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D as große Aufräumen auf dem Brocken dauerte bis in die Morgenstunden an. Jedes der beiden Lager hatte Verwundete zu beklagen, es gab auch viele Tote. Die meisten der Zelte waren eingestürzt oder abgebrannt, überall lagen kaputte Waffen, zersplitterte Balken, Rüstungsteile und Kleiderfetzen. All die guten und bösen Fabelwesen, die sich eben noch bis aufs Blut bekämpft hatten, wirkten jetzt seltsam still und abwesend. Man ging sich aus dem Weg, mied die Blicke der anderen, manche saßen nur verträumt auf einem Felsen, so als wüssten sie nicht, wie sie überhaupt hierhergekommen waren.

Lukas blieb die ganze Zeit bei Elsa. Giovanni hatte ihm ein paar Kleider besorgt, sodass er nicht mehr fror und von den anderen angestarrt wurde. Elsa war durch die lange magische Versteinerung noch immer sehr geschwächt. Sie schlief fast die ganze Zeit. Wenn sie kurz auf war, lächelte sie Lukas an und ließ sich von ihm Wasser und einen heilenden Saft einträufeln den die Moosfrauen ihm gegeben hatten. Fingerspitzen und Zehen waren noch immer grau und hart, ebenso die Nasenspitze, es würde wohl noch eine Zeit dauern, bis Elsa wieder ganz geheilt war.

Aus einigen Zeltplanen und ein paar aufgerichteten Balken hatte Lukas mit den Freunden ein größeres Krankenzelt aufgebaut, wo Elsa und viele andere Verletzte untergebracht waren. Zu den Patienten gehörte auch der Baumtroll Farntreu, dessen hölzerne Arme böse verbrannt waren. Der Wichtel Flix hatte einen vergifteten Dolchstich abbekommen, der nur schwer heilte. In dem Krankenzelt lagen auch etliche der bösen Fabelwesen sowie ein paar der Gefrorenen, die sich von Mama Toda, Gwendolyn und den Moosfrauen verarzten ließen. Doch für manche kam jede Hilfe zu spät.

Bei den Gefrorenen war der Sinneswandel am auffälligsten. Jetzt, da sie nicht mehr unter dem Bann Schönborns standen, verwandelten sie sich zurück in die Soldaten, die sie einst gewesen waren. Viele von ihnen kamen ursprünglich aus Spanien. Das Deutsch, das sie vorher noch bruchstückhaft gesprochen hatten, verschwand nach und nach aus ihrem Sprachschatz. Sie konnten sich an nichts mehr erinnern. In den vergangenen Stunden hatten sich viele von ihnen schon auf den Weg gemacht zurück in ihre Heimat. Nur die Schwerverletzten blieben zurück, ebenso wie die Harzschützen und die Gefangenen vom Kyffhäuser, die sich Lorenz und Jerome angeschlossen hatten.

Falk von Dinkelsbühl war im Kampf gefallen; es hieß, er habe mit seinen letzten Atemzügen noch von einem mächtigen Zauberbuch gesprochen, das sie alle retten würde. Es tat Lukas weh, wenn er daran dachte, was für ein tapferer Hauptmann Falk einst gewesen war, und was das Grimorium aus ihm am Ende gemacht hatte.

»Ist es dir schon aufgefallen?«, raunte Gwendolyn Lukas zu, während sie einem ohnmächtigen Nickel sein gebrochenes Bein schiente. »Die Fabelwesen verschwinden.«

»Wie meinst du das?«, fragte Lukas. »Verschwinden …?«

»Na, schau doch mal genauer hin! Sie verblassen immer mehr.«

Lukas sah den schlafenden Nickel genauer an. Tatsächlich! Seine rote Mütze war nicht mehr rot, sondern blassrosa, der einst schwarze Kittel schimmerte grau. Auch die Trolle, Riesen und geflügelten Nachtgiger wirkten an manchen Stellen fast durchsichtig, andere Wesen wiederum waren noch ganz gut zu erkennen, aber auch hier zeigten sich bereits kleine Spuren des Verschwindens. Ein Ohr, ein halber Finger, die Knöpfe an einer Weste, die Spitze einer Zwergenmütze …

