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Elfstedenkoorts
Bartlehiem, heute
D
er Winter hatte Fryslân,
wie die nördlichen Niederlande im Volksmund genannt werden, seit Wochen fest im Griff. Eine weiße Kruste bedeckte das flache weite Land, und ein eisiger Nordwind schaufelte beständig weitere Schneemassen heran. Sogar in den Städten hatte der Winterdienst seine liebe Not, die Straßen frei zu halten. Auf vielen Häusern lag inzwischen eine so große Schneelast, dass manche Dachkonstruktion das Gewicht nicht mehr trug. Erst am Wochenende war in der Nacht die Decke einer Turnhalle in Leeuwarden heruntergekommen. Auch die Wasserwege waren nur noch eingeschränkt befahrbar, selbst auf dem Ijsselmeer kamen die Schiffe nicht mehr ohne kleine Eisbrecher durch. Zwar schien heute die Sonne vom wolkenlosen Himmel, doch für den Verlauf der Woche sagte der Wetterdienst neue Niederschläge voraus, und auch ein ausgewachsener Wintersturm war nicht ausgeschlossen.
Der Schnee knirschte unter den Stiefeln von Commissaris
Griet Gerritsen, als sie stehen blieb, um die Maschinenpistole zu überprüfen, die sie an einem Ledergurt um die Schulter trug. Es war eine Heckler & Koch MP5. Ihr letztes Training mit einer solchen Waffe lag schon eine ganze Weile zurück.
Sie kontrollierte, ob das Gewehr gesichert und der Feuermodus auf Einzelschuss gestellt war.
Dann ließ sie den Blick prüfend über die Menschenmenge bis zu der kleinen weißen Holzbrücke wandern, die sich bogenförmig über den zugefrorenen Kanal spannte. Dutzende Zuschauer drängten sich
darauf und feuerten die Eisläufer an, die unter ihnen hindurchjagten. Am Fuß der Brücke stand ein Reporter mit Mikrofon vor einer Fernsehkamera und berichtete über das Geschehen. Weitere Schaulustige hatten sich zu beiden Seiten des Ufers versammelt. Manche jubelten, schwenkten niederländische Nationalfahnen, andere kümmerten sich um ihr leibliches Wohl und hatten sich am Imbissstand mit einer Portion friet
oder poffertjes
versorgt.
So unwirtlich das Wetter auch sein mochte, Griet wusste, dass sich ihre Landsleute dieser Tage im Fieber befanden – genauer gesagt, einer besonderen Art von Fieber, dem elfstedenkoorts,
hervorgerufen von der feurigen Hoffnung auf eine Neuauflage des Elfstedentocht.
Der Elfstedentocht, ein Nationalmonument der Niederlande, war das weltweit längste und härteste Langstreckenrennen auf Natureis im Eisschnelllauf. Innerhalb von achtzehn Stunden mussten die Läufer – Profis wie Amateure – eine über zweihundert Kilometer lange Strecke zurücklegen, die sie von Leeuwarden aus über Kanäle, Grachten und Seen durch die historischen elf Städte von Fryslân
führte, darunter Orte wie Sneek, Sloten, Stavoren, Hindeloopen oder Workum.
Seit seiner Erstaustragung im Jahr 1909 hatte das Rennen bislang nur fünfzehn Mal stattgefunden. Und der letzte Elfstedentocht lag nun schon über zwanzig Jahre zurück. Seit 1997 waren die Winter ausnahmslos zu warm gewesen, das Eis nicht dick genug, wenn sich überhaupt welches gebildet hatte.
Dieses Jahr war der Winter so kalt wie lange nicht mehr. Damit bot sich eventuell die Gelegenheit für eine Neuauflage des sagenhaften Rennens. Und da der Klimawandel unverändert fortschritt, würde es vielleicht für eine lange Zeit die letzte Möglichkeit sein.
