Der 1818 geborene Karl Heinrich Marx war als junger Mann eher Schöngeist als Unruhestifter. Er schrieb Gedichtbändchen voll sentimentaler Aufwallungen. Zwei widmete er der Liebsten, eines dem Vater.
So benimmt sich keiner, den Wut antreibt, heiße oder kalte. Als Dichter war dieser Jüngling ein Heinrich Heine für Arme, schwärmerisch befangen im Stil der Zeit. So singt etwa ein Gebilde mit dem Titel Dichtung von 1837 pathetisch vom Dichten selbst, lässt aber auch schon den Denker erkennen, der alles, was ein Mensch hervorbringt, als Gemeinschaftserzeugnis zu lesen weiß, und sei’s ein nur von zwei Leuten geschaffenes: »Schmiegend an der Formen Milde, / Steht die Seele festgebrannt, / Aus mir schwollen die Gebilde, / Aus Dir waren sie entbrannt. / Geistig lösen sie die Liebesglieder, / Sprühn sie voll im Schöpferbusen wieder.«
Der junge Marx, um 1839
Das Elternhaus, das diesen Träumer hervorgebracht hatte, gehörte in Rheinpreußen zur seinerzeit wachsenden oberen Mittelschicht. Karls Vater war Rechtsanwalt und ein sowohl emanzipierter wie assimilierter Jude, nämlich 1824 zum Protestantismus übergetreten. Diese Glaubensrichtung hatte seinerzeit unter liberalen Bürgern den Ruf, das »vernünftigere Christentum« zu sein, die moderne, im Grunde: die bürgerliche Religion.
Seinen Sohn schickte Marx senior in Trier, wo die Familie lebte, aufs Gymnasium, danach zunächst in Bonn und endlich in Berlin auf die Universität zum Studium einerseits des Rechts, andererseits der Geschichte und der Philosophie. Seine philosophische Doktorarbeit schrieb Karl Marx in den Jahren 1840 und 1841. Ihr Thema war der Unterschied zwischen den naturphilosophischen Lehren zweier griechischer Denker, Demokrit und Epikur.
Beide waren Atomisten, die sich den Kosmos als etwas dachten, das aus kleinsten beweglichen Elementen, den sogenannten Atomen, zusammengesetzt war. Im Gegensatz zu anderen Großen der antiken wie der späteren Geistesgeschichte bauten Demokrit und Epikur sich das Weltgebäude damit aus konkreten Einzelheiten statt aus etwas, das der Welt der Begriffe angehörte, etwa »Formen« einer höheren Natur oder »Zwecken« einer Schöpferintelligenz.
Dass in dieser Gemeinsamkeit der beiden antiken Atomisten genug Raum für Unterschiede, ja Gegensätze blieb, erläuterte Marx in Worten, denen man ansieht, dass er schon zu dieser Zeit Fortschritte des Denkens wie des Lebens gerade da vermutete, wo Streit, Kampf und Widerspruch zu finden waren. An den atomistischen Lehren selbst zog ihn wohl vor allem der Umstand an, dass die Bewegung der Atome untereinander als eine tätige, produktive Unruhe begriffen werden muss, die dem späteren Bild des Doktoranden vom historischen Weg der Menschheit als einer Geschichte von Klassenkämpfen recht nahe kam. So kann man, wenn er in der Doktorarbeit beschreibt, wie es unter den Atomen zugeht, auch die Konflikte der antiken Gesellschaften ahnen:
Das Hervorgehen der Bildungen aus den Atomen, ihre Repulsion und Attraktion ist geräuschvoll. Ein lärmender Kampf, eine feindliche Spannung bildet die Werkstätte und Schmiedestätte der Welt. Die Welt ist im Innern zerrissen, in deren innerstem Herzen es so tumultuarisch zugeht. Selbst der Strahl der Sonne, der in die Schattenplätze fällt, ist ein Bild dieses ewigen Krieges. Man sieht, wie die blinde, unheimliche Macht des Schicksals in die Willkür der Person, des Individuums übergeht und die Formen und Substanzen zerbricht.