»Es sieht so aus, als würden sie unsere Welt nach und nach verlassen«, sagte Gwendolyn. »Bestimmt könnte uns Merlin darüber mehr erzählen, aber der ist ja mal wieder verschwunden! Und Mama Toda schweigt geheimnisvoll, ich hab es vorhin schon bei ihr versucht.«

Gwendolyn sah Lukas fragend an. »Ich verstehe immer noch nicht, was da eigentlich genau passiert ist. Ich meine, eigentlich solltest du doch nur Schönborn die Fälschung unterjubeln. Merlin hätte gegen den Zauberer kämpfen sollen, nicht du!«

»Ja, seltsam«, murmelte Lukas nachdenklich. »Irgendetwas sagt mir, dass Merlin mal wieder sein ganz eigenes Süppchen gekocht hat.«

Er sah gerade eben noch einmal nach Elsa, als Giovanni das Zelt betrat. Der kleine Italiener wirkte müde und abgekämpft, auch er hatte ein paar Verwundungen davongetragen, sein linker Arm hing in einer Schlinge. Trotzdem zeigte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht.

»Du solltest schleunigst rauskommen«, sagte Giovanni zu Lukas. »Jemand möchte dir zu deinem Sieg über Schönborn gratulieren.«

Lukas warf Gwendolyn einen ahnungsvollen Blick zu. »Ich denke, ich weiß, wer das ist.«

Mit den beiden anderen trat er hinaus vor das Krankenzelt. Dort warteten auch schon Paulus und Jerome. Eben ging die Sonne über dem Brocken auf. Sie warf ein warmes goldenes Licht auf die Teufelskanzel, wo jemand ganz Bestimmter saß und die Beine baumeln ließ.

»Merlin!«, seufzte Lukas. Er ging auf die Kanzel zu. »Mit dir ist es wirklich schlimmer als mit einem Kleinkind. Nie bist du da, wenn man dich braucht!«

»Ich bin ein Kleinkind, schon vergessen?«, sagte Merlin grinsend. Er naschte gebrannte Nüsse aus einem Leinenbeutelchen. Lukas vermutete, dass es ihm die gütigen Moosfrauen vorher zugesteckt hatten. Merlins Blick schweifte über den Gipfel des Brocken. »Ihr habt schon fast wieder aufgeräumt, alle Achtung!«

»Seit der Schlacht sind ja auch schon ein paar Stunden vergangen«, sagte Paulus. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen? Zuerst dachte ich, du hättest mit Lukas irgendeinen großartigen Plan ausgeheckt. Doch dann meinte Lukas, es hätte gar keinen Plan gegeben …«

»O doch! Es gab einen Plan. Von Anfang an gab es einen Plan.« Merlin lächelte geheimnisvoll. »Ich konnte euch nur nicht einweihen. Das wäre zu gefährlich gewesen.«

»Und wie lautete dieser ach-so-geniale Plan?«, fragte Giovanni.

Merlin klopfte auf den Felsen. »Am besten, ihr kommt hier hoch zu mir, esst ein paar Nüsschen und lasst euch die Sonne ins Gesicht scheinen. So lässt sich besser zuhören.«

Zusammen mit seinen Freunden kletterte Lukas auf die Teufelskanzel und setzte sich neben Merlin. Der Stein war von der Morgensonne angenehm aufgewärmt. Es war ein seltsames Gefühl, dort zu sitzen, wo Waldemar von Schönborn erst vor wenigen Stunden hinab in die Hölle gezerrt worden war.

»Also?«, fragte Lukas.

»Die Wahrheit ist, dass ich Schönborn nie hätte besiegen können«, sagte Merlin. »Ich bin ein mächtiger Zauberer, aber ich bin auch nicht mehr der Jüngste. Auch wenn man mir das so nicht ansieht.« Er zwinkerte den anderen zu. »Schönborn wusste nichts von mir, und das war gut so. So konnte ich hinter den Kulissen die Fäden ziehen.«

»Das kannst du ohnehin am besten«, knurrte Paulus.

