen blieb keine Zeit. Waldemar von Schönborn war mit der Beschwörung weiter vorangeschritten. Der knotige Zauberstab lag neben ihm auf dem Boden. Entsetzt sah Lukas, dass der Zauberer Elsa gepackt hatte und zu dem Felsspalt hinüberzerrte. Der Riss hatte sich weiter vergrößert, schwarzer Rauch quoll daraus hervor. Lukas glaubte, ein tiefes Grollen, ein Knurren und Keuchen aus der Tiefe zu hören, wie von tausenden wilden Tieren.

»Nimm dieses Geschenk an, höllisches Inferno!«, rief Schönborn gegen den Schlachtenlärm an und schob die versteinerte Elsa dabei weiter auf den Spalt zu. »Blut von meinem Blut! Meine eigene Tochter, mein …«

In diesem Augenblick sprang Lukas.

Es war ein Sprung, der auch für einen so großen Wolf kaum schaffbar war. Lukas sprang über Dutzende der Kämpfenden hinweg, getragen vom Zorn und der Angst um seine Schwester. Er flog durch die Luft und landete direkt neben Schönborn auf der Kanzel, der vor Überraschung Elsa losließ. Die Statue wackelte und drohte zu kippen, schließlich kam sie kurz vor dem Spalt zum Halten.

»Wer … was …«, stammelte Schönborn. Er blinzelte, im Rauch und Nebel war sein Gegner nur schwer zu erkennen. »Greif …? Aber …«

Schönborn schien Lukas für den Anführer der weißen Wölfe zu halten. Fauchend fiel er über den Schwarzmagier her. Mit seinen Vorderfängen warf er Schönborn zu Boden, die bösen Fabelwesen schrien wütend auf. Lukas’ Rachen schnappte zu und …

Biss ins Nichts.

Stattdessen stand Waldemar von Schönborn wieder neben ihm. Er musste sich im Bruchteil einer Sekunde aus der Gefahrenzone gezaubert haben, ganz ohne Spruch. Seine Zaubermacht war wirklich erschreckend.

»Hirnlose Bestie!«, spottete Schönborn. »Hast du wirklich geglaubt, du könntest einen Magier totbeißen wie ein Kaninchen?« Er lachte böse. »Du scheinst sieben Leben zu haben. Nun, dann werde ich dich eben siebenmal so stark treffen. Spüre die Kraft der schwarzen Magie. MORI NUNC!«

Diesmal war es kein Feuerball, kein Blitz, den Schönborn losschickte. Stattdessen fühlte Lukas einen unerträglichen Schmerz in seiner Brust. Der Schmerz war so heftig, dass er jaulte und winselte wie ein geprügelter Hund. Die bösen Fabelwesen und die Gefrorenen lachten und zeigten mit dem Finger auf ihn.

Lukas versuchte wegzukriechen. Doch Schönborn griff jetzt zu seinem Zauberstab. Er deutete mit der Spitze auf Lukas’ Kopf und schrie dazu: »FORTIOR, FORTIOR!«

Der Schmerz steigerte sich in einer Weise, dass Lukas wünschte zu sterben. Alles um ihn herum verschwamm, das Lachen und das Schreien der Kreaturen vermischte sich zu einem Klangbrei; diesmal brachte er nicht mal ein Winseln zustande.

Vielleicht war es der Schmerz, vielleicht ließ die Wirkung des Trankes aber einfach nur genau in diesem Moment nach – jedenfalls spürte Lukas, wie in seinem Körper plötzlich eine Veränderung vonstattenging. Seine Knochen knackten und knirschten wie bei der ersten Verwandlung, etwas zog und zerrte. Das Fell verschwand, darunter erschien Menschenhaut, statt der Klauen kamen Hände und Füße zum Vorschein. Außerdem fror Lukas entsetzlich. Nackt und bloß lag er auf dem Felsen, während über ihm Schönborn überrascht aufschrie.

»Du bist das? Ich hatte also recht mit meinem Verdacht. Du hast Elsa verführt mit diesem verdammten Amulett! Kleiner Störenfried, lästiger als ein Schwarm Mücken bist du! Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, aber es hilft dir jetzt auch nichts.« Schönborn grinste böse. »Im Gegenteil! Ein größeres Opfer ist nicht vorstellbar. Bruder und Schwester zugleich, die Kinder einer mächtigen Hexe … Satan, nimm dieses großzügige Geschenk von deinem Diener an! MOVE NUNC!«

Er deutete mit dem Zauberstab auf Lukas, der daraufhin gegen seinen Willen auf den Spalt zugeschoben wurde, wo auch schon Elsa stand. Eine unsichtbare Kraft zerrte an ihm. Mit Händen und Füßen versuchte er sich an dem rutschigen Felsen festzuhalten, doch es war vergeblich. Zentimeter für Zentimeter kam Lukas dem Riss näher, aus dem jetzt immer lauter das tiefe Grollen erklang. Ein Choral sang, aus vielen dunklen Kehlen gleichzeitig.

