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Ein Junge namens Edwin
S
ie glitten lautlos durch die Nacht, vorbei an den hell erleuchteten Häusern der Noordersingel
auf der einen und dem Prinsentuin
auf der anderen Seite. Leichte Schneeflocken fielen vom Himmel und wehten ihnen entgegen. Trotz ihrer anfänglichen Abneigung konnte Griet eine gewisse Freude nicht verbergen. Leeuwarden auf dem Eis zu erkunden, das rückte tatsächlich alles in eine neue Perspektive. Rechts von ihnen lagen die Neubaugebiete, links das historische Zentrum. Ein wenig konnte sie sich vorstellen, wie die Stadt früher auf die Bauern, Händler oder Reisenden gewirkt haben musste, wenn sie aus den umliegenden Dörfern oder von weit her mit Pferden, Karren und Waren angereist kamen und vor dem Singel
hatten haltmachen müssen, bis man ihnen Einlass gewährte.
Die Gracht beschrieb einen weiten Bogen und führte sie zur Vrouwenportbrug
. Im Schatten des Oldehove
standen dort im Halbkreis aufgebaut ein halbes Dutzend kleinere Holzhütten und Zelte auf dem Eis, die mit bunten Lichterketten miteinander verbunden waren. Zahlreiche andere Schlittschuhläufer hatten sich in dem Halbrund versammelt und unterhielten sich, dampfende Becher in den Händen, während Kinder um sie herum spielten.
»Gönnen wir uns eine Stärkung, bevor wir richtig loslegen«, meinte Pieter. »Sonst kommen wir nicht weit.«
Griet blickte flüchtig auf die Uhr an ihrem Handgelenk, sie waren keine zehn Minuten unterwegs gewesen. Pieter schien seine eigenen Vorstellungen sportlicher Betätigung zu haben. Andererseits wusste
sie, wie wichtig ihm die Einnahme regelmäßiger Mahlzeiten war.
Pieter deutete auf ein Rundzelt, das etwas größer war als die umstehenden Zelte. »Das beste koek en zopie
in der Stadt.«
Noch bevor Griet ihn fragen konnte, was ein koek en zopie
war, verschwand er durch den Eingang. Sie folgte ihm.
Das Innere des Zelts war spärlich beleuchtet, mit antiken Gaslampen, die auf Stehtischen standen. Stimmengewirr lag in der Luft, es roch nach Erbsensuppe, Glühwein und Kuchen. Unter den Umstehenden erkannte Griet einige Kollegen, die sie mit einem kurzen Nicken grüßten.
»Ein echtes Stück friesische Tradition«, stellte Pieter mit Stolz in der Stimme fest. Er erklärte ihr, dass die ersten koek en zopies
im 17. Jahrhundert entstanden waren, dem goldenen Zeitalter der Niederlande. Unter dem Einfluss der kleinen Eiszeit, mit extrem kalten und langen Wintern, kultivierten die Leute damals das ijspret,
das Vergnügen auf dem Eis. Sie bauten Zelte und kleine Hütten auf den gefrorenen Grachten und Seen. Dabei war der Begriff Vergnügen weit gefasst: Neben Glücksspiel und reinen Ess- und Trinkzelten, den koek en zopies
eben, gab es auch Etablissements, in denen sich Damen gegen Bares auf eine andere Art und Weise um das leibliche Wohl kümmerten. Ränge und Stände spielten auf dem Eis keine Rolle, Prinzen und Grafen wärmten sich am selben Feuer wie Seilmacher, Huren oder Gauner.
»Dann war das Eis eine Art mittelalterlicher Vergnügungspark?«, fragte Griet.
»Ja«, bestätigte Pieter und grinste, »allerdings hatte das bunte Treiben einen Hintergrund: Die Aufbauten auf dem Eis, also auch die koek en zopies,
waren allesamt von den sonst üblichen Steuern und Abgaben ausgenommen.«
Griet ließ sich von Pieter zu einer behelfsmäßigen Theke führen, die aus gestapelten Europaletten bestand, auf denen eine breite
Holzplatte befestigt war. Dahinter stand ein untersetzter Mann mit Glatze, der in einem Kochtopf rührte.