Auf den ersten Blick wirkt das Bild der Geschichte, das Marx hier ausspricht, wie das absolute Gegenteil eines Leitsatzes, in dem sein wichtigster Lehrer eine folgenreiche Auffassung davon, was Geschichte sei, zusammengefasst hat: »Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.« So sah das Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Von ihm empfing Marx stärkere Eindrücke als von irgendwem sonst, auch wenn er später viele dieser Eindrücke durch Verneinung verarbeitete. Hegel, für Intellektuelle wie Marx damals König, Erlöser und Endpunkt der deutschen Philosophiegeschichte, sagt hier etwas wie: Es geht unaufhaltsam zur Freiheit hin. Dieser Weg, suggeriert das Zitat, folgt einem ordnenden, vernünftigen Prinzip.
Das klingt zweifellos ganz anders als der chaotische Kampfplatz »Welt«, den Marx in seiner Doktorarbeit beschreibt. Wichtiger als die inhaltliche Seite der Sache ist indes die methodische: Hegel sieht nicht nur eine andere Wirklichkeit, er geht offenbar auch von einer entgegengesetzten Richtung aus an diese Wirklichkeit heran als sein Schüler. Dieser folgt Demokrit und Epikur offensichtlich darin, dass er beim Konkreten und Besonderen ansetzt und dann die großräumigen Erscheinungen als Folgen der Konflikte zwischen solchen Besonderheiten begreift, während Hegel umgekehrt das Allgemeine, die Freiheit und deren Bewusstsein, als Leitgesichtspunkte nimmt, um dann im zweiten Schritt die Vielfalt der Einzelfälle zu verstehen.
Der besondere Abschnitt der europäischen Geistesentwicklung, den Hegel abschloss, heißt »deutscher Idealismus«. Zu dieser Strömung rechnet manch kritische Chronik der Philosophie schon Kant. Zweifellos gehören auch Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) dazu. Kein anderer deutscher Idealist aber hat dem weiteren Denkweg der Menschheit so markant sein Zeichen aufgeprägt wie Hegel. Grund dafür ist ein Widerspruch: Es war ein Schüler Hegels, der die grundsätzlichste, selbst wiederum äußerst folgenreiche Kritik dieses deutschen Idealismus geleistet hat – eben Marx.
Gedanken wie der, dass die Weltgeschichte die Entfaltung des Bewusstseins der Freiheit sei oder dass in den Menschen, wenn sie sich durch Religion, Wissenschaft und Kunst auf verschiedene Stufen der Erkenntnis hocharbeiten, etwas wie ein »absolutes Wissen« zu sich selbst komme, oder dass in der Verfassung des preußischen Staates ein »Weltgeist« sich verwirklicht fände, wirken nicht erst heute weltfremd. Ansichten Hegels wie diese lassen sich leicht verspotten. Schon zu seinen Lebzeiten fand sich sein erfahrungsüberschreitender, also »transzendentaler« Optimismus ätzendem Hohn etwa von Hegels geschworenem Feind Arthur Schopenhauer (1788–1860) ausgesetzt.
Man sollte nun nach allem, was ich hier bislang von Karl Marx erzählt habe, annehmen, dass der junge Rheinländer in Berlin beim Geschichtsstudium doch auch ein anderes Geschichtsbild habe erlernen wollen als das Hegel’sche vom verlässlichen Fortschritt.
Wäre dies der Fall gewesen, hätte er etwa die Ansicht seines lebenslangen Vorbildes Goethe (den Marx »nicht nur den größten deutschen Dichter«, sondern »den größten Deutschen« überhaupt nannte) über die christliche Kirchengeschichte verallgemeinern können – Goethe hatte das Urteil gewagt, dieser geistlich bestimmte, von allerlei Ideen und Idealen geschmückte Strang des historischen Gewebes sei nichts als ein »Mischmasch von Irrtum und Gewalt«. Die christlichen Kirchen selbst sehen das selbstredend anders: Ihre Lehre behauptet, die Erlösung sowohl von Irrtum wie Gewalt werde sich zwangsläufig aus dem Geschichtsverlauf ergeben.