Die Vorfreude war gigantisch, und entsprechend hoch stufte die politie
den Elfstedentocht ein, nämlich als Ereignis der Kategorie GRIP
4, womit das Rennen einem nationalen Katastrophenfall gleichgesetzt war. Dabei handelte es sich nicht um Übertreibung. Der tocht der tochten,
die Mutter aller Rennen, wie der Elfstedentocht auch genannt wurde, würde die ganze Nation mobilisieren. Aus allen Landesteilen würden die Menschen nach Fryslân
strömen, zudem rechnete man mit Tausenden von Besuchern aus den Nachbarländern. Das allein genügte, um den Schutz der Teilnehmer und Zuschauer für die politie
zu einer Herkulesaufgabe zu machen. Erschwerend kam hinzu, dass der Elfstedentocht die maximale Aufmerksamkeit der Medien genießen würde und damit eine perfekte Gelegenheit für einen Anschlag war. Als Horrorszenario galt allen das Attentat auf den Marathonlauf in Boston vor etlichen Jahren. Daher setzte die politie
alles daran, das Ereignis zu schützen, was bedeutete, dass derzeit fast jeder Polizeibeamte in den nördlichen Niederlanden in irgendeiner Form mit dem Elfstedentocht befasst war.
Einer der neuralgischen Punkte der Veranstaltung war die kleine weiße Holzbrücke in der Nähe des Weilers Bartlehiem, mitten im friesischen Nirgendwo, wo Griet Gerritsen sich gerade befand. Hier wurden besonders viele Besucher erwartet.
»Wusstest du, dass Gott höchstpersönlich das bruggetje
von Bartlehiem erbaut hat?«, fragte Pieter de Vries, als er neben Griet trat. »Es soll am elften Tag gewesen sein.«
»Was du nicht sagst.« Griet zog die Wollmütze tiefer in die Stirn und betrachtete ihren Kollegen mit einem Schmunzeln. Pieter trug ebenfalls die dunkelblaue Einsatzuniform mit der Aufschrift politie
auf dem Rücken, und so, wie die Jacke über seinem Bauch spannte, bestand kein Zweifel, dass er sie lange nicht mehr angezogen hatte.
»So besagt es zumindest eine friesische Legende.« Er strich sich über den grau melierten Vollbart.
»Dann wird es wohl stimmen.«
Pieter liebte seine Heimat, und Griet hatte in dem knappen Jahr, das sie nun zusammenarbeiteten, gelernt, dass es wenig Sinn hatte, mit ihm über friesische Weisheiten und Eigenarten zu diskutieren,
selbst wenn sie einem noch so seltsam erschienen. Und im Grunde kamen ihr seine Exkurse durchaus gelegen, denn auf diese Weise lernte sie ihre neue Heimat besser kennen.
Griet hatte sich vor etwas weniger als zwölf Monaten von Europol in Rotterdam nach Leeuwarden versetzen lassen, nachdem ihr Kollege und Geliebter Bas Dekker durch ihre Schuld bei einem Einsatz ums Leben gekommen war. Nun arbeitete sie für die Districtsrecherche Fryslân,
die sich in der Region zwischen Stavoren im äußersten Westen, Assen im Osten und von den Watteninseln bis hinunter nach Lemmer mit Kapitalverbrechen aller Art befasste.
Griet wurde nur langsam mit den Leuten hier oben warm. Den Friesen eilte nicht zu Unrecht der Ruf voraus, ein eher kühler, verschlossener Menschenschlag zu sein. Ihr Kollege Pieter de Vries war ihr daher eine große Hilfe. Sie wünschte nur, dass er sich manchmal etwas kürzer fasste.
Während sie ihre Patrouille fortsetzten, die Maschinenpistolen auf den Boden gerichtet, erklärte Pieter, dass die unscheinbare Holzbrücke von Bartlehiem bei den Zuschauern so beliebt war, weil sie von den Läufern zweimal passiert wurde. »Sie kommen zunächst aus westlicher Richtung über die Finkumervaart,
laufen unter der Brücke durch auf das Dokkumer Ee
in Richtung Norden«, sagte Pieter und wies dabei auf den Verlauf des Kanals. »Wenig später kommen sie aus Dokkum zurück, biegen bei der Brücke nach Osten auf die Ouderkerkvaart
ab und machen sich auf die letzten Kilometer bis ins Ziel nach Leeuwarden. Nirgendwo sonst kommst du den Läufern so nahe wie hier! Wirklich fantastisch!«
»Interessant …«, murmelte Griet.
Sie wusste die Begeisterung des Kollegen für das Traditionsrennen durchaus zu schätzen, allerdings galt ihre Aufmerksamkeit gerade jemand anderem, nämlich der Frau vor dem Imbissstand. Sie hatte eine Bobfrisur, und die wasserstoffblonden Haare fielen ihr strubbelig
ins Gesicht. Griet hatte sie erstmals bemerkt, als sie sich eine Portion friet
kaufte. Das war vor geschätzt zehn Minuten gewesen. Seitdem hatte diese Frau an einem Stehtisch gestanden und keinen einzigen Bissen gegessen. Sie stand lediglich da und schien durch ihre getönte Sonnenbrille die Zuschauermenge zu beobachten.