Die höllischen Heerscharen! , dachte Lukas. Sie sind ganz nah! Und kein Merlin weit und breit, der uns retten könnte …

»O Satan, sende uns deine Truppen!«, rief Schönborn. »Damit wir gemeinsam die weißen Mächte ein für alle Mal von der Erde tilgen!«

Lukas war nur noch einen halben Schritt von dem Spalt entfernt, als er plötzlich Jeromes Stimme hörte.

»Lukas, das Buch! Nimm das Buch!«

Mit unsäglicher Anstrengung hob Lukas den Kopf. Er sah seine Freunde direkt unter der Teufelskanzel stehen, auch Gwendolyn war mittlerweile hinzugekommen. Sie alle starrten zu ihm empor, ebenso wie die vielen hundert guten und bösen Fabelwesen und die Gefrorenen.

Die Schlacht hielt kurz inne.

»Das Buch!«, rief Jerome erneut. Dann hob er den Arm und warf das Grimorium, das bislang unter seinem Wams gesteckt hatte, auf die Teufelskanzel.

Es landete direkt vor Lukas.

Trotz der Kräfte, die auf ihn einwirkten, und der Schmerzen gelang es ihm, danach zu greifen und es an sich zu ziehen. Schönborn, der noch immer mit dem Zauberstab über ihm stand, runzelte die Stirn. Seine Verwirrung wuchs, als er das Ding in Lukas’ Händen genauer musterte.

»Aber wieso …«, murmelte er. Er senkte den Stab und griff unter seinen roten Kardinalsmantel. Verwirrt zog er die Fälschung hervor. »Was zum Teufel …«

Da Schönborn seinen Stab nicht mehr auf Lukas gerichtet hatte, war der Zauber kurzzeitig gebrochen, die Schmerzen ließen nach. Lukas richtete sich auf, das echte Grimorium in der Hand. Erst jetzt schien Schönborn seinen Irrtum zu bemerken, und zum ersten Mal zeigte sich in seinem Gesicht echte Angst.

»Du hast das Buch?«, hauchte er. Nervös blätterte er in seinem eigenen Büchlein. »Fälschung, eine billige Fälschung, nichts als dumme Kinderreime! Zum Teufel!« Er warf das Buch weg und streckte die Hand aus. »Gib es mir, Junge! Gib mir das Grimorium! Du kannst damit nichts anfangen …«

Nutze mich!, ertönte erneut die mittlerweile vertraute Stimme in Lukas’ Kopf. Ein Wort von dir, und ich werde diesen Wicht vernichten. Du kannst der neue Herrscher sein, Lukas. Zusammen mit deiner Schwester! Gemeinsam werdet ihr über ein neues kaltes Reich herrschen!

Lukas schloss kurz die Augen. Er sah sich und Elsa auf goldenen Thronen sitzen, so wie der Kaiser Barbarossa, Reichsszepter und Reichsschwert in den Händen. Mit dem Grimorium würden sie über das Deutsche Reich gebieten, kalt und gerecht.

Vor allem kalt.

Nutze mich, Lukas!

Er sah sein Gesicht und das seiner Schwester, bleich und grausam, auf ihren Köpfen Kronen, die sie herniederdrückten. Mit einem Fingerschnippen könnte er Dörfer verbrennen, mit einem Nicken ganze Städte ins Verderben schicken. Und das Beste war: Die höllischen Heerscharen würden ihm dabei helfen! Sie warteten nur darauf, von ihm befreit zu werden. Wie Würmer bewegten sich die dunklen Engel direkt unter seinen Füßen, sie krochen durch den Spalt … Nur ein Wort von ihm …

Lukas streckte die Hand gegen Schönborn aus.

»Tu es nicht, Junge!«, kreischte dieser. Der Zauberer hob die Hände, zitternd deutete er auf die steinerne Elsa. »Ich kann sie wieder ins Leben zurückholen. Hast du vergessen? Ich … ich bin ihr Vater, fast so etwas wie dein Onkel …«

Ein weiterer Gedanke kam Lukas. Eigentlich brauchte er Elsa gar nicht. Er brauchte niemanden, keine Schwester, keine Freunde … Er konnte ganz allein herrschen!

Nutze mich …

Plötzlich war da eine andere Stimme in seinem Kopf. Sie war höher und feiner als die des Buches, liebevoll, und sie weckte süße Erinnerungen.