»Ich tat, was ich konnte«, fuhr Merlin fort. »Schönborn hatte die bösen Fabelwesen beschworen; mit Mama Toda zusammen gelang es mir, das Gleiche mit den guten Fabelwesen zu tun. Aber Schönborn hatte die Gefrorenen, er hatte Elsa, am Ende hatte er auch noch das Grimorium! Ich hätte ihn niemals niederringen können. Nicht in dieser Welt und in dieser Zeit.«

»Dann hat der große Merlin also den Schwanz eingezogen«, bemerkte Jerome spöttisch.

»Nein, ich habe nur alles dafür getan, dass der Einzige, der Schönborn besiegen konnte, dazu auch in der Lage war.« Merlin sah Lukas an. »Das warst du, Lukas! Nicht ich.«

»Ich?« Lukas schüttelte den Kopf. »Du musst dich täuschen. Ich kann doch gar nicht richtig zaubern …«

»O doch, das kannst du!«, unterbrach ihn Merlin streng. »Wir haben gestern noch darüber geredet, Lukas. Du zauberst intuitiv, willkürlich, deine Kräfte lassen sich nicht steuern. Sie werden von deinen Leidenschaften getrieben, von der Liebe, auch von deiner Wut, von dem ohnmächtigen Gefühl, mit dem Rücken an der Wand zu stehen.« Der Magier seufzte. »Ich musste dafür sorgen, dass du ganz allein warst, Lukas, verloren. Als dir schließlich keiner mehr helfen konnte und auch ich nicht mehr da war, war deine Macht am stärksten. Schönborn wusste das, deshalb hatte er auch am Ende solche Angst vor dir. Er sah in deinen Augen einen ebenbürtigen Gegner.«

»Aber ich habe doch gar nicht gezaubert«, warf Lukas verwirrt ein.

»Das ist ja das Komischste an der Sache!« Merlin lachte. »Am Ende war es gar nicht nötig, dass du Magie anwendest. Schönborn hat sich mit seiner Gier selbst besiegt. Er wollte das Grimorium, er ist ihm sprichwörtlich bis in die Hölle gefolgt – der Teufel hat ihn geholt. Dass du das Buch in den Spalt geworfen hast, war das Beste, was du tun konntest! Du hast es dahin zurückgeschickt, wo es herkam. Daran habe nicht mal ich, der große Merlin, gedacht.«

Lukas verschwieg, dass er das Grimorium am Ende fast selbst verwendet hätte. Beinahe wäre das Buch stärker als er gewesen, er hätte Schönborn besiegt, aber zu welchem Preis …?

Merlin schien seinen Blick richtig zu deuten. »Ich musste das Risiko eingehen«, sagte der Zauberer leise. »Ich konnte nur hoffen, dass du stark genug bist, Lukas. Und das warst du.« Er lächelte. »Übrigens hast du am Ende doch gezaubert. Dass Elsa wieder zu Fleisch und Blut geworden ist, ist allein dein Verdienst …«

»Die Liebe«, murmelte Lukas.

»Ja, die Liebe, Lukas. Die Liebe zwischen Geschwistern ist ein besonders starkes Band.«

»Ob Schönborn nochmal aus der Hölle zurückkommt?«, fragte Jerome.

Merlin schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Das Tor auf dem Brocken ist jetzt versperrt, der Teufel gibt selten jemanden wieder frei, den er mal in den Klauen hatte.«

»Und all die Fabelwesen?«, sagte Gwendolyn. »Was ist mit denen? Sie verblassen langsam, wir können es sehen!«

»Ihre Aufgabe ist erfüllt. Sie gehen dorthin wieder zurück, wo sie ursprünglich herkamen. Zurück in die Geschichten, in die Sagenbücher, in die Erinnerungen der Leute aus dem Harz.«

»Das heißt also, es hat die Fabelwesen nie gegeben?«, fragte Lukas.