Ein Knistern erklang in dem kabellosen In-Ear-Kopfhörer, den Griet trug, und der Einsatzleiter meldete sich: »Team zwei. Überprüft den Mann, der sich auf die Brücke zubewegt. Schwarze Haare, Bart, graue Jacke, roter Rucksack, Getränkebecher in der Hand.«
»Negativ«, erwiderte Griet. »Hab ihn schon gecheckt. Keine Gefahr.«
Der Mann hatte vorhin auf der anderen Seite des Ufers bei seiner Freundin gestanden, war herübergekommen und zum Getränkestand gegangen. Nun war er auf dem Rückweg. Davon abgesehen, erschien es Griet wenig wahrscheinlich, dass ein potenzieller Attentäter seine Bombe in einem knallroten Rucksack durch die Gegend trug.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Griet, wie sich die Frau mit der Bobfrisur vom Stehtisch löste und in Bewegung setzte. Die Schale mit Pommes frites ließ sie stehen. Sie tauchte in die Menge ein. Und dann ging alles sehr schnell.
Die Frau öffnete die Jacke. Griet sah die Klinge eines Messers aufblitzen. Im nächsten Moment lagen die ersten Menschen schreiend und verletzt auf dem Boden.
Während Griet eine Meldung über Funk machte, eilte Pieter in Richtung der Frau, die Maschinenpistole im Anschlag. Griet wollte ihm hinterher, kam aber nicht gegen die panisch in alle Richtungen flüchtenden Zuschauer an.
Über Funk hörte Griet die Stimmen der Kollegen.
»Sie ist auf der Brücke.«
»Jemand freies Schussfeld?«
»Negativ.«
Dann Pieters Stimme: »Bin da … sie … oh, potverdikkie
…«
Die Menschenmenge löste sich langsam auf, und Griet lief weiter, bis sie endlich freies Sichtfeld hatte.
Die Attentäterin stand auf der Mitte der Brücke. Sie hatte Pieter in ihrer Gewalt, das Messer an seinem Hals. Seine Waffe lag auf dem Boden.
Die Frau blickte kurz um sich, abgelenkt von den Kollegen, die auf der gegenüberliegenden Seite des Ufers herangestürmt kamen. Das genügte Griet.
Es war reine Routine, ein oft geübter Ablauf, der kein Nachdenken erforderte. In einer fließenden Bewegung hob sie die Maschinenpistole, entsicherte, legte an, zielte und schoss.
Auf Pieters Brust breitete sich ein roter Fleck aus. Mit überraschtem Gesichtsausdruck sank er zu Boden.
Griet gab zwei weitere Schüsse ab und schaltete die Attentäterin aus.
Dann wurde es still um sie herum.
In Gedanken war Griet plötzlich wieder im Rotterdamer Hafen, an jenem Abend vor nunmehr sechs Jahren, und blickte in die leblosen Augen von Bas Dekker, ihrem Kollegen und Geliebten. Sie hatte nicht auf die Verstärkung gewartet, sich stattdessen in eine ausweglose Situation gebracht, als sie auf ein Frachtschiff gestürmt war, um das Leben von Flüchtlingen zu retten, die in einem Container geschmuggelt wurden. Sie lag angeschossen auf dem Boden, Bas eilte ihr zu Hilfe. Dann traf ihn die tödliche Kugel.
Hätte sie sich damals an die Regeln gehalten, wäre er noch am Leben. Das Ereignis hatte Griets Leben aus der Bahn geworfen, und Friesland sollte ein Neuanfang sein. Sie hatte sich geschworen, nie wieder das Leben eines Kollegen zu gefährden.
Langsam fand Griet zurück in die Wirklichkeit.
Ihr Blick ruhte immer noch auf Pieter, der am Boden lag. Sie atmete
keuchend ein und aus, die eisige Luft brannte in ihrer Lunge.