Eine Ähnlichkeit des Hegel’schen Fortschrittsdenkens mit der christlich-religiösen Heilsgeschichte, die das Menschenschicksal nach viel Sünde und Trübsal dank der Macht des verkörperten Wortes Gottes, des »Logos«, also Christus, schließlich ins Himmlische emporhebt, ist hier nicht zu übersehen: Bei beiden geht’s gut aus, weil ein richtiger, ein heiliger Gedanke sich durchsetzt.
Marx hatte mit der Religion schon als Student nicht mehr viel Geduld, weder mit der christlichen, noch mit den älteren, vom griechischen Götterhimmel bis zum Gott der Juden. Den grimmigsten Feind der alten griechischen Götter, den sie für seine Rebellion an einen Felsen ketten und dort foltern ließen, den Titanen Prometheus, nannte Marx in seiner Doktorarbeit sogar den »vornehmsten Heiligen und Märtyrer im philosophischen Kalender«. Der Verdacht, dass Hegels »Weltgeist«, seine »absolute Idee« und andere prominente Konstruktionen der idealistischen Lehre einfach philosophisch verbrämte Updates des alten religiösen Zierrats waren, Snob-Versionen der Glaubensinhalte »Gott«, »Engel« und so fort, lag nahe.
Tatsächlich ist der Ort im Werk von Marx, an dem dieser seine Vorbehalte gegen die Religion erschöpfend ausspricht, eine Auseinandersetzung mit Hegel, nämlich die »Vorrede« zu seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie aus dem Jahr 1844. Einige Sätze aus diesem Text sind sehr bekannt geworden, weshalb man sie genauer lesen sollte, als das oft geschieht. Meist werden sie heute als Breitseiten gegen jeden Glauben aufgefasst, als polemische Keulenschläge. Aber Marx watscht die Religion da nicht einfach ab, sondern lässt ihr, wie das im Kontext einer rechtsphilosophischen Erörterung ja einleuchtet, gewissermaßen ihr Recht. Vor allem spricht er aus, welchen entwicklungsgeschichtlichen Sinn sie seiner Ansicht nach hat, gerade so wie die Sklaverei in Nordamerika bei Frederick Douglass oder der König und das Patriarchat bei Rosa Luxemburg:
Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.
Für das Volk war Hegels Lehre natürlich weder gedacht noch gemacht und wurde bei jenen, die man damals so nannte, auch nicht sonderlich bekannt. Umso höher im Kurs aber stand sie bei der Intelligenz, den Zuständigen für Kunst und Wissenschaft, die in religiösen Belangen zumindest skeptisch waren, seit alle Gebildeten in Europa von jener Ideenwelt berührt worden waren, die man »Aufklärung« nennt.
Hegel, der 1770 geboren und also 19 Jahre alt war, als die Französische Revolution sich ereignete, musste als Philosophieprofessor auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn nicht nur mit der Abneigung des erklärten Atheisten Schopenhauer leben, sondern auch die wesentlich ernsteren Angriffe von Leuten ertragen, die ihn 1826 »wegen öffentlicher Verunglimpfung der katholischen Religion« in Misskredit bringen wollten. Während man von heute aus in seiner Fortschrittsgeschichte leicht eine getarnte christliche Heilsgeschichte sehen kann, waren die Frommen unter den Zeitgenossen umgekehrt davon überzeugt, dass selbst in seinen positiven Erwähnungen verlässlicher Größen wie »Gott« oder »Seele« in Wirklichkeit durchaus diesseitige, liberale, moderne Ideen lauerten. Die Katholiken schwärzten ihn wegen seiner Ansichten zur sogenannten Wandlung an, also zu Hostie und Wein, die als Bestandteil der katholischen Messe vom Ritus buchstäblich in Leib und Blut des Erlösers Jesus Christus verwandelt werden. Das hatte Hegel vom Katheder herab wohl als Gebrauch metaphysisch unzulässiger Erlösungsrequisiten geschmäht. Man griff ihn also an, und er verteidigte sich damit, ein Protestant, also Anhänger Luthers zu sein, der in Preußen den Schutz genoss, dem sein Bekenntnis staatlicherseits anempfohlen war. Unter diesem Lutheranermantel rochen die Verfolger freilich einen, der, wenn er nur gekonnt hätte, nicht nur diejenigen übernatürlichen Bestandteile des Christentums, die der Reformation zum Opfer gefallen waren, sondern lieber gleich alle losgeworden wäre. Hegel erwiderte streitbar,
dass ich in wissenschaftlichem Interesse, welches ich bei meinen Vorträgen allein vor Augen habe, es nicht bei milden und schüchternen, noch bei bloß verdammenden und absprechenden Allgemeinheiten habe bewenden lassen, sondern die katholische Lehre in ihrem Mittelpunkte, der Hostie, habe auffassen, von dieser sprechen und mit wissenschaftlicher Bestimmtheit über sie habe sprechen müssen und daher die Lehre Luthers als die wahrhafte und von der Philosophie ihrerseits für die wahrhaftige erkannte auseinandergesetzt und ausgesprochen habe. Ich würde übrigens hier in dieser Erklärung respektwidrig zu handeln glauben, wenn ich mir das Recht, das mir als lutherischem Christen zukommt, ausdrücklich vorbehalten wissen wollte, die katholische Lehre von der Hostie kurzweg für papistischen Götzendienst und Aberglauben erklären zu dürfen.
