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Die Tote in der Gracht
D
ie Schneeflocken legten sich in einer dicken Schicht auf die Windschutzscheibe, als Griet den dunkelblauen Volvo D40 in die Ortsmitte von Sloten steuerte und auf der Dubbelstraat
neben dem blau-weißen Absperrband mit der Aufschrift politie
zum Stehen brachte. Pieter hatte ihr bereitwillig das Steuer überlassen und auf der Fahrt mehrere Pfefferminz gegessen, um die Nachwirkungen der zwei Becher zopie
zu übertünchen.
Während die Scheibenwischer auf der Fahrt gegen den immer dichteren Schneefall ankämpften, hatte Griet über Wim Wouters nachgedacht. Warum beorderte er sie urplötzlich zu einem Leichenfund, nachdem er sie monatelang bei den ungelösten Fällen hatte versauern lassen?
Griet kannte ihren Vorgesetzten inzwischen gut genug, um zu ahnen, dass es dafür eigentlich nur eine Erklärung geben konnte, und die war nicht besonders schmeichelhaft für Pieter und sie: Es gab niemand anderen, den Wouters schicken konnte. Die anderen Kollegen waren neben ihren gewöhnlichen Aufgaben in die Vorbereitung des Elfstedentocht eingebunden, und viele schoben Wochenendschichten, um die zusätzliche Arbeit bewältigen zu können. Bei den ungelösten Fällen, mit denen sich Griet und Pieter befassten, bestand hingegen keine Dringlichkeit.
Zudem vermutete Griet, dass Wouters den Leichenfund in Sloten als Routine einstufte. Er hatte Pieter am Telefon gesagt, dass die Tote von einer Brücke in die Gracht gestürzt und ertrunken war. Allem
Anschein nach ein Unfall. Bei einem solchen bestätigte der Arzt eine nicht natürliche Todesursache, was wiederum die Districtsrecherche
auf den Plan rief, die, dem üblichen Prozedere folgend, prüfte, ob es sich um ein Unglück handelte oder ob jemand nachgeholfen hatte.
Griet öffnete die Fahrertür und stieg aus.
Als Erstes fiel ihr der Streifenwagen ins Auge, der in der Nähe geparkt stand. Sein flackerndes Warnlicht tauchte die Umgebung in ein kühles Blau. Griet fragte sich, warum die Kollegen es nicht schon längst ausgeschaltet hatten. Da für niemanden direkte Gefahr bestand, hatte es lediglich einen Effekt, und den wollte man eigentlich tunlichst vermeiden: Es zog die Schaulustigen an wie das Licht die Motten in der Nacht. Vor dem Absperrband hatte sich eine Traube von Neugierigen versammelt, die das Treiben der Uniformierten beobachteten.
Griet schaute sich um. Im Sommer hatte sie auf der Noorderstadsgracht
regelmäßig Touristen als Nachbarn gehabt, die mit ihren Motorbooten und Segeljachten Fryslân
erkundeten. Daher wusste sie, dass Sloten unter Wassersportlern ein beliebtes Ziel war. Beim Anblick des Ortszentrums verstand sie sofort, warum dies so war.
Vom Slotermeer
im Norden kommend, führte eine schnurgerade Gracht mitten durch den Ort. An beiden Ufern standen dicht an dicht niedrige Backsteinhäuser, teils mit weißen Sprossenfenstern, teils mit grünen oder braunen Schlagläden. Die Schweif- oder Stufengiebel der Gebäude waren mit aufwendigen Ornamenten verziert. Knorrige, laublose Bäume säumten zu beiden Seiten die Ränder der Gracht, und die Wege waren mit klobigen Kopfsteinen gepflastert. Griet fühlte sich um Jahrhunderte in der Zeit zurückversetzt und musste sich bewusst darauf konzentrieren, die Szenerie, die sich ihr bot, mit professionellem Blick zu analysieren.
Drei Brücken führten über die vereiste Gracht: Eine Autobrücke für den Durchgangsverkehr, dort, wo sie und Pieter jetzt standen. Eine
Holzbrücke für Fußgänger, ungefähr in der Mitte der Gracht. Und am entfernten Ende eine bogenförmige Steinbrücke, neben der eine Windmühle thronte, von deren Flügeln Eiszapfen herabhingen.
Die Tote musste von der Steinbrücke in die Gracht gestürzt sein – im Eis darunter klaffte ein großes Loch.
Griet sah, dass die Kriminaltechniker bereits mit der Spurensicherung befasst waren und, in weiße Schutzanzüge gekleidet, den Fundort der Leiche untersuchten. Am Fuß der Steinbrücke war ein Zelt aufgebaut, in dem sich, wie Griet vermutete, die Tote befand. Ein Polizeifotograf schoss Bilder.