»O doch! Die Vorstellungskraft der Menschen ist etwas Großartiges. Und manchmal nehmen Geschichten sogar Gestalt an.« Merlin zwinkerte ihnen zu. »Nennt es Magie … oder Fantasie.«

Er klatschte in die Hände. »Wir sollten uns von ihnen verabschieden, findet ihr nicht?«

Merlin griff hinter sich und zog aus einer Mulde ein armlanges Horn hervor, das er Lukas überreichte. »Du solltest es blasen, Lukas. Farntreu kann es mit seinen verbrannten Fingern leider nicht mehr spielen.«

Lukas nahm das Horn, das aus einem einzigen Stück Hartholz geschnitzt war. Darauf waren Tiere eingraviert, Einhörner, Trolle, geflügelte Elfen und kleine Zwerge …

Er hielt es an die Lippen und blies hinein. Es ging erstaunlich leicht, ein langer warmer Ton entwich dem Horn, der Ton schien über dem ganzen Harz zu schweben.

Kurz darauf erschienen die Fabelwesen auf dem Gipfel des Brocken. Sie kamen aus dem Krankenzelt, aus den Wäldern rund um den Berg, aus dem Lager der guten Fabelwesen unten am Hochmoor … Riesen, Baumtrolle, Werwölfe, Nickel, Moosweiblein, Nachtgiger, Wichtel, Irrlichter, Waldelfen, Venediger und Alraunenmännlein – sie alle standen ein letztes Mal vereint zusammen. An der Seite trommelte das Einhorn Polidorius mit seinen Hufen und trieb die Nachzügler zur Eile an. Auch Polidorius’ Fell wurde immer durchsichtiger, sein Horn schimmerte blasssilbern.

Noch lange, nachdem Lukas das Horn wieder abgesetzt hatte, hallte der Ton nach. Als er endlich verklungen war, wandte sich Merlin an die Fabelwesen. Es war seltsam anzusehen, wie der kleine Junge dort oben auf der steinernen Kanzel stand. Er sprach mit hoher Stimme und trotzdem der Ausstrahlung eines mächtigen, uralten Magiers.

»Hochverehrte Fabelwesen, Märchengestalten, Spukungeheuer und Nachtschrecke! Ob ihr nun gut oder böse seid, riesig groß oder winzig klein, ob ihr in Höhlen lebt, in Tümpeln, auf den höchsten Bergen oder tief im Wald … Ihr alle habt eines gemeinsam: Für uns Menschen seid ihr wichtig!« Merlins Stimme hallte weithin über den Brocken. »Ihr seid unsere Ängste und unsere Sehnsüchte, unsere Träume und Fantasien, und aus all dem entstehen neue Welten! Schönborn wollte das alles zerstören, in seinem Reich wäre kein Platz mehr für Fantasie gewesen, ihr alle wärt aus den Erinnerungen der Menschen verschwunden! Denn wo Waffen, Soldaten und Geld regieren, ist kein Platz mehr für Träume!«

Merlin deutete auf Mama Toda, die mit ihren Tatern am Fuß der Teufelskanzel stand. »Mama Toda hat mir gezeigt, dass der Harz eine Heimat der Geschichten ist, so wie auch meine Heimat Wales. Sorgt bitte dafür, dass das so bleibt, und zwar alle gemeinsam! Gute und böse Wesen!«

Die Fabelwesen murmelten, scharrten mit den Hufen, knurrten, brummten, krähten, zischten und wisperten. Doch sie alle nickten beifällig.

»Und nun geht dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid«, fuhr Merlin fort. »Zurück in die Sagen und Legenden, wo ihr hoffentlich ewig weiterlebt!« Er wandte sich flüsternd an Lukas. »Äh, ich denke, es wäre recht schmissig, wenn du jetzt nochmal ins Horn blasen könntest. Das gibt meiner Rede erst die richtige Würze.«

Lukas setzte erneut das Horn an die Lippen. Ein weiteres Mal erklang der sehnsuchtsvolle tiefe Ton, und die Fabelwesen setzten sich in Bewegung. Einzeln und in Gruppen verließen sie den Gipfel, wobei manche von ihnen schon auf dem Weg weiter verblassten oder ganz verschwanden.