Lukas, höre nicht auf das Grimorium! Nicht du benutzt es, es benutzt dich!

»Wer … wer bist du?«, murmelte Lukas.

Lukas, Lukas, kennst du die Stimme deiner Mutter nicht mehr?

Lukas stand still und horchte. Alles andere war ausgeblendet; was um ihn herum vorging, war plötzlich ganz langsam, die Welt schien stillzustehen.

»Mutter …«, sagte er mit brüchiger Stimme. »Bist … bist du das …?«

Aber natürlich, mein Junge. Ich habe dir gesagt, dass ich immer bei dir sein werde, auch in dieser dunklen Stunde. Ich liebe dich!

Waldemar von Schönborn hatte Lukas’ und Elsas Mutter auf dem Scheiterhaufen in Heidelberg verbrennen lassen. Lukas hatte zusehen müssen, damals hatte er das erste Mal ihre Stimme vernommen. Zwei Jahre war das nun her. Doch die Stimme war ihm noch so vertraut, als hätte sie gestern erst zu ihm gesprochen.

Lukas, hör gut zu! , fuhr seine Mutter eindringlich fort, während um ihn herum alles zu einem farbigen Brei verschwamm. Das Grimorium ist abgrundtief böse. Ich hätte es niemals aus dem Prager Kloster mitnehmen sollen, damit fing alles Übel an. Wir Weißen dachten, wir könnten es für unsere Zwecke einsetzen, aber das war ein fürchterlicher Irrtum! Es gehört dahin zurück, wo es einst hergekommen ist. Wo es vor langer Zeit geschrieben wurde. Zurück in die Hölle!

»Du meinst …«, begann Lukas. Er dachte daran, was Merlin ihm schon in Wales über die Entstehung des Buches erzählt hatte, über den Barden Taliesin. Man sagt, der Teufel selbst habe Taliesins Hand beim Schreiben des Grimoriums geführt …

Flehend fuhr die Stimme fort: Du musst jetzt handeln, Lukas! Ich habe die Zeit angehalten, um mit dir zu sprechen, doch meine Kraft schwindet. Sie schwindet, schwindet …

Die Stimme seiner Mutter wurde leiser und leiser, und plötzlich war da wieder Schönborns hässliche Fratze direkt vor Lukas’ Gesicht. Um ihn herum schrie und brüllte alles, die bösen Fabelwesen stürmten gegen die Teufelskanzel an, aus dem Spalt quoll schwarzer Rauch, der jetzt die Gestalt von einzelnen Körpern annahm. Auf ihren Köpfen saßen Hörner wie die von Ziegenböcken.

»Gib mir das Buch, Lukas!«, schrie Schönborn. »Ohne das Buch kann ich die höllischen Heerscharen nicht beherrschen. Sie werden über uns herfallen, auch über dich und deine Freunde!«

Er streckte erneut die Hand nach dem Grimorium aus. »Gib es mir!«

»Nein«, sagte Lukas mit lauter fester Stimme. »Keiner soll es haben, Ihr nicht und ich auch nicht. Es soll dorthin verschwinden, wo es herkam.«

Mit diesen Worten schleuderte er das Grimorium in den rauchenden Spalt.

In diesem Augenblick geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.

Der schwarze Rauch wirbelte in immer schneller werdenden Kreisen, die Gestalten darin lösten sich auf, und der Qualm verschwand wieder im Riss. Ein Kreischen erklang, hoch und schrill. Ob es vom Grimorium oder von Schönborn kam, vermochte Lukas nicht zu sagen. Der Zauberer sah Lukas mit weit aufgerissenen Augen an.

»Was hast du getan? Das Buch! Du … du hast es vernichtet! Wie konntest du nur …«

Er kniete nieder und kroch auf den Spalt zu. Tief und immer tiefer tauchte er mit dem Kopf hinein, auf der Suche nach dem Buch.

»Es muss doch hier irgendwo sein!«, zeterte er. »Ich brauche es! Ich muss es studieren, muss …«

Plötzlich kroch noch einmal ein schwarzer Rauchfaden aus dem Riss hervor, er hatte die Form einer schwarzen Schlange Die Schlange wand sich um Schönborn und zog ihn ganz in das Loch hinein.

»Nicht!«, hörte man der Zauberer in der Tiefe schreien. »Lass mich los, lass mich … Aaaaahhhh …«

Im Inneren des Felsen hörte man Waldemar von Schönborn toben, zetern und kreischen, doch die Schlange zog ihn unerbittlich weiter und weiter, tiefer hinab in den höllischen Schlund.

