Was ist konstant, was ist variabel?
Um Variablen nicht nur im Sozialen von Invarianten unterscheiden zu können, muss man in der Lage sein, nicht essentialistisch, sondern relational zu denken. Das klingt kompliziert, ist aber einfach: Essentialistisch, also nach seinem angenommenen inneren Wesen bestimmt, ist zum Beispiel der Lungenfisch als entwicklungsgeschichtliches Zwischenwesen zunächst ein Tier mit Kiemen und Lunge. Relational bestimmt man dasselbe Tier, indem man es von anderen unterscheidet: von Fischen einerseits und Landtieren andererseits. Im Gegensatz zum kiemenatmenden Fisch kann der Lungenfisch auch an Land überleben, im Gegensatz zum lungenatmenden Landtier auch im Wasser. Essentialistisch heißt also: »Was ist das Ding für sich genommen?«, relational heißt: »Wie ähnelt es andern Dingen, wie ist es von diesen verschieden?«
Für die Gesellschaftsanalyse ist die relationale Sichtweise besonders günstig, weil so viele funktionale Eigenschaften des Sozialen historisch selbst relational ausgebildet wurden, etwa Planstellen der Arbeitsteilung, Geschlechterrollen, Klassendifferenzen. Jemand ist Chef, weil (und nur so lange) andere ihm gehorchen, er hat das nicht in den Genen oder anderen Essenzverankerungen, auch wenn der Erbmonarchismus und das Gottesgnadentum, an die Rosa Luxemburg in ihrer Parallelsetzung zwischen Patriarch und König erinnert, eben dies behaupten. Solche Behauptungen – eine gesellschaftliche Relation, ein Verhältnis zwischen Menschen, wird zu einer Eigenschaft einer Person oder eines Dings erklärt – hat Marx als Eckpfeiler zahlreicher herrschaftsstützender Ideologien identifiziert: Dort werden Variablen zu Invarianten des Gesellschaftlichen erklärt, damit man so tun kann, als müsse das, was irgendwie ist, auch zwingend genau so sein.
Marx neigte dazu, derlei mit dem Aberglauben der von der Bourgeoisie verachteten »Wilden« zu vergleichen, und kränkte abendländische, westliche, nördliche, reiche Nutznießer dessen, was im »Manifest« die »sogenannte Zivilisation« heißt, gern und oft damit, ihre Gewohnheit, bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse für Sachzwänge zu halten, mit der Frechheit, ihnen vorzuhalten, diese Gewohnheit sei um nichts besser, aufgeklärter oder klüger als der Animismus, der ein Stück Holz oder einen Stein anbetet, einen »Fetisch«. So spricht Marx beispielsweise immer dann vom »Warenfetisch«, wenn er sagen will, dass die Eigenschaft eines bestimmten, von Menschen erzeugten Dings, zum Verkauf zu stehen, einen Preis zu haben und so fort, in Wirklichkeit ein Verhältnis von Menschen zueinander (als Produzierende, Anbietende, Kundschaft usw.) und zu diesen Dingen ist. Denn in Tauschgesellschaften »haben« dieselben Dinge plötzlich keinen »richtigen Preis« mehr, und wer nur für sich selbst das herstellt, was man auch verkaufen könnte, wird den Preis und andere Wareneigenschaften schwerlich vermissen. Die Ware als soziale Form ist also eine der Variablen der sozialen Invariante, dass Menschen Dinge hervorbringen können, die ohne sie nicht auf der Welt wären.
Menschen produzieren Gebrauchswerte – und zwar sehr bald mehr, als sie verbrauchen, nämlich sobald sie rauskriegen, wie das geht. Man darf hier nicht nur an Nahrungsmittel denken – ein Haus steht eine ganze Weile; wenn es ordentlich gebaut ist, kann man Generationen den Hausbau ersparen. Gerade dieser Punkt macht das »Baugerüst«-Gleichnis von Douglass so griffig: Der von den Sklaven erwirtschaftete Reichtum wird nicht einmal von den gierigsten Sklavenhaltern ganz aufgezehrt. Einen solchen Überschuss gibt es in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Produktionsordnungen. Marx nennt ihn das Mehrprodukt, und sieht dieses Mehrprodukt sowohl als etwas, das in so gut wie jeder konkreten historischen Lage vorkommt, wie als etwas, das, großräumig gesehen, historische Lagen verändert. Das Mehrprodukt ist geschichtsbildend.