In der Nähe der weißen Fußgängerbrücke standen neben einem Rettungswagen zwei wijkagenten
des örtlichen basisteams,
das für die Gemeinde Sloten zuständig war. Die Streifenpolizisten unterhielten sich mit einer Frau und zwei Männern, von denen der Jüngere, in eine silber-goldene Rettungsdecke gehüllt, im Krankenwagen auf einer Trage saß.
Griet und Pieter duckten sich unter dem Absperrband hindurch und gingen bis an den Rand der Gracht. Eine Frau kam auf sie zu, öffnete im Gehen den Reißverschluss ihres Schutzanzugs und schob die Kapuze nach hinten. An den langen weißen Haaren und den gleichfarbigen Augenbrauen erkannte Griet, dass es sich um Noor van Urs handelte, die Leiterin der Kriminaltechnik.
»Schön, dass wir wieder zusammenarbeiten«, sagte Noor mit einem Lächeln. »Hat Wouters euch schon ins Benehmen gesetzt?«
»Er war nicht besonders auskunftsfreudig«, antwortete Griet. »Wir wissen nur, dass eine Frau tot in der Gracht gefunden wurde.«
»Wie es aussieht, ist sie von der Brücke dort drüben gefallen.« Noor wandte sich um und deutete auf die Steinbrücke unterhalb der Windmühle. Dann blickte sie mit einem Nicken zu der Frau und den beiden Männern hinüber, mit denen sich die wijkagenten
unterhielten. »Die drei haben sie aus dem Wasser gezogen.«
»Habt ihr die Tote identifiziert?«
»In ihrem Portemonnaie haben wir einen Ausweis gefunden. Jessica Jonker. Alter fünfundzwanzig.«
»Wisst ihr, warum sie gestürzt ist?«, fragte Pieter.
»Nein. Aber bislang gibt es keine Spuren, die auf ein Fremdeinwirken hindeuten.« Noor rieb die Hände aneinander. »In der Jacke der Toten haben wir ein mobieltje
und einen Autoschlüssel gefunden. Der Wagen parkte in der Nähe. Auf dem Beifahrersitz lag ein Laptop. Ich geb beides zur Auswertung an die digitale recherche
weiter.«
Noor zog den Reißverschluss ihres Anzugs wieder zu. »Verflucht kalt heute Nacht. Sehen wir zu, dass wir fertig werden.« Sie überreichte ihnen zwei weiße Overalls. »Von meiner Seite wäre es das. Mei ist im Zelt bei der Leiche.«
Mei Nakamura war die Rechtsmedizinerin vom Forensischen Institut des GGD
in Leeuwarden. Griet hatte sie im Zuge der Vlieland-Ermittlungen kennengelernt.
»Du sprichst mit den Zeugen«, sagte Griet zu Pieter und fügte mit einem Blick auf das flackernde Licht des Streifenwagens hinzu: »Und sag den Kollegen, sie sollen das Ding ausmachen.«
Sie schlüpfte in den Schutzanzug und ging auf das Zelt neben der Gracht zu. Die Häuser, an denen sie vorbeischritt, waren nahtlos aneinandergebaut, und die meisten Wohnzimmerfenster führten nach vorn zur Gracht hinaus. In fast allen brannte Licht, und hier und da standen die Bewohner hinter dem Glas und beobachteten das Geschehen. Gut möglich, dass es noch weitere Zeugen gab, die gesehen hatten, was Jessica Jonker zugestoßen war. Vermutlich war es unumgänglich, alle Einwohner zu befragen, deren Haus sich direkt am Wasser befand. Griet zog ihr Notizheft aus der Jackentasche und notierte sich, die wijkagenten
später mit der Aufgabe zu betrauen.
Sie schob die Plane am Eingang des Schutzzelts zur Seite und trat in
gebückter Haltung ein. Trotz der Kälte schlug ihr der wohlbekannte Leichengeruch entgegen. Mei Nakamura, eine Asiatin, kniete neben der Toten. Als sie Griet bemerkte, blickte sie auf.
»Mir war zu Ohren gekommen, dass Wouters euch bis in alle Ewigkeit bei den Cold Cases geparkt hat«, sagte sie und schaute über den Rand ihrer runden Metallgestellbrille.
»Ich schätze, er wollte kurz vor Weihnachten noch eine gute Tat vollbringen«, erwiderte Griet und hockte sich hin.
Sie betrachtete die Tote. Jessica Jonker hatte lange blonde Haare, die mit blauen Strähnen durchzogen waren. Sie bedeckten wie nasser Seetang das schmale Gesicht, dessen Haut von Sommersprossen übersät war.
