Zum einen hat sich die Geschichte der Analysen und Programme, die Marx entwickelt hatte, durchaus geweigert, nach 1917 allein in der Sowjetunion weiterzugehen. Sie wurde auch von Leuten ergänzt, die zu dem, was im Osten gewagt wurde, kritisch bis ablehnend standen. Als Alternative schlug man etwa vor, der Arbeiterklasse ein unter sowjetischen Bedingungen bald nicht mehr gewährtes Maximum an Macht über alle Bestandteile des revolutionären Prozesses zuzuschanzen, in der Theorie wie in der (bei dieser Strömung eher bruchstückhaften) Praxis. Vertreten wurde derlei von verschiedenen Richtungen zwischen Anton Pannekoeks »Rätekommunismus« bis zum italienischen Operaismus in den 1960er Jahren.
Einen friedlichen Übergang zum Kommunismus niederer Stufe anstelle des von Marx vertretenen revolutionären befürwortete da schon längst eine in der Sozialdemokratie einflussreiche Schule von sogenannten Reformisten, unter denen der prominenteste Eduard Bernstein (1850–1932) gewesen war, zeitweise Chefdenker der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Der Reformismus war, wie die Arbeitermachtbewegung, auch als praktische Richtung fast das gesamte 20. Jahrhundert lang irgendwo aktiv, zeitweise als südamerikanischer Sozialismus, zeitweise als italienischer »Eurokommunismus« und unter vielen weiteren Namen.
Eine Abspaltung vom sowjetischen Marxismus stellte die Schule Leo Trotzkis (1879–1940) dar, der mit der Machtübernahme seines innerparteilichen Hauptfeindes Josef Stalin (1878–1953) zum Sonderfall eines sich auf Lenin berufenden Sowjetmarxisten wurde, der zugleich Dissident war, deshalb das Land verlassen musste und bis zu seiner Ermordung im mexikanischen Exil in Schriften und Initiativen zur Gründung einer »Vierten Internationalen« nicht müde wurde, eine Rückkehr zu revolutionären Zeiten zu verlangen. Seine Schülerinnen und Schüler engagieren sich bis in unsere Zeit für diese militante Nostalgie.
Als am 1. Oktober 1949 von der Partei des Revolutionärs Mao Zedong (1893–1976) nach deren Sieg die Volksrepublik China ausgerufen wurde, begann eine weitere staatsmarxistische Geschichte, die der sowjetischen in mancher Hinsicht ähnelt, sich in anderer von ihr unterscheidet.
Akademische Folgen hatte Marx unterdessen auch in den nicht zum Bündnissystem der sozialistischen Staaten gehörigen Gegenden, darunter solche, die eine geradezu junghegelianisch anmutende akribische Kritik der Ideologien des kapitalistischen Lebens organisierten. Das Spektrum reicht hier von der sogenannten Frankfurter Schule oder Kritischen Theorie über Louis Althussers (1918–1999) strukturalistischen Marxismus bis zu poststrukturalistischen Theorieansätzen der letzten Jahrzehnte, die Marxsches Erbgut mit allerlei postkolonialen, feministischen oder queeren Konstruktionen kreuzen.
Über das Theoretische hinaus sind unterm Stichwort der »Globalisierungskritik«, d. h. der Feindschaft gegen die auch politisch forcierte Durchsetzung eines kapitalistischen Weltmarkts, seit etwa 20 Jahren allerlei neue Angriffe auf das angetreten, was Marx verabscheute.
In Südamerika haben seit dem Zusammenbruch des sowjetischen Einflussbereichs diverse linkspopulistische Parteien, Bewegungen und charismatische Einzelpolitiker neue Anläufe gestartet, den Kapitalismus zu überwinden, meist konfus und aussichtsarm, aber doch lehrreich.
Marx kam es in Theorie und Praxis darauf an, die soziale Wirklichkeit unter die Bestimmungen der gemeinsam erarbeiteten gesellschaftlichen Vernunft zu stellen. Deshalb sind oft Vernunftmenschen, also eine ganz bestimmte Sorte von Intellektuellen, die Ersten, die an seiner Lehre Gefallen finden, und die Letzten, die von ihr lassen wollen. Dieser Umstand bringt den Nachteil mit sich, dass die Lehre vielerorts von Leuten verwaltet, archiviert, ausgelegt und gepflegt wird, die den Zeitfaktor unterschätzen. Wenn eine historische Arbeit länger dauert, wenn es Misserfolge gibt, die nicht aus logischen und zwingenden, sondern aus den zufälligen Bedingungen folgen, unter denen die vernünftige Lösung umgesetzt werden soll, sind solche Intellektuellen damit überfordert, ihre Modelle den Erfahrungstatsachen anzupassen. Die Diskussionen unter ihnen, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion über das Vermächtnis von Marx geführt wurden, tun mitunter so, als habe es in der Geschichte noch nie eine soziale Umwälzung gegeben, die mehrere Anläufe gebraucht hat, um sich Geltung zu verschaffen.
Statue von Karl Marx und Friedrich Engels Statue im Memento Park in Budapest, vormals vor dem Gebäude der Sozialistischen Arbeiterpartei