»Joop«, sagte Pieter, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen, »darf ich dir Griet Gerritsen vorstellen, den heimlichen Star der Districtsrecherche?
«
Der Mann sah auf und verzog erfreut das Gesicht. »Pieter, schön, dich zu sehen.«
Sie reichten sich die Hand.
»Joop hatte früher mal eine Kneipe«, erklärte Pieter. »Abends hat sich dort immer das ganze Revier getroffen.«
»Das war damals, als Pieter noch in seine Streifenuniform passte«, meinte Joop und stieß ein kehliges Lachen aus. Er reichte Griet die Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen, Griet Gerritsen. Mir kommt noch immer manches zu Ohren. Und was dich betrifft, scheint Pieter nicht zu übertreiben.«
»Gerüchte«, antwortete Griet. »Vermutlich stimmt nicht mal die Hälfte davon.«
Wim Wouters hatte zwar dafür gesorgt, dass Pieter und sie seit beinahe einem Jahr an keinem heißen Fall mehr beteiligt gewesen waren, doch den Flurfunk konnte er nicht abstellen. Und so hatte sich herumgesprochen, wie Griet sich bei den Ermittlungen auf Vlieland über den Kopf von Wouters hinweggesetzt, den Fall trotz aller Widrigkeiten gelöst und mit ihren Entscheidungen dabei am Ende noch die Reputation der politie
bewahrt hatte. Bei den Kollegen hatte ihr dies Respekt eingebracht.
Joop stellte zwei dampfende Becher vor Griet und Pieter auf die Theke. »Een zopie
– ein Schnäpschen?«
»Bedankt«,
meinte Pieter, winkte aber ab. »Ich muss noch fahren.«
»Hab dich nicht so. Auf alte Zeiten.«
Pieter gab nach, und sie prosteten sich zu. Auch Griet probierte einen Schluck und musste husten. Das zopie
schmeckte, als habe eine
Brauerei ihre gesamten Alkoholvorräte mit verdorbenen Gewürzen zusammengepanscht.
»Gut, was?« Joop lehnte sich an die Theke. »Das ist zopie
nach Originalrezept aus dem 17. Jahrhundert.«
»Müssen harte Zeiten gewesen sein«, meinte Griet. »Was, zum Teufel, ist da drin?«
Joop grinste und beugte sich über die Theke. »Du bringst zuerst Dunkelbier zum Kochen. Auf einen Liter eine Prise Zimt, dazu zwei Gewürznelken und zwei Scheiben Zitronen. Dann nach zwanzig Minuten die Kräuter und die Zitrone rausholen und etwa hundertzwanzig Gramm braunen Zucker reingeben. Und anschließend noch zwei rohe Eier. Die binden mit dem Zucker das Bier. Zum Schluss noch zwei Deziliter Rum.«
Griet betrachtete den Becher in ihrer Hand. Vielleicht sollte sie mit dem Zeug die Heizung ihres Schiffs befeuern.
»Noch eins?«, fragte Joop.
Griet schüttelte vehement den Kopf, woraufhin Joop wieder in sein kehliges Lachen ausbrach.
»Griet bewohnt ganz in der Nähe ein Schiff auf der Noorderstadsgracht
«, schaltete sich Pieter ein, und Griet war ihm dankbar, dass er das Gespräch von dem furchtbaren Schnaps wegführte.
»So ein Jammer.« Joop schnalzte mit der Zunge. »Früher hättest du dort als Zuschauer beim Elfstedentocht in der ersten Reihe gestanden.«
»Warum?«, fragte Griet.
»Bis 1956 befand sich die Ziellinie auf der Noorderstadsgracht
«, erklärte Pieter.