Griet blickte an der jungen Frau herunter. Bis zur Gürtellinie war sie noch vollständig bekleidet, trug dunkelblaue Jeans und braune Boots. Lediglich den Oberkörper hatte Mei freigelegt.
Blonde Haare. Die vielen Sommersprossen. Beides Merkmale, die auch auf ihre Tochter Fenja zutrafen. Griet wusste nicht, woher dieser Gedanke urplötzlich kam, doch ihr Magen verkrampfte sich unweigerlich. Sie wandte den Blick ab.
»Wenigstens was den Todeszeitpunkt angeht, ist es eindeutig«, sagte Mei. »Einer der Auffindungszeugen sah mevrouw
Jonker gegen achtzehn Uhr in die Gracht stürzen.«
Mei hob den Kopf der Toten vorsichtig an und drehte ihn leicht zur Seite. Am Hinterkopf klaffte eine Platzwunde.
»Vermutlich ist sie mit dem Kopf auf das Eis geschlagen«, sagte Mei. »Sieht nicht so aus, als hätte ihr jemand diese Verletzung gewaltsam zugefügt.«
»War der Sturz tödlich, oder ist sie ertrunken?«
»Weder noch«, antwortete Mei und legte den Kopf der Toten wieder vorsichtig ab. »Schädel und Genick sind nicht gebrochen. Möglicherweise wurde sie beim Aufprall bewusstlos. Ertrunken ist sie
aber nicht, jedenfalls kann ich oberflächlich keine Anzeichen dafür erkennen, wie etwa einen Schaumpilz vor Mund und Nase.«
»Abwehrverletzungen?«
»Ebenfalls Fehlanzeige. Weder an Armen noch Händen.«
Griet betrachtete die fahle Haut der Toten, auf der sich hellrote Verfärbungen gebildet hatten. Üblicherweise waren die Leichenflecke blau oder blau-violett. »Was ist damit?«, fragte sie.
»Hat nichts zu bedeuten«, erklärte Mei. »Es ist die Kälte, da nehmen die Leichenflecke diese Färbung an.«
Mei holte eine Taschenlampe aus ihrem Arztkoffer und schob die Augenlider der Toten hoch. »Auch nichts …«
Griet ging auf die andere Seite der Leiche.
»Ich kann keine Stauungsblutungen in den Bindehäuten erkennen«, sagte die Medizinerin. »Das hätte zum Beispiel auf ein Erwürgen oder Ersticken hingedeutet. Es gibt also nichts, das auf eine gewaltsame Auseinandersetzung schließen ließe.«
Sie steckte die Taschenlampe wieder weg und betrachtete den Leichnam schweigend. »Nach jetzigem Stand würde ich sagen, mevrouw
Jonker hatte einen Herzstillstand.«
»Du meinst, von dem Kälteschock, als sie in das eisige Wasser fiel?«, fragte Griet.
»Möglicherweise. Hängt davon ab, wie schnell die Helfer zur Stelle waren – und ob ich bei der Obduktion Wasser in der Lunge finde. Vielleicht hatte ihr Herz nämlich schon vor dem Sturz ausgesetzt …«
Mei präsentierte ihr einen durchsichtigen Beweismittelbeutel. »Das haben wir in der Jackentasche gefunden.«
Griet nahm den Beutel entgegen und betrachtete das Plastikröhrchen, das sich darin befand. Es waren Globuli.
»Digitalis«, erklärte Mei. »Ein Herzmittel.«
Die Rechtsmedizinerin packte ihre Sachen ein und erhob sich.
»Ich will mich vor der Autopsie nicht festlegen. Aber es könnte sein, dass mevrouw
Jonker ein Problem mit dem Herzen hatte. Dann haben wir es eventuell nur mit einer Verkettung unglücklicher Umstände zu tun.«
Mei verließ das Zelt, und Griet folgte ihr. Draußen sah sie zu der Steinbrücke hinüber, von der Jessica Jonker in den Tod gestürzt war. Dicke Schneeflocken fielen aus dem Nachthimmel in das dunkle Loch, das unter der Brücke im Eis klaffte.
»Du bist skeptisch?«, erkundigte Mei sich.
»Ich vertraue deinem Urteil. Es ist nur …« Griet versuchte, ihre Worte mit Bedacht zu wählen, aus Angst, die professionelle Ehre der Rechtsmedizinerin zu verletzen. »Was die Verkettung unglücklicher Umstände angeht, bin ich über die Jahre vorsichtig geworden. Besonders im Zusammenhang mit einer Leiche.«