Als der Ton schließlich verklungen war, waren die Fabelwesen fort, für immer. Zurück blieben die Tatern mit Mama Toda. Merlin nahm Lukas das Horn ab und gab es ihr.

»Bewahre es gut auf«, sagte er. »Ich hoffe, dass wir es nicht noch einmal benutzen müssen.«

»Das hoffe ich auch, Merlin«, erwiderte Mama Toda. In ihrem uralten runzligen Gesicht zeigte sich ein gütiges Lächeln. »Diese Gegend ist wie ein großer alter Drachen, und Schönborn hat ihn böse gepiesackt. Mit all den Erzminen, gefällten Bäumen und rauchenden Kohlemeilern. Doch einen Drachen sollte man niemals reizen.« Sie verbeugte sich leicht. »Der Harz spricht dir und deinen jungen Freunden seinen Dank aus, Merlin«

»Das war doch gar nichts.« Merlin winkte ab. »Ihr hättet mal dabei sein sollen, als ich damals den jungen Beowulf aus den Fängen des widerlichen Grendel …« Er brach ab. »Naja, wie auch immer, das ist eine andere Geschichte. Außerdem ist das Böse ja nicht vollständig besiegt. Der große Krieg in euren Landen wird wohl leider noch eine Weile weitergehen.«

»Aber wir werden uns zu wehren wissen«, sagte Lorenz, der eben hinzugetreten war. Hinter ihm standen die Harzschützen und die Gefangenen vom Kyffhäuser, alle hatten sie Waffen in den Händen. Der ehemalige Köhler selbst hielt ein großes Schwert. »Dies ist Falks Schwert«, erklärte Lorenz. »Wir werden auch für ihn kämpfen, für ihn und unsere Heimat. Nicht wahr, Harzschützen? Ein Hoch auf Lukas, den Zauberkrieger!«

Lauter Jubel erscholl, Schwerter und Piken wurden hochgereckt. Lukas nickte den Harzschützen freundlich zu. Doch insgeheim hoffte er darauf, dass irgendwann wieder eine andere Zeit anbrechen würde, ohne Schlachten, Waffen, Rache und Kriegsgeschrei. Ob das Deutsche Reich wohl je Frieden finden würde?

»Zauberkrieger!« Paulus lachte spöttisch. »Daran muss ich mich erst noch gewöhnen.« Er sah Lukas an. »Also, kleiner Zauberkrieger, wo geht unsere Reise als Nächstes hin? Wieder durch irgend so ein Zaubertor mit Hilfe unsere magischen Dreikäsehochs?«

Lukas’ Blick ging hinüber zu Merlin. Doch der zuckte mit den Schultern. »Rechnet nicht mit mir, meine jungen Freunde. Mir reicht es erstmal wieder mit Abenteuern, außerdem brauchen mich meine Schafe auf der Insel. Ich werde zurück zu den Gegensteinen wandern und von dort weiter nach Wales reisen.« Er grinste spitzbübisch. »Aber vermutlich wird mir in ein paar Wochen schon wieder langweilig werden. Es gibt da diesen neuen Kontinent namens Amerika, da war ich noch nicht.«

»Und ich werde Merlin begleiten«, sagte Gwendolyn. »Mein kleiner Bruder vermisst mich sicher schon, außerdem ist Wales nun mal meine Heimat.« Betont beiläufig wandte sie sich an Lukas. »Und was ist mit dir?«

Lukas schluckte. Er hatte Gwendolyn versprochen, dass er mit ihr nach Wales gehen würde, wenn dies alles hier vorbei war. Doch jetzt spürte er, dass dies nicht ging, nicht jetzt, vielleicht nie. Er musste sich um Elsa kümmern, um die elterliche Burg, um die Burgbewohner im Odenwald, für deren Schutz er verantwortlich war.

»Also, es ist so …«, begann er zögernd.