Zu der Zeit, als Marx sich vornahm, die Sache zu begreifen, gab es eine produktive Relation von Menschen zu Menschen, die den meisten Reichtum produzierte, den die Welt je gesehen hatte: das industrialisierte kapitalistische Produzieren. Diese Art, das Mehrprodukt zu erzeugen und damit zu wirtschaften, schien nicht allein energetisch effektiver als jede vorherige. Ihre Erschließung und Zuteilung von Ressourcen, ihre Varianten der Arbeitsteilung eroberten buchstäblich den Planeten.
Marx war nicht Hegel, er sah darin keine vom Weltgeist verordnete Zwangsläufigkeit. Noch in einer sehr späten Phase der Zusammenfassung seiner Funde zu dieser Frage, im Fragment gebliebenen, nach Marxens Tod von Engels finalisierten und herausgegebenen dritten Band des ökonomiekritischen Hauptwerks Das Kapital, sagt Marx, dass die verschiedenen Formen der Herstellung des Mehrprodukts durch abhängige, ihrer eigenen geschichtsbildenden Kraft »entfremdete«, also ausgebeutete gesellschaftliche Gruppen und der Aneignung dieses Mehrprodukts durch herrschende, politisch freie und also ausbeutende Gruppen im historischen Ablauf keineswegs sauber sortiert nacheinander und nach ihrer Überschreibung durch andere etwa unwiederholbar auftreten. Reste von alten Formen können lange fortbestehen, während Vorwegnahmen von neuen Formen manchmal sehr früh auftreten. Die vulgärmarxistische Eselsbrücke, entsprechend der zuerst die Sklaven das Mehrprodukt erwirtschafteten und die Sklavenhalter es an sich nahmen, um den Sklaven nur den Teil zu erstatten, der sie gerade noch überleben ließ, danach die Grundherren der Feudalzeit ihren Besitz von Grund und Boden zum Anspruch aufs landwirtschaftliche Mehrprodukt nutzten, das die Leibeigenen und anderen Bauern erwirtschaftet hatten, woraufhin schließlich die Kapitalisten als Fabrikherren ihre Proletarier reinlegten, mag als grobe Orientierung hingehen. Aber was die Kapitalisten treiben, ist komplizierter: Im Kapitalismus wird das Mehrprodukt in besonderer Gestalt, als Mehrwert, sozial erzeugt und privat angeeignet, wo es sich im sogenannten Profit niederschlägt – formal als Verwandlung von Geld in Waren und dieser Waren wiederum in mehr Geld. Dieser Vorgang zieht und saugt permanent auch ältere und andere Wirtschaftsweisen und Erzeugungsformen des Mehrprodukts in seine Spiralen, zum Beispiel die Grundrente, den Gewinn aus Landbesitz.
Von dem Moment an, da Marx sich in London nach den fehlgeschlagenen kontinentaleuropäischen Umsturzversuchen von 1848 ernstlich mit diesen Problemen befasste und Anlauf zum Kapital nahm – erste Station dieses Weges war die Veröffentlichung des Traktats Zur Kritik der Politischen Ökonomie 1859, bis zum ersten Band des Hauptwerks ging’s dann noch einmal acht Jahre –, wurde ihm klar, dass die Erklärung der Herkunft des Kapitalismus einerseits und die Betrachtung seiner inneren Funktionsweise andererseits einander nicht nur ergänzen, sondern auch widersprechen konnten, dass er also auf ein wahres Schlangennest an dialektischen Widersprüchen gestoßen war und es beispielsweise auch mitten im Kapitalismus noch (oder: wieder) Sklaverei geben konnte, und umgekehrt, dass selbst die Analyse und Bestimmung dessen, was nun eigentlich »Sklaverei« sei, auf verschiedene Ausprägungen dieses Verhältnisses achten muss.