Eleganter hätte einer Religion mit beachtlichen irdischen Bataillonen wohl selbst Goethes Reineke Fuchs nicht die Zunge herausstrecken können.
Von der Aufklärung kehrt Hegel sich beim Gebrauch von Begriffen wie »Weltgeist« oder »absolutes Wissen« also nicht etwa ab, um die Gebildeten wieder der Mutter Kirche zuzuführen. Im Gegenteil: Er setzt in diesen scheinbar so religionsverwandten Elementen seines Denkens das Aufklärungsdenken auf eine überraschende Art gerade fort, spitzt es nämlich auf bedeutsame Weise zu. Das erkennt man, wenn man sich an ein wichtiges Prinzip der neuzeitlichen Wissenschaft erinnert, von dem die Aufklärung, als es sie bei ihrer verallgemeinernden Beschäftigung mit der neuzeitlichen Naturforschung bei Leuten wie Galilei und Newton ausfindig gemacht hatte, besonders beeindruckt gewesen war.
Dieses Prinzip war die Suche nach Regelmäßigkeiten im Naturgeschehen, die sich, wenn man das nötige Geschick, die nötige Geduld, das nötige Abstraktionsvermögen und einige Rechenkünste aufbrachte, in Form von mathematischen Gleichungen formulieren ließen, welche dann bei entsprechender Eingabe von messbaren Größen an ihren Variablenstellen Vorhersagen erlaubten.
Dies waren die sogenannten Naturgesetze, worunter etwa Newtons f = ma oder die Fallgesetze fielen, später Kürzel für alles Mögliche von der Federspannung bis zum Elektromagnetismus, aber auch Verlässliches in anderen Wissenschaften als der Physik, etwa die Strukturformeln und Reaktionsgleichungen der Chemie. Dass sich diese Naturgesetze technisch in der beschriebenen Weise nutzen ließen, erklärte man sich mit einer Analogiebildung: So, wie sich die Mitglieder eines Gemeinwesens an die in diesem gültigen Gesetze halten müssten, so halte sich eben alles, was in der Natur vorkomme, an besagte Naturgesetze. Wenn sich die Natur tatsächlich nach Prinzipien richtet, lässt sich eine merkwürdige Konsequenz daraus ziehen – Prinzipien sind nichts als ein anderes Wort für »Ideen«, eine idealistische Lesart des neuen instrumentellen Rationalismus lag also von Anfang an nahe.
Beim Vorausberechnen erwünschter oder unerwünschter Effekte menschlichen Handelns waren die von Galilei, Newton und ihresgleichen entdeckten Gesetze beobachtbar verlässlicher als die älteren biblischen Prophezeiungen; ein Umstand, aus dem ein Großteil der philosophischen Kriegsführung prominenter Köpfe des aufsteigenden Bürgertums gegen die Religion als Legitimationsideologie des Adels und der mit diesem verbündeten Kirche nicht wenig intellektuelles (und indirekt sogar moralisches) Kapital schlug. Auf Verse aus dem Alten und dem Neuen Testament und ein paar Bauernregeln war eine Welt gegründet, die sich als Scheibe missverstanden hatte, welche um die Sonne kreist. Das neue Naturgesetzwissen dagegen empfahl sich den Denkern einer neuen Welt als Fingerzeig, doch auch in Bezug auf das Gesellschaftsgeschehen vergleichbare Gesetzmäßigkeiten zu ermitteln.
