Eng verbunden ist die Arbeitswertlehre bei Marx mit seiner Krisentheorie, nämlich der Vorhersage eines tendenziellen Falls der Profitrate. Dieser Absturz reicht über die periodisch auftretenden Überproduktionskrisen, von diesen verursachten Absatzeinbrüche und Wertvernichtungen hinaus als innere Schranke der Akkumulation, also des Wachstums von Kapital an sich: Wenn die Arbeitskraft die einzige Profitquelle ist, der Kapitalist diese Arbeitskraft aber aus Konkurrenzgründen immer produktiver machen muss und sie andererseits selbst beim Absterben von Konkurrenz im Fall von Monopolen soweit verbilligen, nämlich ihren Anteil an der Produktion verringern wird, wie das der Stand der Technik zulässt – dann sägen die Kapitalisten langfristig an dem sprichwörtlichen Ast, auf dem sie sitzen. Das Modell hat seine Tücken schon bei Marx. Die besten unter seinen Schülerinnen und Schülern, von Rosa Luxemburg bis zu westlichen Neo-Marxisten der 1970er und 1980er Jahre, haben sich daran abgearbeitet. Inzwischen gibt es aber allerlei postmarxistische Strömungen, die kaum etwas außer der Krisentheorie von Marx brauchen, um sich in apokalyptischen Szenarien einzurichten, ohne dass in jedem einzelnen Fall dieser Verlautbarungen ersichtlich würde, was die Propheten im Fall des Eintritts dieser Vorhersage des Weltuntergangs eigentlich politisch vorhaben, vom Überleben und Bessergewussthaben mal abgesehen.
Steuerlos sehen diese Leute die Welt in die Katastrophe segeln, aber alle Steuerungsversuche, jedenfalls staatlicher Art, auch wenn sie mit sozialistischer Absicht unternommen werden, lehnen sie ab: Das sei ja schon in Russland schiefgegangen und habe bloß ein rückständiges Land modernisiert, bis es für den Katastrophenkapitalismus reif gewesen sei.
Dass der Weltmarkt überhaupt keine politische Steuerung braucht und schon die beste Überwindung seiner Schwachpunkte und Systemfehler finden wird, weil es ein besseres System der Güterproduktion und Verteilung als das marktwirtschaftlich-kapitalistische gar nicht geben kann, ist unterdessen ein Glaubensartikel, den Radikalliberale seit Marxens Theorie und als Antwort auf dieselbe ununterbrochen vertreten. Sie versprechen dafür auch allerlei »Beweise« (die aus Gründen der Input-Output-Informatik grundsätzlich gar nicht erlangbar sind), und übersehen zweierlei, etwas Historisches wie etwas Logisches: Historisch hat es, erstens, einen Markt »ohne Staat«, der die Vertragseinhaltung überwacht und dergleichen, nie gegeben, und gerade die größten Gegner von Wohlfahrtsstaat und Verbrauchssubventionierung waren völlig einverstanden damit, gemeinschaftlich Erwirtschaftetes und Gesammeltes, zum Beispiel Steuergelder, zur Stützung ihres geliebten Marktes einzusetzen, von der Rüstungsindustrie bis zur Bankenrettung. Zweitens aber, logisch, ermittelt ein Markt oft nicht einmal die Nachfrage, sondern höchstens die zahlungsfähige Nachfrage, und auch das, siehe Krisen, nicht unfehlbar.
Gerade Krisen und andere Einbrüche in einmal erreichtem Lebensstandard wirken sich in unserer Gegenwart viel eher bei den Abhängigen als bei den Global Players als Dämpfer auf die Kampfmoral im Streit um die Interessendurchsetzung aus. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Veranstaltung einer Gewerkschaft vor wenigen Jahren, auf der darüber lamentiert wurde, man habe es heute schwer, herauszufinden, welche Lohnverbesserungen überhaupt realistischerweise gefordert werden könnten, weil man bei all den modularen, flexiblen, modernen Produktionsabläufen mit den alten Maßgaben »Stücklohn« oder »Stundenlohn« gar nicht mehr erfassen könne, was eigentlich vor sich gehe.
Die naheliegende Antwort, dass die Berechnung von Löhnen gar so schwer oder unmöglich auch wieder nicht sein könne, weil sonst noch viel mehr Firmen viel öfter als in Wirklichkeit pleitegehen würden, deren Kostenstellen das ja auch ermitteln müssten, fiel den Leuten in mehrstündigen Diskussionen nicht ein, und ein besseres Beispiel dafür, dass ihre objektive Lage die Lohnabhängigen allein jedenfalls noch nicht zur Gefahr für die Bewegungsfreiheit des Kapitals macht, sondern etwas hinzutreten muss, das Marx den »subjektiven Faktor« oder das »Klassenbewusstsein« nannte, lässt sich gar nicht so leicht erfinden.