»Das waren noch Zeiten«, sagte Joop. »Das Feld bestand mehr oder weniger aus Amateurläufern. Selbst ein einfacher Bauernjunge konnte über Nacht zum Volkshelden werden. Auf der Noorderstadsgracht
gab es einige dramatische Entscheidungen.«
»O ja«, sagte Pieter mit glänzenden Augen. »Der Pact van Dokkum!
«
»Natürlich«, bestätigte Joop, »das wird man nie vergessen.«
»Jongens«,
sagte Griet, »ich komme nicht mit.«
»Erzähl du es, Pieter«, forderte Joop seinen Freund auf.
Bei dem Pakt von Dokkum, so erfuhr Griet, handelte es sich um eine Absprache der fünf Läufer, die das Rennen von 1940 angeführt hatten. Die Gruppe lag so weit in Führung, dass sie sich im Städtchen Dokkum eine Pause gönnten. Sie waren zu dem Zeitpunkt schon so lange gemeinsam unterwegs gewesen, dass sie sich verbrüderten und beschlossen, zusammen Hand in Hand über die Ziellinie zu laufen. Als sie schließlich auf die Noorderstadsgracht
einbogen, hielt sich einer von ihnen, Auke Adema, nicht an die Abmachung und sprintete davon. Piet Keijzer setzte ihm nach, holte ihn sogar noch ein, doch da die Zuschauer bereits in Massen auf das Eis strömten, war nicht mehr festzustellen, wer von den beiden als Erster die Ziellinie passierte. Als die Jury später von dem gebrochenen Pakt erfuhr, beschloss sie kurzerhand, alle fünf Läufer zu Siegern zu erklären.
»Und noch heute kennt jedes Kind hier in Fryslân
ihre Namen«, schloss Joop andächtig.
»Noch verrückter war nur der Zieleinlauf 1954«, sagte Pieter. »Anton Verhoeven lag vor Jeen van den Berg in Führung. Als er das Schild mit der Aufschrift Finish
passierte, riss er die Arme in die Luft und begann zu feiern …«
»… aber offenbar hatte er seine Brille vergessen«, stieg Joop grinsend ein. »Denn ihm war entgangen, dass unter dem Wort Finish
der Zusatz stand: in
500
Metern
.«
»Jeen van den Berg bemerkte den Irrtum als Erster. Er lief weiter und ging als Sieger über die echte Ziellinie auf der Noorderstadsgracht
«, schloss Pieter.
»Dann wohne ich ja wirklich auf geschichtsträchtigem Gebiet«, sagte Griet, und zum ersten Mal keimte in ihr eine Ahnung auf, warum der Elfstedentocht eine solche Faszination auf die Leute ausübte.
»So«, sagte Pieter, »und jetzt ist es Zeit für einen Teller von Joops famoser snert
.«
Auch in Limburg, wo Griet herstammte, war snert
der weniger feine Ausdruck für Erbsensuppe. Joop trug ihnen zwei große Teller davon auf, schnitt dazu für jeden eine frische Scheibe Graubrot ab, und im Gegensatz zum zopie
schmeckte die Suppe vorzüglich. Griet sortierte lediglich die Speck- und Wurststückchen aus und schob sie an den Rand. Sie hatte vor langer Zeit das Fleischessen aufgegeben, nachdem Ermittlungen sie in einen Schlachthof geführt hatten. Sie hoffte, dass Joop es nicht als Affront auffasste, doch so weit kam es gar nicht, da Pieter den Speck mit Freuden auf seinen Teller schaufelte.
Nach einer Weile gesellte sich Joop wieder zu ihnen.
»Griet, wenn du eine echte Leeuwarderin werden willst«, sagte er, »solltest du wissen, dass es in dieser Stadt nur zwei wahre Helden des Elfstedentocht gibt: Kaarst Leemburg und Mart Hilberts.«
Griet machte ein fragendes Gesicht, woraufhin Pieter ihr zwischen einem Löffel Suppe und einem Bissen Graubrot erzählte, dass Kaarst Leemburg 1929 als erster und bislang einziger Leeuwarder den Elfstedentocht gewonnen hatte – mit einem abgefrorenen Zeh als Andenken, den man ihm hatte amputieren müssen.
