5
Eine Frage der Perspektive
G riet ging zu den beiden wijkagenten hinüber, während Pieter einige Meter weiter noch mit einem der Zeugen sprach, einem untersetzten Mann mit Strickmütze auf dem Kopf.
»Wer ist das?«, wandte sich Griet an den Größeren der beiden Uniformierten, einem hageren Mittzwanziger, der sie um zwei Köpfe überragte.
»Geert Dammers«, antwortete er. »Der ijsmeester von Sloten.«
»Ijsmeester?« Griet kannte den Begriff nicht.
»Dammers kontrolliert hier im Ort laufend den Zustand der Gracht und prüft, ob das Eis begehbar ist.«
»Und der andere Mann?« Griet deutete mit einem flüchtigen Nicken auf den Mann im Rettungswagen.
»Das ist Jeroen Brouwer. Ihm gehört Dutch Heat, eine Firma hier aus Leeuwarden«, erklärte der wijkagent . »Er hat den Sturz beobachtet und war als Erster zur Stelle.«
Von Dutch Heat stammte der De-Icer, den Griet an ihrem Schiff montiert hatte. Sie musterte den Mann, dessen Erfindungsreichtum sie es verdankte, dass ihr alter Kahn noch nicht vom Eis zerdrückt worden war. Brouwer hielt die Rettungsdecke, die man ihm um die Schultern gelegt hatte, mit einer Hand fest. Er trug einen Jogginganzug, der ihm mindestens zwei Nummern zu klein war und den er sich offenbar von jemandem geborgt hatte. Auf dem Boden des Krankenwagens waren einige durchnässte Kleidungsstücke zu einem Bündel gestapelt, bei denen es sich vermutlich um Brouwers eigene Sachen handelte.
»Und die Frau?«, fragte Griet.
»Marit Blom. Sie und Geert Dammers waren als Zweite am Fundort.« Der wijkagent wandte sich kurz zu der Frau um, die an der Gracht stand und telefonierte.
»Marit Blom …« Griet erinnerte sich, den Namen im Radio gehört zu haben. »Ist sie nicht Chefin dieser Elfsteden-Kommission?«
»Ja, und …« Der wijkagent beugte sich leicht zu Griet herunter und flüsterte: »Mevrouw Blom hat es eilig.«
»Tatsächlich?«
»Sie hat bereits einige Male gefragt, wann sie gehen kann. Sie sagt, sie steckt über beide Ohren in den Vorbereitungen für den tocht …« Der Kollege lächelte. »Und sie meint, dass es ziemlich gut aussieht.«
»Dass was ziemlich gut aussieht?«
»Der Elfstedentocht. Wenn das Wetter so bleibt, geht das Rennen wohl an den Start.«
Griet seufzte. »Dann werde ich mevrouw Blom mal erlösen.«
Sie ging hinüber zu der Frau.
Marit Blom trug einen dunkelblauen Mantel, den sie bis oben zugeknöpft hatte, und um den Hals einen Barbourschal. Das lange Haar, das ihr bis zu den Schultern reichte, war feuerrot. Blom beendete ihr Telefongespräch, als sie Griet bemerkte, steckte das Smartphone in ihre Manteltasche und drehte sich um. Die Konturen ihres Gesichts waren kantig, die Wangenknochen traten deutlich hervor. Griet schätzte die Frau ungefähr auf ihr Alter.
»Sie haben es eilig?« Griet zeigte ihren Dienstausweis.
»Bitte verstehen Sie das nicht falsch.« Blom reicht ihr die Hand. »Was geschehen ist, ist schrecklich, aber … Sie wissen ja, was gerade los ist.«
»Natürlich, der Elfstedentocht und so weiter …« Griet zog ihr Notizbuch aus der Innentasche ihres Parkas. »Sie wohnen hier in Sloten?«
»Nein, in Leeuwarden.«
»Und warum waren Sie heute Abend hier?«
»Ich wollte mir einen Eindruck von der Lage verschaffen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Das Eis …« Marit Blom deutete auf die Gracht. »Es wird hier nicht dick genug. Selbst Eistransplantationen nützen nichts …«
Griet unterbrach die Frau mit erhobener Hand. »Eistransplantationen? Das müssen Sie mir erklären.«
»Man schneidet an einer Stelle, wo das Eis dick genug ist, einen Block heraus und verpflanzt ihn dorthin, wo es zu dünn ist oder sich nicht schließt.«
Griet warf einen Blick auf die Gracht, die bis auf das Loch unter der Steinbrücke zugefroren war. »Aber die Eisdecke ist doch vollständig geschlossen …«
»Schon, aber stellenweise ist sie nur zehn Zentimeter dick. Das Minimum sind fünfzehn Zentimeter.« Blom wandte sich zum Krankenwagen um, wo Jeroen Brouwer gerade von einem der Sanitäter einen dampfenden Becher gereicht bekam. »Wir hoffen, dass wir die Sache mit seinen Wärmepumpen in den Griff bekommen.«
»Das verstehe ich nicht, wie sollen Wärmepumpen dabei helfen?« Griet wunderte sich ein wenig, dass künstliche Eingriffe und technische Hilfsmittel bei einem Natureisrennen wie dem Elfstedentocht offenbar ganz selbstverständlich waren.