Eines der wichtigsten Bücher, die diesem Fingerzeig nachgingen, kann als direkte Inspiration der Geschichtsphilosophie Hegels angesehen werden, nämlich der Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain (Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes, postum 1795) des französischen Aufklärers, Politikers der Revolution und Mathematikers Jean Antoine Nicolas de Caritat Condorcet (1743–1794). Im Bemühen, Gesellschaftsbewegungsgesetze ausfindig zu machen, die es an Erklärvermögen und Vorhersagekraft mit den Gleichungen der Physiker aufnehmen konnte, waren Condorcet andere bürgerliche Denker vorangegangen, zum Beispiel der Italiener Giambattista Vico (1668–1744), der in seiner La Scienza nuova (übersetzt als Grundzüge einer Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker), die in seinem Todesjahr 1744 erschienen waren, ein Tableau der kreisförmig zwischen Höhepunkten und Niedergängen umlaufenden Menschheitsentwicklung malte, das viel mit den Umlaufbahnen der Gestirne und mit den Beziehungen zwischen bürgerlichem Rechtsbegriff und neuzeitlichem Naturgesetzverständnis zu tun hatte.
Der »Mischmasch von Irrtum und Gewalt« wies nach Vicos, Condorcets und Hegels Ansicht also Muster auf, Bahnen und Regeln. Die Summe dieses Denkens seiner Vorgänger zog Hegel mit seinem wuchtigen Satz: »Was wirklich ist, das ist vernünftig.«
An diesem Satz trennten sich seine Schüler in zwei Lager, ein linkes und ein rechtes. Die beiden Richtungsangaben stammen aus der französischen Parlamentsversammlung im Streit um die Monarchie: Rechts vom König saßen Adel und Klerus, die alles so lassen wollten, wie es war, links saßen die Bürger, die es abschaffen und an seine Stelle einen Vernunftstaat setzen wollten.
Echos dieser Sprech-, Ruf- und Forderungsordnung, unter verwirrenden Verzerrungen einzelner Frequenzen, haben sich bis heute erhalten.
In Hegels Epoche, die noch unmittelbar vom Ereignis des Sieges der Linken in der Revolution von 1789 geprägt war, kam es auf die Spaltung im politischen und intellektuellen Leben in existenziellem Ausmaß an. Hegel hatte deshalb Schüler zur Rechten und zur Linken.
Die Rechts- oder Althegelianer sind heute kaum mehr bekannt. Namen wie Karl Rosenkranz (1805–1879) oder Leopold von Henning (1791–1866) tragen nur für ausgewiesene Spezialisten noch Bedeutung, weil diese Leute Hegel für einen Modernisierer des Christentums halten wollten, dessen Weltgeist tatsächlich ein über sich selbst aufgeklärter Gott sein sollte. Diese Meinung trat in dem Ausmaß in den ideengeschichtlichen Hintergrund zurück, in dem die Fragen und Antworten des Christentums sich endgültig von denen der Philosophie trennten.
Die Links- oder Junghegelianer dagegen, darunter Bruno Bauer (1809–1882), David Friedrich Strauß (1808–1874) oder Arnold Ruge (1802–1880), krempelten den Satz: »Was wirklich ist, das ist vernünftig!« von innen nach außen, weil vieles, was ihre Mitmenschen redeten, schrieben und dachten, eben nicht vernünftig war, und daher ihrer Meinung nach schlicht keinen Anspruch darauf sollte haben dürfen, noch länger für wirklich zu gelten – nicht nur die Hostie, sondern auch manche Zensur- und Polizeivorschrift. Zu dieser Fraktion gehörte auch der junge Marx.