»Der Elfstedentocht ist heute ein Volksfest«, sagte Joop, das Gesicht halb im Schatten, halb im Schein der Gaslaterne. »Dabei vergessen die meisten, dass es ein Kampf Mensch gegen Natur ist. Zweihundert Kilometer gegen Wind und Kälte. Manche haben dafür mit dem Leben bezahlt.«
»Und kein anderer aus Leeuwarden hat sich der Herausforderung so oft gestellt wie Mart Hilberts«, ergänzte Pieter. »Er fuhr zum ersten Mal 63 mit, da war er gerade achtzehn, das Mindestalter für die Teilnahme. Danach lief er die Rennen von 85 und 86 und zuletzt 97
bei den Amateuren. Er gewann keines davon, gab aber nie auf und schaffte es immer – völlig erschöpft – ins Ziel. Seine Hartnäckigkeit hat ihm den Respekt der Leute eingebracht.«
»Tja … und jetzt ist unser Mart im Elfstedenhimmel«, sagte Joop. Er nahm drei Becher, füllte sie mit zopie
und reichte sie ihnen. »Auf Mart.«
Pieter und Joop tranken ihr zopie
in einem Zug leer, Griet nippte nur daran und stellte den Becher wieder auf die Theke.
»Haben sie Edwin eigentlich gefunden?«, fragte Pieter.
»Nein«, erwiderte Joop, »traurigerweise nicht.«
»Wer ist denn nun wieder Edwin?«, hakte Griet nach.
»Bei seinem letzten Rennen, 1997, lief Mart mit einem Jungen namens Edwin über die Ziellinie«, erzählte Joop. »Mart hatte damals schon seine besten Zeiten hinter sich. Zu viele selbst gedrehte Zigaretten und pilsjes
. Soweit bekannt, hatte er auf der Hälfte des Rennens einen Einbruch, saß am Streckenrand und dachte ans Aufgeben. Da stand plötzlich dieser Edwin vor ihm. Der Junge hatte ihn offenbar erkannt und trieb ihn an, das Rennen mit ihm gemeinsam fortzusetzen. Edwin war allein unterwegs und hoffte wohl, von Marts großer Erfahrung zu profitieren. Mart hängte sich dafür in den Windschatten des Jungen. Sie schafften es tatsächlich bis ins Ziel. Eine wunderbare Geschichte von Brüderlichkeit zwischen Jung und Alt.«
Pieter trank noch einen Schluck zopie
und fuhr dann fort: »Nach dem Rennen sahen sich die beiden nie wieder. Vor einem halben Jahr erfuhr Mart, dass er Lungenkrebs hatte und es nicht mehr lange machen würde. Da hatte er den Wunsch, seinen alten Freund Edwin noch einmal zu sehen. Dummerweise kannte er nur den Vornamen des Jungen, was die Suche nicht gerade einfach gestaltete.«
»Das Leeuwarder Dagblad hat die ganze Geschichte erst vor Kurzem ausgegraben und öffentlich nach dem Jungen gesucht«, sagte Joop.
»Trotzdem war dieser Edwin nicht ausfindig zu machen. Mart ist vor zwei Wochen gestorben, ohne seinen Freund noch einmal gesehen zu haben.«
Pieters mobieltje
klingelte. Während er das Smartphone aus der Jackentasche zog, wurde Griet bewusst, dass sie ihres auf dem Schiff gelassen hatte. Pieter nahm den Anruf entgegen und hörte zu.
»Verstehe«, sagte er schließlich. »Wir sind auf dem Weg.«
Er beendete das Gespräch und blickte Griet verwundert an.
»Das war Wouters«, sagte er. »Wir sollen nach Sloten fahren. Dort haben sie eine Leiche aus der Gracht gezogen.«