Es macht eben auch für die Sklaven selbst einen Unterschied, ob man sich auf einer frühen (von Marx »patriarchalisch« genannten) Sklavereistufe befindet, auf der die Sklaven etwa nur direkt für den Verbrauch des Haushalts ihres Herrn produzieren, oder auf einer späten, sozusagen der Südstaaten-Stufe, auf der sie für den Weltmarkt produzieren (diesen Unterschied kennen gerade die rechnenden Sklavenhalter sehr gut).
Dasselbe bei feudalen und quasifeudalen Zuständen: Auch da gibt’s eine primitive Stufe, bei welcher »der Grundeigentümer«, wie Marx im erwähnten dritten Kapital-Band schreibt, auf einer Gutswirtschaft »die Bebauung für eigene Rechnung betreibt, die sämtlichen Produktionsinstrumente besitzt, und die Arbeit sei es unfreier, sei es freier, mit Naturallieferung oder mit Geld bezahlter Knechte ausbeutet«. Die primitiven Formen »auf eigne Rechnung« sind die einfachsten, der differenzierteren Analyse fast nicht zugänglichen:
Grundeigentümer und Eigentümer der Produktionsinstrumente, daher auch direkter Exploiteur [Ausbeuter] der unter diese Produktionsinstrumente zählenden Arbeiter, fallen hier zusammen. Ebenso fallen Rente und Profit zusammen, es findet keine Trennung der verschiedenen Formen des Mehrwerts statt. Die ganze Mehrarbeit der Arbeiter, die sich hier im Mehrprodukt darstellt, wird ihnen direkt vom Eigentümer sämtlicher Produktionsinstrumente, zu denen der Boden und in der ursprünglichen Form der Sklaverei die unmittelbaren Produzenten selbst zählen, extrahiert. Wo kapitalistische Ausbeutung vorherrscht, wie in den amerikanischen Plantagen, wird dieser ganze Mehrwert als Profit aufgefaßt; wo weder die kapitalistische Produktionsweise selbst existiert, noch die ihr entsprechende Anschauungsweise aus kapitalistischen Ländern übertragen ist, erscheint er als Rente.
Dass, wie man sieht, der von Unterworfenen hervorgebrachte Reichtum in ganz verschiedenen Formen erscheinen kann, aber jedesmal recht ähnliche soziale Gründe hat, dass er unterschiedlich angeeignet wird, dass Besitz einer bestimmten Sorte Vermögen, welche erlaubt, fremde Arbeit auf gänzlich abstrakte Art zu kommandieren, Vorentscheidungen darüber trifft, wer mit wem was anstellen darf – dieser vertrackte Zusammenhang verurteilt das, was Marx mit einem zu seiner Zeit schon fest etablierten Namen »politische Ökonomie« nennt, von vornherein dazu, eine äußerst verwickelte Wissenschaft zu sein.
Aufgekommen ist diese Wissenschaft in der schottischen Aufklärung, also an einem wahren Hot Spot des bürgerlichen Emanzipationsdenkens. Bürgerliche Philosophen machten sich da, sobald es bürgerliche Philosophen gab, Gedanken über das Eigentum, die weit weniger naiv waren als manches, was sich heute Kapitalismuskritik schimpft.
Dass es mit dem Recht auf Besitz eine besondere Bewandtnis hat, weil es andere Rechte einschränken, ja deren Existenz bedrohen kann, steht am Anfang der Überlegungen bürgerlicher Denker zum Thema.