»Im Detail erklärt Ihnen das meneer Brouwer besser selbst. Es ist eine neue Technik, die das Eis schneller gefrieren lässt. Wir testen die Geräte hier in Sloten gerade zum ersten Mal.«
»Verstehe.« Griet machte sich eine Notiz. »Wann sind Sie denn hier in Sloten eingetroffen?«
»Das muss so gegen siebzehn dreißig gewesen sein.«
»Was taten Sie dann?«
»Ich beging mit Geert Dammers die Gracht und ließ mir die kritischen Stellen zeigen.«
»Sie sind mevrouw Jonker gemeinsam zu Hilfe geeilt?«
»Ja.«
»Wann war das ungefähr?«
»Schätze, so gegen achtzehn Uhr.«
»Und wo waren Sie, als sich der Sturz ereignete?«
»Wir waren drüben bei der Brücke.« Marit Blom deutete auf die Autobrücke in der Mitte des Ortes, wo Griet und Pieter den Wagen geparkt hatten.
»Zeigen Sie mir bitte, wo genau Sie sich befanden«, sagte Griet und ließ sich von Blom auf die gegenüberliegende Seite der Brücke führen. Rechts verlief eine schmale Wiese entlang der Gracht, links ein Kopfsteinpflasterweg. Auf der Wiese war ein Teppichbelag quer über die Straße zu diesem Weg ausgelegt, der bei einer Steintreppe endete, die hinunter auf das Eis führte.
Marit Blom blieb am Rand der Wiese stehen. Trotz des Brückengeländers hatte man von hier aus einen guten Blick über die Gracht bis zur Windmühle und der Steinbrücke, von der Jessica Jonker gestürzt war.
»Wir standen hier und haben uns um die kluuntapijt gekümmert …«
Noch ein Fachbegriff. Griet schüttelte den Kopf, und ihr Gesichtsausdruck musste dabei so hilflos wirken, dass sie von Blom einen Blick erntete, wie man ihn auch Kindern schenkt, die das kleine Einmaleins nicht beherrschen.
»Die Brücke ist zu niedrig, um darunter hindurchzulaufen«, erklärte Blom. »Die Läufer müssen deshalb an Land. Wir errichten an dieser Stelle noch eine provisorische Treppe, dann können die Leute hier vom Eis. Sie laufen dann über die Brücke und klettern auf der anderen Seite wieder auf die Gracht. Das Ganze nennt sich kluunen . Und die kluuntapijt ist ein spezieller Teppichboden, damit die Läufer nicht die Kufen der Schlittschuhe beschädigen oder ausrutschen.«
»Bedankt voor de uitleg – danke für die Erklärung«, erwiderte Griet. »Meneer Dammers und Sie waren also hier. Wo befand sich Jeroen Brouwer zu dem Zeitpunkt?«
»Er war bei der Fußgängerbrücke dort drüben und arbeitete an der Wärmepumpe.« Marit Blom zeigte auf die weiße Holzbrücke in der Mitte der Gracht. »Ich wollte mir das später ansehen, sobald wir hier fertig gewesen wären.«
»Hat er die ganze Zeit über dort gearbeitet?«
»Das weiß ich nicht.«
»In Ordnung«, sagte Griet. »Haben Sie gesehen, wie mevrouw Jonker von der Brücke fiel?«
»Nein …« Blom überlegte kurz. »Wir hörten nur einen Hilfeschrei.«
»Es war Jessica Jonker, die schrie?«
»Nein, meneer Brouwer.«
»Dann war er also vor Ihnen bei mevrouw Jonker.«
»Ja«, sagte Blom. »Als wir bei der Brücke ankamen, war er im Wasser und klammerte sich am Eis fest. Er war wohl beim Versuch, der Frau zu helfen, durch das Eis gebrochen.«
»Haben Sie das selbst beobachtet?«
»Nein. Er hat es uns später erzählt.«
»Wo befand sich mevrouw Jonker in dem Moment?«
»Sie trieb im Wasser.«
»War sie bei Bewusstsein?«
»Nein.«
»Was taten Sie?«
»Geert holte einen langen Pickhaken, meneer Brouwer hielt sich daran fest, und wir zogen ihn an Land.«
»Und mevrouw Jonker? Warum halfen Sie ihr nicht zuerst?«
Blom zuckte die Schultern. »Ich … weiß es ehrlich gesagt nicht. Meneer Brouwer schrie, und es sah aus, als würde er gleich ertrinken.«
»Wie haben Sie mevrouw Jonker dort rausbekommen? Das Loch ist in der Mitte der Gracht, sie war bewusstlos … das muss nicht einfach gewesen sein.«
»War es auch nicht. Geert sicherte sich mit einem Seil und robbte auf dem Bauch an die Stelle heran. Ich zog mevrouw Jonker mit dem Pickhaken in seine Richtung. Dann hievte er sie raus aufs Eis. Wir mussten dann zu dritt anpacken, um sie hier hochzubekommen.«
»Konnten Sie noch Lebenszeichen feststellen?«
»Sie hatte keinen Puls mehr. Wir versuchten, sie wiederzubeleben, aber … na ja, da war nichts mehr zu machen.«
Marit Blom presste die Lippen zusammen und sah zu Boden.
