EPILOG

S ie brauchten zwanzig Tage und Nächte vom Harz zurück in den Odenwald. Kurz vor Marburg trafen sie auf marodierende Söldner, die jedoch schnell das Weite suchten. Es reichten ein paar gezielte Hiebe mit Degen, Rapier und Palasch, und die Kerle merkten, dass hier nichts zu holen war. Einmal gerieten sie in einen üblen Hinterhalt einer ganzen Kompanie, dem sie gerade noch entkamen. Der Krieg herrschte weiterhin über das Land, und wo er kurz innehielt, regierten Hunger und Seuchen. Ganze Landstriche waren verlassen, Dörfer und Städte niedergebrannt, Menschen waren überall auf der Flucht.

Den ganzen Weg über unterhielten sich Lukas und Elsa über ihre Kindheit, auch über das, was in den letzten Jahren seit dem Tod der Eltern geschehen war. Schönborn hatte Elsa gleich mehrmals die Erinnerung geraubt, es dauerte lange, bis sie ihre Gedächtnislücken aufgefüllt hatte. Ganz gelang es ihr nicht.

Es war schön anzusehen, wie sich die eiskalte Hexerin, die Elsa gewesen war, in das Mädchen zurückverwandelte, das Lukas von früher her kannte: frech, vorlaut, naseweis … Ja, sie konnte einem ganz schön auf die Nerven gehen! Aber sie tat das, was kleine Schwestern nun mal tun. Und das war wunderschön! Lukas hatte seine Schwester zurück.

Ein paar Mal wollte Elsa für sie zaubern. Kleinigkeiten wie das Entzünden von nassem Holz, ein Wetterzauber bei prasselndem Regen, eine Portion Glück bei der Jagd … Doch es ging nicht. Es war, als hätte sich Merlins Warnung bewahrheitet.

Sag deiner Schwester, sie soll in Zukunft die Finger von der Zauberei lassen …

So wie Elsas Erinnerungen zurückkamen, schwand ihre Zauberkraft. Nach einer Weile ließ sie es ganz sein. Sie ärgerte sich nicht mal. Lukas glaubte, dass sie sogar ein wenig erleichtert war, dass diese schwere Bürde von ihr abgefallen war. Auch er selbst versuchte sich nicht mehr an der Zauberei. Die Magie, ob schwarz oder weiß, war Sache von Zauberern und Hexen, ein überaus gefährliches Gebiet, in dem man sich allzu schnell verlieren konnte, wie er aus eigener Erfahrung wusste.

Am späten Abend des zwanzigsten Tages tauchte vor ihnen zwischen den Tannen endlich die elterliche Burg auf. Bangen Herzens ließ Lukas den Blick über die Zinnen schweifen. Die ganze Reise über hatte er sich gesorgt, dass die Burg vielleicht angegriffen und niedergebrannt worden wäre. Doch sie machte einen guten Eindruck, das Tor war sogar mit ein paar neuen Balken verstärkt worden.

Lukas klopfte gegen die kleine Tür im Burgtor, und nach einer Weile öffnete sich dort eine Luke. Das misstrauische Gesicht von Burgvogt Eberhart schaute heraus.

»Wer wagt es, so spät …«, begann er. Dann erkannte er Lukas, Elsa und die Freunde. Der Mund blieb ihm vor Staunen offenstehen, dann lachte er laut.

»Der junge Herr ist zurück! Und die junge Herrin!« Er öffnete die Tür und breitete die Arme aus. »Was für eine Freude! Ich werde sofort der Köchin Bescheid geben, dass sie noch einmal den Ofen schürt, und Eure Stube muss ausgefegt werden und …«

»Lass nur, Eberhart!« Lukas grinste. »Wenn du weiter so schreist, denken die Burgbewohner noch, die Schweden stehen vor der Tür. Apropos Schweden …« Er wurde wieder ernst. »Gab es Angriffe, als wir nicht da waren? Tote? Verletzte?«

Eberhart schüttelte den Kopf. »Alles blieb friedlich. Nach dem Tod Wallensteins hat der Sohn des Kaisers das Oberkommando über die kaiserlichen Truppen übernommen. Er macht den Schweden gerade ziemlich Feuer unter dem Hintern. Vielleicht hört dieser furchtbare Krieg ja doch irgendwann auf!«

»Freu dich nicht zu früh«, brummte Paulus. »Dafür haben wir zu viel Leid auf unserem Weg hierher gesehen.«

»Ach, dieser kaiserliche Hofastrologe kam kurz nach eurer Abreise hier nochmal vorbei«, sagte Eberhart. »Machte einen ziemlich verwirrten Eindruck. Er wollte wissen, wo ihr seid. Dabei seid ihr doch zusammen abgereist …?«