Dass sich solches Bewusstsein nicht spontan unter Leuten bildet, die im Alltag an vielen Fronten sehen müssen, wo sie bleiben, leuchtet ein. Dass es aber Aufgabe aller ist, die über das nötige Rüstzeug verfügen, zur Bildung solchen Bewusstseins ihren Beitrag zu leisten, daran hat Marx auch in den ungemütlichsten Abschnitten seines Lebens festgehalten – so entschlossen wie an dem Ziel,
alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist. Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!
Die Energie, die sich hier in Pathos wie Witz entlädt, hat alle drei großen Arbeitsanstrengungen dieses Denkers und Autors gespeist: die publizistische, die aktiv politische und die gesellschaftstheoretische.
Die lebensgeschichtlich letzte und auf lange Sicht wirkungsvollste war seine theoretische Arbeit seit den späten 1850er- und frühen 1860er Jahren, vom Material Zur Kritik der politischen Ökonomie über den ersten Band von Das Kapital 1867 bis hin zu den letzten Notizen, die Engels ordnen wollte. Die zweite, hierzu in vielerlei Hinsicht komplementäre Mühe, der er sich unterzog, war die Arbeit für Organisationen, zunächst also den schon erwähnten Bund der Kommunisten und später dann für die Internationale Arbeiterassoziation (die, weil ihr je nach Zählung zwei oder drei weitere folgten, auch die »erste Internationale« genannt wird) von deren Gründungsversammlung am 28. September 1864 in der Londoner St. Martin’s Hall an.
Die dritte Anstrengung schließlich, die oftmals als arbeitsorganisatorisches Bindeglied zwischen den beiden anderen fungiert haben dürfte, war das, was Marx als Journalist und Publizist vollbrachte, von der Etappe bei der Rheinischen Zeitung über die mit dem Junghegelianer Ruge herausgegebenen Deutsch-französischen Jahrbücher, deren Namensplural die Tatsache verdeckt, dass es nur eine Ausgabe gab, dann das kurze Wiederaufleben seines ersten Zeitungsengagements bei der Neuen Rheinischen Zeitung, diesmal als Chef, zwischen 1848 und 1849, und schließlich die in London begonnene Mitarbeit an internationalen, progressiven, meist bürgerlichen Blättern wie der Neuen Oder-Zeitung und der New-York Daily Tribune, aber auch Organen der radikalen proletarischen Bewegung wie Notes to the People oder The People’s Paper.
Fleißiges Faktensammeln, emsige Spekulation, eine Flut von Veröffentlichungen, organisatorische und agitatorische Tätigkeiten, Streit mit einem Großteil der linken Prominenz seiner Zeit vom Anarchistenhäuptling Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) bis zu irgendeinem zehntrangigen Materialismusprediger namens »Herr Vogt«, der aber auch einen eigenen Text abbekam: Marx hatte viel zu tun. Was sein privates Leben war, schnurrt demgegenüber zu einem kleinen Vorrat an Anekdoten zusammen. Die vier Jahre ältere Jugendliebe Jenny von Westphalen, der er früh Gedichte schrieb, hat er schon 1843 geheiratet.
Jenny und Karl Marx 1866
Sie wich ihm nicht von der Seite, drei Töchter hatte er mit ihr. Die persönliche Existenz des Denkers der Freiheit als Abschaffung ökonomischer Nötigung war nicht freier und nicht verklemmter als die anderer Kleinbürger. Dass er mit dem Dienstmädchen seiner Familie in London einen Sohn zeugte, darf als sehr wahrscheinlich gelten; weniger Entfremdung im Liebesleben war damals kaum zu haben.
War dies ein großes Leben? Ein schweres, ein bitteres?
Marx, Engels, der »General«, und Marx’ Töchter Jenny, Eleanor und Laura im Urlaub 1864
Auf den Fotos, die wir vom späten Marx haben, sieht er nicht bedrückt oder zermürbt aus, eher vergnügt, ein alter Strolch, der so viel angestellt hat, wie er konnte, und der 1883 starb, wie’s ihm wohl recht war: bei der Arbeit.
Marx Ende April 1882, ein Jahr vor seinem Tod (Foto von E. Duterte, Lebensdaten unbekannt)