Gegen Ende seines Studiums war er sich mit den anderen jungen Herren der Hegelschule einig, dass man zunächst das Allerunvernünftigste, die Religion, als Zielscheibe ins Auge fassen musste, freilich schon hier mit der leichten Akzentverschiebung, dass diese Zielübungen die Vorbereitung eines Angriffs auf alle anderen unvernünftigen sozialen Einrichtungen sein sollten, von erblichen Privilegien bis zum erzwungenen Verzicht der meisten Menschen auf allerlei irdische Freuden.
In diesen Zusammenhang gehört die Auseinandersetzung, die Marx mit Texten von Bruno Bauer unterm Titel Zur Judenfrage 1843, kurz vor seinem Übergang zum Kommunismus, verfasste, und die im Wesentlichen auf dem bürgerlich-liberal-links-universalistischen Standpunkt (also nahe bei Kant) stand, dass religiöse Partikularismen im modernen Staat mit gleichen Rechten nichts mehr zu suchen hätten. Heute würde man das eine Kritik an »Parallelgesellschaften« nennen; Marx und Engels haben diesen Text später allerdings (selbst-)kritisch als Dokument einer Phase im Denken des jungen Marx betrachtet, der noch stark in junghegelianisch-idealistischen Denkmustern befangen war.
Als scharfe Religionskritiker empfingen die Junghegelianer Impulse von einem Philosophen, der ein paar Jahre älter war als die meisten von ihnen, dem 1804 geborenen Ludwig Feuerbach. Die lesewilligen Liberalen im Deutschland jener Zeit, nicht nur die Junghegelianer, waren, wie Marx später schrieb und sich ausdrücklich mitmeinte, »alle eine zeitlang Feuerbachianer« – und zwar gerade in dem Moment, zu dem Marx sein Studium beendet hatte und gemeinsam mit dem Junghegelianer Bruno Bauer in die Redaktion eines Blattes eintrat, das einige Kölner bürgerliche Radikale soeben gegründet hatten, die Rheinische Zeitung.
Marx und Engels bei der Rheinischen Zeitung (Gemälde von E. Capiro, Lebensdaten unbekannt)
Feuerbach war nicht nur geistig, sondern auch als wirkliche, handelnde Person sowohl Bauers wie Marxens Held. 1832 hatte man dem religionskritischen Rebellen den Lehrstuhl weggenommen, 1836 seinen Versuch einer Rückkehr an die Akademie abgeblockt, und beinahe 10 Jahre nach Feuerbach, 1841, wurde nun auch dessen Anhänger Bauer das Recht, Vorlesungen abzuhalten, in Bonn aberkannt, weil er zu seinem Vorbild stand.
Der Ärger hing an Büchern, in denen Feuerbach sich mit den christlichen Kirchen und ihren Lehren anlegte, Das Wesen des Christentums (1841) und Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843). In diesen Werken werden sämtliche jemals aufgekommenen Ideen, auch und gerade die angeblich per Offenbarung auf die Welt gelangten religiösen, als Produkte des Menschen benannt.
Diese Art Kritik an den Lehren der Kirchen wurde von Feuerbachs Schriften ausgehend eine deutsche Mode, wie es sie in Frankreich in der Zeit vor der Revolution schon einmal gegeben hatte, als Aufklärer wie Paul Henri Thiry d’Holbach (1723–1789), Claude Adrien Helvétius (1715–1771) und Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) nicht nur die religiösen Vorstellungen, sondern auch ihre Metavoraussetzung, nämlich den gelehrten Glauben an den natürlichen logischen Vorrang, die höhere Würde der Idee vor der Erfahrungswirklichkeit angegriffen hatten.
Auch in den Schriften der französischen Bannerträger des Antiklerikalismus war die nun von Feuerbach wiederentdeckte Auffassung vertreten worden, die materielle Welt und in ihr die spezielle, biologische »Maschine Mensch« (La Mettrie) habe ausnahmslos alle Ideen, über die sich überhaupt diskutieren lasse, hervorgebracht, falsche wie richtige.
Aber die Wiederholung dieser Umkehrung des klassisch abendländischen (von Plato bis ins Mittelalter entwickelten und vertretenen) Bildes von der Rangordnung zwischen dem Ideellen und dem Materiellen auf Erden war dem jungen Karl Marx nicht genug. Hier trennte er sich von den Junghegelianern.