»Tja, das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Lukas. »Ich denke, von Senno und weiteren Abenteuern haben wir erstmal genug. Er soll gar nicht wissen, dass wir wieder hier sind.«

»So wie ich ihn kenne, wird er es ohnehin bald erfahren«, sagte Giovanni. »Wenn es ihm die Sterne nicht sagen, dann seine Agenten. Gut möglich, dass er dann mit einem neuen Auftrag vor Burg Lohenstein steht.«

»Ohne uns!«, sagte Lukas und sah hinüber zu Elsa. »Nicht wahr?«

Elsa nickte. »Ich weiß gar nicht mehr, wie es hier auf der Burg aussieht.« Sie wandte sich an Vogt Eberhart. »Gibt es denn mein altes Kinderzimmer noch?«

»Aber natürlich, junge Herrin. Wir haben alles so gelassen, wie es früher war.« Er schmunzelte. »Das heißt, nicht ganz so unaufgeräumt.«

»Ich will es sehen!« Elsa stürmte voran. »Ob meine Puppen noch da sind? Meine kleine Küche? Der Kleiderschrank …?«

Lukas sah ihr lächelnd hinterher. Er dachte daran, wie kalt und herzlos das Spielzimmer unter dem Kyffhäuser gewirkt hatte, mit all den Automaten und sprechenden Puppen. Hier auf Burg Lohenstein konnte Elsa endlich wieder Kind sein. Es sah so aus, als hätte sie einiges nachzuholen.

Noch am gleichen Abend gingen Lukas und Elsa hinüber zur Burgkapelle, neben der sich der kleine Friedhof befand. In der Mitte stand ein steinernes Kreuz, dessen Inschrift Lukas nur zu gut kannte.

Friedrich von Lohenstein, 1590 bis 1631. Einer für alle. Alle für einen.

Lukas selbst hatte die Grabinschrift in Auftrag gegeben. Hier war ihr Vater begraben. Gefallen im Kampf gegen Waldemar von Schönborn, beim Versuch, seine Frau zu schützen. Das Grab ihrer Mutter befand sich gleich daneben, ein schlichter weißer Stein. Auch hier hatte Lukas für die Gravur gesorgt.

Sophia von Lohenstein, 1599 bis 1631. Immer bei dir.

Es waren die letzten Worte der Mutter gewesen, als man sie in Heidelberg auf den Scheiterhaufen gezerrt hatte.

Elsa nahm Lukas’ Hand und drückte sie fest.

»Wie konnte ich sie nur je vergessen?«, fragte sie leise.

»Das warst nicht du, Elsa«, erwiderte Lukas. »Schönborn hat das gemacht. Es war Magie.«

»Möge er ewig in der Hölle schmoren!«, zischte Elsa. »Auch wenn er mein leiblicher Vater ist – ich verfluche ihn!«

Kurz klang ihre Stimme wieder so kalt wie im Harz, als sie Lukas auf dem weißen Wolf angegriffen und beinahe getötet hatte. Doch dann traten Tränen in ihre Augen.

»Er hat mir meine Kindheit genommen …«

»Deine Kindheit ist noch nicht zu Ende, Elsa«, sagte Lukas. »Unser beider Leben fängt gerade erst an. Es gibt noch so viel zu sehen und zu erleben!«

»Du hast recht.« Sie schniefte. »Ich wüsste nur gerne, wie Mutter ausgesehen hat. Vieles ist zurückgekommen, aber ich kann mich nicht mehr genau an ihr Gesicht erinnern.«

»Dann hilft dir vielleicht dies hier.« Lukas holte ein Schmuckstück hervor und drückte es Elsa in die Hand. Sie schaute verdutzt.

»Das Amulett mit Mutters Bildnis!«, rief sie. »Ich dachte, Schönborn hätte es vernichtet.«

»Er hat es achtlos weggeworfen«, sagte Lukas. »Ich habe es im Wolfszwinger auf dem Boden gefunden. Mach es auf.«

Elsa klappte es auf und betrachtete lange das Portrait der Mutter.

»Sie war eine wunderschöne Frau«, sagte sie leise.

»Und ein wunderbarer Mensch«, erwiderte Lukas. »So wie du auch einer bist, Elsa.« Er lächelte. »Ganz ohne Zauberei.«

Eine Nachtigall landete auf dem weißen Stein und sang ihr Lied. Kurz glaubte Lukas eine feine menschliche Stimme zu hören.

Immer für dich da.

Immer für euch da.

Dann flog der kleine Vogel davon.