MEIN TREUER DIENER, grollte eine tiefe Stimme, direkt aus dem Inneren des Bergs. JETZT GEHÖRST DU MIR. DU WIRST VIEL ZEIT HABEN, MEIN BUCH ZU STUDIEREN. EINE EWIGKEIT!

Krachend schloss sich der Riss, und das Schreien verstummte abrupt.

Lukas taumelte auf Elsa zu, die noch immer starr und felsgrau war. Mit toten Augen starrten sie ihn an.

Tränen rannen Lukas über seine frischgewonnene menschliche Haut. Was nutzte ihm ein Sieg über Schönborn, wenn er am Ende seine kleine Schwester doch nicht hatte retten können? Alles war vergeblich gewesen!

»Elsa!«, schluchzte er. Er umarmte sie fest. »Es tut mir so leid. Ich … ich …«

Er dachte an alle Tage, die sie miteinander verbracht hatten, ihre gemeinsamen Streiche, an die verbotenen Ausflüge in den Wald, an Elsas Lachen und auch an ihr Weinen, wenn er seine kleine Schwester mal wieder geärgert hatte. Noch nie hatte er sie so geliebt wie jetzt in dem Moment, als sie kalt und grau in seinen Armen lag.

»Mein Leben würde ich für dich geben!«, flüsterte er. Die Tränen raubten ihm die Sicht, er fühlte die Kälte nicht. »Alles würde ich …«

Lukas stockte. Unter seiner Umarmung spürte er plötzlich, wie der Fels warm und weich wurde. Der Stein barst wie Eis in der Sonne.

Es knackte leise …

Und Elsa blinzelte.

»Lukas, mein Bruder …«, flüsterte sie. »Was … was ist geschehen?«

»Ein Wunder! Ein Wunder ist geschehen!« Lukas lachte laut auf. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Und du … du kannst dich erinnern! Du weißt, dass ich dein Bruder bin!«

Elsa sah ihn verwirrt an. »Aber natürlich weiß ich das, Lukas. Doch alles andere …« Sie blickte sich um. »Wo bin ich?«

Auch Lukas hatte jetzt zum ersten Mal Gelegenheit, sich umzuschauen. Rund um die Teufelskanzel standen noch immer die vielen Fabelwesen und die Gefrorenen. Doch es war, als wäre von ihnen allen ein böser Zauber abgefallen. Riesen und Baumtrolle, die sich eben noch bitter bekämpft hatten, standen sich jetzt ratlos gegenüber. Kobolde senkten ihre spitzen Dolche, Moosfrauen warfen ihre Bögen weg, selbst die verbliebenen Werwölfe ließen von Polidorius ab und zogen ihre Schwänze ein. Die Gefrorenen sahen sich an, als wüssten sie nicht, wie sie hierhergekommen waren, ihre Augen waren nicht mehr schwarz und tot.

Ganz vorne an der Kanzel entdeckte Lukas Jerome, Giovanni und Paulus, die eben noch mit zwei Trollen gekämpft hatten. Nun standen sie sich mit gesenkten Waffen gegenüber.

»Potzdonner und Blitz!«, keuchte Paulus. »Der Teufel hat den Zauberer geholt! So wie in dieser alten Geschichte mit dem, na, ihr wisst schon.«

»Faustus«, sagte Giovanni erschöpft und senkte den Degen. »Der Mann, den du meinst, hieß Doktor Faustus. Aber das ist tatsächlich eine andere Geschichte.«

»Na, wie auch immer.« Paulus steckte seinen Palasch in die Scheide. »Herrgott, Lukas, das war verdammt knapp! Wieso hast du uns nicht gleich gesagt, dass du mit Merlin diesen grandiosen Plan ausgeheckt hast?«

»Aber ich habe keinen …«, hob Lukas an. Dann sah er an sich herunter. Er war noch immer splitternackt.

Unter ihm grinste Gwendolyn. »Das nenne ich mal auf dem Präsentierteller!« Sie betrachtete ihn schmunzelnd. »Du musst nicht gleich rot werden. Keine Sorge, ich habe schon öfter mal einen Mann im Adamskleid gesehen. Allerdings ist so viel Publikum wohl eher ungewöhnlich.«

Sie lachte, und Lukas spürte, wie ihm die Schamröte ins Gesicht stieg.

»He!«, rief Paulus. »Hat mal jemand eine Decke für Lukas, den lebenden Leuchtturm auf dem Brocken! Deine Birne glüht wie hundert Irrlichter.«

»Ah oui ! Und eine Flasche guten französischen Wein für ihn und seine Schwester!«, fügte Jerome augenzwinkernd hinzu. »Ich glaube, die beiden können jetzt wirklich einen Schluck gebrauchen. Damit wieder Leben in sie kommt.«