Prolog
Elfstedentocht, 1997
I
js kost mensenvlees
– Eis kostet Menschenfleisch, so lautet ein altes Sprichwort, und der alte Mann hat es immer beherzigt und Vorsicht walten lassen. Sosehr er es auch liebt, hier draußen in der flachen Weite auf Kufen über die zugefrorenen slooten, meeren
und vennen
zu gleiten, ist er sich doch bewusst, dass das Eis ein falscher Freund ist. Mehr als ein Mal hat er erlebt, wie es von anderen seinen Tribut gefordert hat. Er selbst hat oft Glück gehabt. Doch er fürchtet, dass dies nun aufgebraucht ist.
Mit den Jahren hat der alte Mann ein besonderes Gespür für Eis entwickelt, und deshalb weiß er, dass es an dieser Stelle gefährlich ist. Die Nacht ist schwarz, und er kann kaum etwas sehen. Doch er fühlt es. Die Kufen seiner Schlittschuhe stoßen immer wieder gegen Risse und Furchen, die sich wie ein Geflecht aus Adern über den gefrorenen Kanal ziehen. Er darf nicht stürzen. Wenn er jetzt fällt, wird er vor Erschöpfung liegen bleiben. Er wird sich der Dunkelheit hingeben, die den Schmerz von ihm nimmt, und sich von ihr forttragen lassen.
Das grelle Licht eines Suchscheinwerfers trifft ihn. Es kommt von dem Hubschrauber, der knatternd über den Kanälen und Seen kreist und nach Läufern sucht, die Hilfe benötigen. Für einen Moment sieht der alte Mann im Lichtkegel das Gesicht des Jungen neben sich, seines treuen Gefährten, der ihm das gesamte Rennen lang nicht von der Seite gewichen ist. Auch er ist mit den Kräften am Ende. Seine Augenlider sind eisverkrustet, seine Lippen blau. Er keucht bei jedem Atemzug.
Wenn der Junge nicht gewesen wäre, denkt der alte Mann, hätte ich
es nie so weit geschafft.
Wenigstens haben sie jetzt den Wind im Rücken. Diesen verfluchten Wind, der ihnen die Kräfte geraubt hat. Nachdem sie den kleinen Ort Stavoren am Ijsselmeer passiert hatten, kam er direkt aus Nordost, der Richtung, in der das Ziel lag. Es müssen mindestens sechs oder sogar sieben Windstärken gewesen sein, schätzt der alte Mann, eine Wand aus Luft, die sich ihnen über Stunden entgegengestemmt hat.
Doch sie haben es bis nach Dokkum geschafft, der nördlichsten Station des Elfstedentocht
. Und ist man erst in Dokkum, so besagt es ein weiteres Sprichwort, schafft man das letzte Stück bis nach Leeuwarden zur Not auch auf Socken. Denn dann hat man Rückenwind.
Wenn es doch nur so einfach wäre.
Der Wind hat von ihnen abgelassen, aber die Kälte ist geblieben. Sie hat sich wie Zement im Körper des alten Mannes ausgebreitet, ist ihm bis in die Knochen gefahren und droht sie zu zersprengen.
Und seine Beine. Sie haben ihm bei vielen Rennen treu gedient, ihn auch heute fast zweihundert Kilometer getragen. Doch nun fühlen sie sich an wie Streichhölzer, die jeden Moment unter ihm zersplittern könnten.
Vielleicht hat er sich überschätzt.
Eine Hand berührt ihn an der Schulter, und er blickt zu dem Jungen hinüber, der mit ausgestrecktem Arm in die Ferne zeigt. Der alte Mann fährt sich mit dem Handschuh über die Augen und wischt die Eiskristalle weg. Verschwommen erkennt er die hellen Punkte. Es müssen die Lichter der Stadt sein. Leeuwarden. Dann ist es wirklich nicht mehr weit.
Adrenalin schießt ihm durch den Körper, ein letztes Aufbäumen. Der alte Mann beschleunigt mit langen Gleitschritten, und der Junge zieht mit, hängt sich in seinen Windschatten. Wie schon so oft an diesem Tag bilden sie eine Einheit gegen die Kräfte der Natur.
Schließlich macht die abgesteckte Strecke eine Kurve. In einem weiten Bogen biegen sie auf einen schnurgeraden Kanal ein, die Bonkevaart
, die Zielgerade des Elfstedentocht. Zu beiden Seiten steht ein Meer aus Zuschauern, wie es der alte Mann noch nicht gesehen hat. Es müssen Tausende sein, wenn nicht gar Zehntausende. Er sieht blau-weiß-rote Fahnen, hört den Jubel der Menge.
Noch ein Mal wird er ihr Held sein.
Das Eis auf diesem Abschnitt ist glatt und frei von Unebenheiten. Sie beschleunigen weiter, gleiten mit langen synchronen Zügen durch das Menschenmeer.
Nein, sie gleiten nicht. Sie fliegen
.
Dann richtet der alte Mann sich auf und reicht dem Jungen die Hand. Gemeinsam passieren sie die Ziellinie. Eine Welle puren Glücks durchläuft den alten Mann. Er hat es wieder geschafft. Vermutlich zum letzten Mal in seinem Leben.
Der alte Mann läuft direkt weiter zum Stand der Wettkampfrichter, wo er seine Teilnehmerkarte abstempeln lässt. Auf der kleinen Pappkarte sind die Namen der Orte und Städte, die er heute passiert hat, mit einem Zeitstempel vermerkt. Zusammen mit der Karte überreicht einer der Wettkampfrichter ihm das elfstedenkruisje
, jene Medaille in Form eines Malteserkreuzes, die alle Läufer erhalten, die es innerhalb des Zeitlimits ins Ziel schaffen.
Er geht zu den Helfern hinüber, nimmt dankbar einen warmen Tee entgegen, lässt sich eine Decke über die Schultern legen. Der alte Mann schaut auf die Stempelkarte.
Leeuwarden,
22
.
08
Uhr
Fünf Stunden länger als beim letzten Mal. Unbehagen mischt sich in seine Freude. Denn er muss daran denken, was den Jungen und ihn aufgehalten hat.
Als er aufblickt, sieht er seine Frau. Sie kommt zu ihm gelaufen, umarmt ihn und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Bevor er etwas
sagen kann, sind Reporter da, die ihre Kameras auf ihn richten und ihn mit Fragen bestürmen.
Aus dem Augenwinkel bemerkt der alte Mann den Jungen.
Er steht etwas abseits, hält ebenfalls ein elfstedenkruisje
in der Hand. Stolz liegt in seinem Blick, doch da ist auch noch etwas anderes, eine unausgesprochene Frage. Die Euphorie des alten Manns verblasst. Er weiß, was der Junge auf dem Herzen hat. Ihn beschäftigt derselbe Gedanke.
Sie wissen beide, was sie heute Nacht gesehen haben, wovon sie Zeuge geworden sind.
Der alte Mann zögert. Dann schüttelt er unmerklich den Kopf. Der Junge nickt, er hat verstanden.
Manchmal, denkt der alte Mann, nennen sie den Elfstedentocht auch den tocht der mysteriёn
. Und vielleicht ist es besser, wenn das Mysterium dieser Nacht für immer verborgen bleibt.