Gwendolyn winkte ab. »Sprich nicht weiter, mein tapferer Krieger, ich verstehe schon. Jeder geht seinen eigenen Weg im Leben.« Sie zuckte die Achseln. »Wir Waliser verabschieden uns nicht groß. Wir wissen, dass wir uns ohnehin irgendwann wiedersehen. Wenn nicht in diesem Leben, dann in einem anderen. Aber wir haben einen bestimmten Brauch, ohne den kein Junge ein Mädchen verlassen darf …«

Ganz plötzlich beugte sie sich zu Lukas hinüber und gab ihm einen langen Kuss auf die Lippen. Keiner spottete oder lachte, nicht einmal Paulus.

Als der Kuss schließlich geendet hatte, fragte Lukas leise: »Und das ist wirklich ein walisischer Brauch?«

»Nein.« Gwendolyn lachte und wischte sich über die Lippen. »Aber es macht trotzdem Spaß, findest du nicht? Beannachd leibh , Lukas!«

Mit diesen Worten sprang Gwendolyn mit ihrem Bogen vom Felsen. Sie reichte Merlin die Hand. »Komm, Magier! Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es bis morgen Früh zu den Gegenfelsen. Und ein Augenzwinkern später sind wir wieder in Wales. Ich kann das Meer schon riechen!«

Der kleine Merlin ließ sich von ihr von der Teufelskanzel heben, gemeinsam gingen sie auf die verkrüppelten Bäume am Rande des Gipfels zu. Lukas sah ihnen nach. Gwendolyns rotes Haar leuchtete im Licht der Morgensonne, er würde sie nie vergessen.

Vielleicht in einem anderen Leben , dachte er. In einer anderen Zeit.

Gemeinsam mit den Freunden und Mama Toda winkte er den beiden ungleichen Weggefährten nach, doch Gwendolyn winkte nicht zurück.

»Ach, und Lukas!« Es war Merlin, der sich nun doch noch einmal umdrehte. »Sag deiner Schwester, sie soll in Zukunft die Finger von der Zauberei lassen. Das ist nichts für kleine Mädchen! Und auch nichts für kleine Jungs.« Er kicherte. Dann hüpfte er an Gwendolyns Hand von einem umgefallenen Baumstamm und pfiff ein Lied. Noch eine Weile waren die beiden zwischen den Bäumen zu sehen, schließlich waren sie verschwunden.

Lukas fragte sich, ob er sie je wiedersehen würde.

»Et maintenant ? Und was machen wir jetzt?«, fragte Jerome nach einer Weile.

»Erstmal ausgiebig frühstücken.« Paulus grinste. »Mama Toda meinte vorhin, sie würde uns zum Frühstück einladen, mit Eiern, gebratenem Speck und frischer Milch.«

»Meinetwegen.« Giovanni nickte. »Aber dann machen wir uns auf den Weg, zusammen mit Elsa, wenn es ihr wieder besser geht. Ich habe unsere Strecke schon mal grob überschlagen. Bis zurück in den Odenwald sind es etwa 250 Meilen. Wenn wir jeden Tag fünfzehn Meilen schaffen, sind wir noch vor Juni wieder zuhause.«

»Fünfzehn Meilen am Tag!« Paulus stöhnte. »Verdammt, haltet Merlin auf! Wir brauchen wieder einen Zauberer. Oder irgend so ein Ding mit Flügeln, das uns heimfliegt. Das wäre doch mal eine vernünftige Zauberei!«

»Oder eine Kutsche ohne Pferde«, schlug Jerome vor. »Wie wäre das? Oder ein Pferd auf zwei Rädern, oder …«

»Oder unsere eigenen Füße.« Lukas lachte. »Wenigstens haben wir uns auf unserer langen Reise viel zu erzählen.«

Dann gingen sie mit Mama Toda hinüber zum Lager der Tatern, wo die Eier schon in einer großen Pfanne über dem Feuer brutzelten.

»Ich habe Hunger wie ein Wolf«, sagte Lukas lächelnd. »Und das ist in diesem Fall nicht mal übertrieben.«