Wenn Besitz heißt, mir gehört das, was ich mir nicht nehmen lasse, was ich verteidigen kann, wieso sollte dann nicht auch jemand den Nebenmenschen besitzen dürfen, oder zumindest etwas, das dieser zum Leben braucht, woraufhin er ihn erpressen kann, auf manches Recht zu verzichten? Die Schwierigkeit liegt auf der Hand: Kann ein Recht, das andere Rechte gefährdet, überhaupt ein Recht sein?
Für den Bourgeois musste irgendeine Form von Eigentumsrecht notwendigerweise zu den Grundrechten gehören – aus gar nicht einmal schäbig eigennützigem Grund: Diese Bürger konnten ein trübes Lied singen von ökonomisch-politischen Einrichtungen, in denen der schönste Einfall zur Produktivitätssteigerung nichts brachte, weil irgendein feudaler Idiot dessen Erzeugnisse einfach legal rauben konnte.
Die Aneignung, die auf der Scholle geschah, war offen – Herrschaft erschien als nackter Diebstahl, und der Wunsch nach Gerechtigkeit als Gleichheit der Ausgangsbedingungen für Teilnehmer am Markt verlangte, dass derlei verboten sein soll. Wer Diebstahl verbieten will, muss Besitz definieren und Besitzrecht. Die naheliegende Idee, auf die führende Denker des Bürgertums in diesem Moment verfielen, war, das Besitzrecht an die Produktivität zu koppeln: Schmarotzer raus, die Adligen bringen nichts hervor, im Gegensatz zu uns Unternehmern, die ja Wertschöpfung organisieren. Die erste Form der Erläuterung (oder weniger fromm gesagt: der Rechtfertigung) des Eigentums in der bürgerlichen Ideologie war folglich eine Art Urheberrecht: Der Mensch gehöre sich selbst, weil ihn sein Möchtegernbesitzer nicht hergestellt habe, und da das so sei, müssten ihm auch seine Hervorbringungen gehören, d. h.: alles, was eine Person erarbeitet, sich produktiv aneignet – so schrieb John Locke (1632–1704) in seinem grundlegenden Text moderner politischer Philosophie Two Treatises of Government (Zwei Abhandlungen über die Regierung) 1690.
Die hübsche Folgerung ist eine jener in der Rhetorik sehr beliebten »weil«-, »daher«- und »deshalb«-Fügungen, die mit Logik nicht mehr gemein haben als die syntaktische Gestalt (»weil ich aus Köln komme, deshalb bin ich lustig« – na ja). Was Locke hier als Grund für das Postulat »Eigentum ist Menschenrecht« setzt, bedarf durchaus selbst einer Begründung, die er aber lieber weglässt; vielleicht ist ihm auch keine eingefallen. Warum denn gehört mir, was ich herstelle? Schon die Voraussetzung »Am Recht auf die eigene Person zweifelt niemand, kein Mensch kann auf mich Anspruch erheben, weil mich kein Mensch geschaffen hat!« ist windig. Denn es verhält sich in der gesellschaftlichen Welt, wie Marx und Engels in der Deutschen Ideologie zugespitzt sagen, in der Tat so, »dass die Individuen allerdings einander machen, physisch und geistig« und gerade der »gemachte Mann« von allerlei Arbeit anderer dazu gemacht wird. Wir könnten nämlich nicht einmal wie Menschen denken, also: im eigenen Kopf sprechen, d. h. nicht einmal jenes Verhältnis zu uns selbst und unserer sozialen wie sonstigen Umwelt erringen und aufrechterhalten, das man Bewusstsein nennt, wenn uns niemand die Sprache beibringen würde.
So anfechtbar der Lockesche Gedankengang ist, war mit ihm dennoch die erste gedankliche Herleitung des Besitzrechtes aus der Herkunft dieses Besitzes ausgesprochen. Damit, was hieraus für die Umgangsformen und für kompliziertere Gesellschaften als die des Selbstverbrauchs und des Tausches folgt, hat sich die nachfolgende Wirtschaftstheorie vor allem in Gestalt der Frage nach dem Wert befasst – dem Wert der Güter, der Arbeit und anderer, abstrakterer Wesenheiten.