Wenn Erwachsene sich lange nach dem mehr oder weniger erfolgreichen Abschluss der Pubertät wieder (oder immer noch) mit den erfundenen Gestalten beschäftigen, die ihre Fantasiewelten bevölkerten, als diese Erwachsenen Kinder und Jugendliche waren, dann behauptet das küchenpsychologische Klischee gern, der Reiz dieser Beschäftigung läge darin, dass jene Gestalten nicht altern. Sie bleiben sich treu, auf dem Papier oder in anderen Medien. Sie bewahren unsere kindliche Energie, Begeisterungsfähigkeit und Naivität als externe Festplattenspeicher des Herzens. Sie heben das Staunen für uns auf, den Ehrgeiz der frühesten Welterschließung als Weltverwandlung, die vielgestaltigen Hoffnungen.
Das Klischee klingt triftig.
Bei mir stimmt es aber nicht.
Meine Kinderidole sind nicht jung geblieben. Die Lebenserfahrung hat sie nicht geschont: Batman war inzwischen mehrfach in Rente, außerdem unter anderem tot und querschnittsgelähmt. Superman hat geheiratet, Spider-Man auch. Die X-Men sind nicht wiederzuerkennen, Green Lantern hat im Zustand geistig-moralischer Verwirrtheit schwere Verbrechen begangen, die Avengers hatten mehr Vorsitzende als die KPdSU (die es im Gegensatz zu den Avengers nicht mehr gibt).
Das alles ist dokumentiert, in Comics, Büchern, Filmen, durch mehrere Datenträgerwechsel hindurch – auch die Medien nämlich, die das alles festhalten sollten, sind nicht dieselben geblieben.
Superheldinnen und Superhelden haben also seit den 1970er Jahren ärgere Wandlungen und schlimmere Niederlagen erlebt als der Erwachsene, der ich geworden bin. Als Kind brauchte ich diese Figuren, als Jugendlicher mochte ich sie, dann habe ich sie eine Weile vergessen. Will ich sie heute wiedertreffen, kann ich mir aussuchen, in welchem ihrer Lebensabschnitte das geschehen soll: Meine Comic-Bibliothek hat Türen zu ihren schlechtesten und ihren besten Zeiten. Und wenn das nicht reicht, kann ich ins Kino gehen, den Fernseher einschalten, im Netz kramen oder einen Datenträger in irgendeinen Player legen. Die Lebensläufe dieser Leute, die es nie gegeben hat, sind Menüs für mich geworden: Ich kenne sie als übermütige Kinder, launische Jugendliche, widersprüchliche Erwachsene oder tapfere Greisinnen und Greise.
Selbst einer, von dem der Comic-Kanon sagt, dass er sehr viel langsamer altert als die meisten Lebewesen, der Mutant Wolverine, der sich bereits im Zweiten Weltkrieg bewähren konnte, noch in ferner Zukunft seine grässlichen Zigarren schmauchen wird und im Kino das Gesicht von Hugh Jackman hat, ist mir im Seniorenstand begegnet; sogar in mehreren Varianten, von Chris Claremonts Days of Future Past (Zukunft ist Vergangenheit, 1981) bis zu Mark Millars Old Man Logan (2008).
Ich habe trotzdem nicht vergessen, wie das alles am Anfang war. Auf dem Spielplatz hielten wir die Superheldinnen und Superhelden wirklich für unveränderlich, unsterblich, unverwüstlich – und uns selbst gleich mit, denn die angemessene Form der ersten Liebe zu solchen Gestalten ist die der Identifikation. Wir kannten sie besser als einander, das heißt: Wir teilten sogar Geheimnisse mit ihnen, zum Beispiel die berühmten »Secret Identities«, die Wahrheit über das Doppelleben, das viele dieser Figuren führten – der gehbehinderte Arzt Donald Blake ist »in Wirklichkeit« der nordische Donnergott Thor, der verklemmte Zeitungsjournalist Clark Kent ist der unzerstörbare Superman. Weil wir Kinder waren, die von sich wussten, dass man ihnen äußerlich nicht ansehen konnte, was alles in ihnen steckte, leuchtete uns unmittelbar ein, dass die farbenprächtige und mächtige Seite dieser Leute, das, was man nicht übersehen konnte, wenn es sich enthüllte, ihr Eigentliches war, nicht die schäbige Hülle des Allzumenschlichen, in der sie doch vermutlich mehr Zeit verbrachten, ja, Tag für Tag fristen mussten, wie man eine Gefängnisstrafe absitzt. Was Kindern eine Wahrheit der Hoffnung darauf bedeutet, wer sie einmal werden können, ist für erwachsene Leserinnen und Leser solcher Comics aber zugleich ein großes Gleichnis auf das Subjekt-Selbstempfinden moderner Menschen allgemein: Weil ihr öffentliches Wesen rechtlich und politisch allen anderen gleichgestellt ist, also »nichts Besonderes« mehr, nicht von Geburt an wichtig wie bei den Adligen der vormodernen Zeit (deren Wappen in den Insignien der Superhelden, dem großen »S« oder der Fledermaus-Ikone weiterleben), müssen sie umso mehr Wert auf ihr reiches Innenleben legen. In diesem Sinn war Petrarca im 14. Jahrhundert der erste Superheld, denn der Verfasser von »Secretum Meum« entwickelte in diesem Werk die Anschauung, der nichtssagende Alltagsmensch könnte Hülle für etwas Ungeheuerliches sein (für einen Superdichter und Superphilosophen etwa), so wirkungsvoll, dass noch heute die über unsere modernen und nachmodernen Tiefenpsychologien vermittelten Reste davon den Menschen, nicht nur den Kindern, ein bisschen narzisstische Spannung zurückgeben für die Strapazen der formellen Gleichheit in modernen Gemeinwesen.
An irgendetwas ablesen können, so schlau waren wir Kinder allerdings schon, sollte man aber eben doch, wer wir eigentlich waren, in unseren Menschenmasken. Man steckte sich also das Taschenmesser, ein Pelikan-Tramp-Minibuch für eine Mark, die Lupe und zwei Kugelschreiber in den Hosenbund, weil Batman einen Multifunktionsgürtel hat, in dem er Sprengstoff, Fingerabdruckpulver und einen zusammengefalteten Hubschrauber aufbewahrt. Sollte ein anderes Kind behaupten, Thor sei stärker als der Hulk, wurde gestritten, erbitterter als später jemals über Politik.
Wollten die Erwachsenen wissen, warum man sich nicht für Fußballsammelbildchen begeisterte, sondern das Taschengeld lieber zuerst für Superman und Batman ausgab, wenig später dann für alles, was Marvel hieß, musste man ihnen beibringen, wie man Comics überhaupt richtig liest: Hier, mit diesem Hochformat links oben musst du anfangen, dann geht’s da diagonal südöstlich weiter, nein, nicht einfach nach rechts, und diese gegenüberliegende Seite musst du sogar kippen, die ist nämlich quer gemeint.
Vor allem der Zeichner Neal Adams hat es Laien vor lauter Layout-Experimentier-Furor damals manchmal wirklich schwer gemacht. Noch heute gehört, weil ich als Kind der 1970er bei Adams in die Sehschule gegangen bin, mein größter Respekt Künstlerinnen und Künstlern, die sich selbst bei den wildesten Bildmontagen auf souveräne Blicklenkung verstehen. (…)