Der Kapitalismus, für dessen historische Leistung, allerlei dumpfe Traditionen hinweggefegt zu haben, Marx so viele Worte gefunden hat, mit denen man noch heute naive, sich selbst für Linke haltende Personen verblüffen kann, mag im Vergleich zur Sklaverei und zur Leibeigenschaft noch so einleuchtend sein, er kam dennoch nicht einfach so auf, dass irgendjemand ihn an einer mittelalterlichen Universität ausgeheckt, dann per Brief einigen reichen Leuten empfohlen und anschließend erfreut vom Lehrstuhl aus seinem rasanten Siegeszug in Europa zugeguckt hätte. Das Prinzip des Kapitalismus wurde schon in der Renaissance als Grundlage für Produktion und Reproduktion des Sozialen ausprobiert, aber weil die Einrichtungen, die nötig sind, um Kapital zum Erwerb von Arbeitskraft zu verwenden, die es hinreichend schnell und hinreichend explosiv vermehrt, damit sich der Prozess selbst stabilisiert, noch nicht entwickelt worden waren, blieb dieser frühe Kapitalismus eine Bonsai-Pflanze, zog nicht genügend Nährstoffe aus ihrem begrenzten städtischen Boden, war eben nicht industriell, sondern auf den Handel gestützt, mit dessen Reingewinnen das Kapital aufgestockt wurde, oder auf Geldverleihgeschäfte, die denselben Zweck hatten – sprich: Er brachte es nur zum wenig schwungvollen gegenseitigen Einanderaufschaukeln von Geldmenge und Warenverkehr, wurde aber selbst nicht zur Macht über die Warenproduktion, und musste kurzfristig deshalb verkümmern, bevor er zur geschichtsmächtigen Größe werden konnte. Die Gegenwehr der feudalen Machthaber hielt ihn in den engen politischen Grenzen, die seiner schmalen wirtschaftlichen Basis angemessen waren, und selbst, als die Händler den Weg nach Westen fanden, dauerte es eine Weile, bis sie sich dort so sicher etabliert hatten, um ihre Bevormundung abzuschütteln. Der erste antifeudal-antikoloniale Aufstand, der die Ausrufung der USA erlaubte, fand nicht fünf Minuten nach der Ankunft des Kolumbus in der Neuen Welt statt. Bis dahin hatten die Bürger, die in der Renaissance noch Händler gewesen waren, gelernt, wie sie Fabrikanten oder anderweitig Großproduzenten (zum Beispiel Plantagenherren) werden konnten, und dabei auch den Rückgriff auf sehr rohe Formen der Aneignung der Arbeit anderer nicht verschmäht, etwa die Sklaverei. Die bürgerliche Klasse, die Bourgeoisie, hatte herausgefunden, wie sie das absolute Mehrprodukt erhöht und einen immer größeren Teil davon nicht mehr an ihre adligen Bedrücker und deren absolutistische Geschäftsführung hergeben muss (der erfolgreiche Aufstand der amerikanischen Bourgeoisie hatte seine endgültige Zündung bekanntlich in einer Weigerung dieser Klasse, Steuern nach England abzuführen). Man kann sagen, dass die Bourgeoisie in diesen Kämpfen überhaupt erst lernte, dass sie eine Klasse war. Marx ging davon aus, dass die Arbeiterklasse sich zu der Zeit, da er seine Geschichts- und Revolutionstheorie fand, auf einem ähnlichen Lernweg befand.
Die Intellektuellen, die einstweilen auf dem Material sitzen, das dem historischen Subjekt, welches Marx im Sinn hatte, Beine machen sollen, nennen das, was sie schreiben und denken, auch heute zum Teil Marxismus – »zum Teil« ist kein schlechter Name für das, was daran Marx gehört: Sie brechen Elemente heraus und verabsolutieren sie gern.
Verblüffenderweise findet sich die passende Kritik an den Kurz- oder Weitsichtfehlern, die dabei auftreten, oft schon bei Marx, als Kritik an den Linken seiner Zeit, von den deutschen knorrigen »wahren Sozialisten« über Proudhons Anarchisten bis zu Sozialdemokraten, deren Parteiprogramme Marx und Engels sorgfältig durchleuchtet und häufig mangelhaft gefunden haben. Unter ihren heutigen neuen Namen hätten sie ihnen bestimmt nicht besser gefallen.
Eine so explosive Mischung aus Antikapitalismus und Zerstörung linker Illusionen wie die von Marx ausgeheckte hat man seither nicht wieder erlebt. Bei manchen jüngeren Versuchen dazu wäre etwas mehr heiße Wut hilfreich, bei anderen etwas mehr kältere. Der Weg von der Utopie zur Wissenschaft scheint umkehrbar, wenn man die Parole »Eine andere Welt ist möglich!« schon für ein ausgewachsenes Programm hält. Aber vielleicht sind das Auf- und Abschwünge, vielleicht müssen ein paar neue Utopien sein, damit daraus wieder neue Wissenschaften werden können.
Daran, dass noch immer nichts Stringenteres zu haben ist als das, was der deutsche Flüchtling in England konstruierte, müssen nicht die Leute in den sozialpolitischen Chemielabors linker Theorie schuld sein. Es kann auch daran liegen, dass sie schlechtes Material verarbeiten müssen – an ihrer wirklichen gesellschaftlichen Lage also.
Niemand weiß derzeit, was sich ergeben wird, wenn jemand diese Lage ändert.