Pieter blinzelte. Er richtete sich auf und rückte seine Brille mit schwarzem Holzrahmen zurecht. Dann stand er auf, hob seine karierte Schiebermütze auf, die auf den Boden gefallen war, und klopfte sie ab, bevor er sie wieder aufsetzte. Er machte sich nicht die Mühe, den Fleck wegzuwischen, den die Farbpatrone hinterlassen hatte, sondern kam direkt zu Griet herüber. Vorsichtig legte er die Hand auf den Lauf der Maschinenpistole, die sie noch immer im Anschlag hielt, und drückte ihn nach unten.
»Griet …«, sagte er, »es ist alles in Ordnung.«
Sie bemerkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Pieter, ich wollte …«
»Ich weiß. Es ist doch alles gut.«
»Nein, nichts ist gut. Das sollte nie wieder …«
»Griet.« Er fasste sie an beiden Schultern und blickte sie eindringlich an. »Es war nur eine Übung. Ich lebe. Und – hej, du hast die Attentäterin erwischt!«
Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und lockerte ihre Finger, die sich um die Waffe krampften.
Über Funk kam die Stimme des Einsatzleiters. »Okay, Leute, es ist vorbei. Einpacken und aufräumen. Tut uns leid um dich, Pieter. Wir werden eine Gedenktafel für dich aufhängen. Ist nicht alles so gut gelaufen heute. Die Nachbesprechung muss trotzdem ausfallen … Der Polizeichef gibt später eine Pressekonferenz zum Elfstedentocht und erwartet mich. Wir holen das dann nächstes Mal nach.«
Um sie herum löste sich die Kulisse langsam auf. Die Verletzten erhoben sich, ein Uniformierter half der vermeintlichen Attentäterin wieder auf die Beine, die Zuschauer, bei denen es sich um Kollegen aus den Hundertschaften handelte, gingen nach Hause oder zum Imbissstand, wo es für alle nach absolvierter Übung wie immer eine kostenlose Stärkung gab.
»Kommende Woche gleiche Zeit, gleicher Ort«, erklärte der Einsatzleiter. »Der Polizeichef und ich werden auf der Pressekonferenz übrigens verkünden, dass wir die Sache im Griff haben und den Elfstedentocht zu einem sicheren Spaß für Alt und Jung machen. Sollte einer von euch auf die Idee kommen, irgendwem zu verraten, dass wir uns hier gegenseitig über den Haufen schießen, wäre das für seine Karriere wenig förderlich.«
Pieter legte Griet den Arm um die Schultern und führte sie über die schneebedeckte Wiese zu ihrem Auto, einem Renault Zoё, den sie für den Tag gemietet hatte.
»Was hältst du von einem schönen Mittagessen im Onder de kelders?
Das bringt dich auf andere Gedanken«, schlug er vor.
Das Onder de kelders
an der Bierkade
war zu Griets Lieblingsrestaurant in Leeuwarden geworden. Es befand sich in einem Gewölbekeller auf Niveau der Gracht, und bei gutem Wetter konnte man auf einem Ponton auf dem Wasser sitzen. Griet hatte im Sommer dort einige laue Nächte bei gutem Wein mit Pieter verbracht.
»Heute lieber nicht«, sagte Griet. »Ich muss noch etwas vorbereiten … Ich bekomme doch Besuch.«
»Natürlich, wie konnte ich das vergessen. Am Wochenende, richtig?«
»Ja.«
»Hast du das Geschenk besorgt?«
»Aber sicher.« Sie waren an ihrem Wagen angekommen, und Griet deutete auf die Rückbank, wo ein großer Teddybär saß. Er war Pieters Idee gewesen.
»Sie wird ihn lieben«, stellte er zufrieden fest.
Griet schloss die Autotür auf.
»Du kommst klar?«, fragte er.
»Ja.« Sie bemerkte, dass ihrer Stimme jede Überzeugung fehlte.
Pieter drückte ihre Schulter und schenkte ihr ein Lächeln, als er auf
den Farbfleck auf seiner Jacke deutete. »Ich hoffe, das geht wieder raus.«
Griet setzte sich auf den Fahrersitz und blickte Pieter nach, wie er zu seinem Auto hinüberging. Dann startete sie den Motor, legte die zitternden Hände um das Lenkrad und steuerte den Renault mit einem elektrischen Surren auf die Straße.
In zwei Wochen ist Weihnachten, dachte Griet. Wäre es heute keine Übung gewesen, hätte sie Pieters Frau zur Witwe und seine beiden Kinder zu Halbwaisen gemacht.
Eine schöne Bescherung.