»Sie haben richtig gehandelt«, sagte Griet, die nicht wollte, dass die Frau sich unnötige Vorwürfe machte. »Nach allem, was mir die Rechtsmedizinerin gesagt hat, hatten Sie keine Chance, mevrouw Jonker zu retten.«
Blom nickte. »Dennoch ist es tragisch … ich meine, sie war noch so jung.«
»Ja.« Griet schwieg einen Moment, ließ dann das Gummiband um ihr Notizheft zuschnappen.
»Darf ich jetzt gehen?«, fragte Marit Blom. »Da sind leider noch ein paar Sachen, die ich regeln muss.«
»Natürlich. Bedankt, mevrouw Blom.«
Sie gaben einander die Hand, und Griet blickte Marit Blom nach, wie sie unter dem Absperrband hindurchging und in den weißen Porsche stieg, der auf der anderen Seite der Brücke geparkt stand. Der Motor erwachte mit einem Grollen zum Leben, dann verschwanden die Rücklichter des Wagens schnell in der Dunkelheit. Für jemanden, der gerade einen Menschen vor dem Ertrinken gerettet und eine Leiche aus der Gracht gezogen hatte, dachte Griet, machte Marit Blom einen ungewöhnlich ruhigen Eindruck.
***
»Und das soll wirklich funktionieren?«, fragte Pieter, als Griet neben ihn trat. Er hatte die Befragung von Geert Dammers beendet. Griet sah noch, wie der untersetzte Mann über die Fußgängerbrücke zu einem der Häuser auf der anderen Seite der Gracht ging und die Haustür öffnete. Pieter sprach nun im Krankenwagen mit Jeroen Brouwer.
»Und ob«, antwortete Brouwer. »Wärmepumpen entziehen dem Boden und der Luft Wärme, und im Wasser funktioniert das genauso.«
Pieter rückte seine karierte Schiebermütze ein Stück nach hinten und kratzte sich am Kopf. »Also, dann … könnte man die Pumpen doch auf der gesamten Strecke des tocht einsetzen.«
»Möglich wäre das, ja.« Ein Lächeln huschte über Brouwers Lippen. »Sloten ist ja nicht die einzige Stelle, wo das Eis noch zu dünn ist.«
»Das würde bedeuten«, überlegte Pieter laut, »dass das Rennen unabhängig vom Wetter stattfinden könnte.«
»Das Ganze ist aufwendig und kostspielig und funktioniert natürlich nur, wenn die Temperaturen konstant um den Gefrierpunkt liegen und sich eine Eisschicht auf den Gewässern bildet«, erklärte Brouwer. »Aber wir können der Natur schon ein bisschen nachhelfen, ja.«
»Unglaublich!« Pieter schüttelte den Kopf. »Und für Sie wäre das sicher ein tolles Geschäft, oder?«
»Zweifelsohne.« Jetzt grinste Brouwer.
»Excuses«, sagte Pieter, als er Griet bemerkte.
Während Griet sich Jeroen Brouwer vorstellte, musterte sie ihn. Er konnte nicht viel älter als Ende dreißig, Anfang vierzig sein und entsprach mit seinem jungenhaften Aussehen und den strubbeligen schwarzen Haaren dem Klischee des modernen Unternehmers.
Mit seiner Fachsimpelei mochte Pieter den Mann vielleicht kurzzeitig auf andere Gedanken gebracht haben, aber ihm war dennoch anzusehen, dass er unter Schock stand. Brouwers Lippen waren bläulich verfärbt, die Haare feucht, und trotz der Wärmedecke, die um seine Schultern lag, zitterte er noch leicht.
»Meneer Brouwer«, sagte Griet. »Sie waren also hier, um eine Ihrer Anlagen in Betrieb zu nehmen?«
»Ja, wobei … genau genommen war sie schon in Betrieb«, antwortete er. »Ich habe sie vor ein paar Tagen installiert und wollte kontrollieren, ob sie einwandfrei funktioniert.«
»Wie oft führen Sie die Kontrolle durch?«
»Täglich.«
»Und wann sind Sie heute hier eingetroffen?«
»Muss zwischen siebzehn und siebzehn Uhr dreißig gewesen sein.«
»Sie kontrollierten die Wärmepumpe gerade, als mevrouw Jonker von der Brücke stürzte?«
»Genau.«
»Wollen Sie uns zeigen, wo Sie sich befanden?«
Jeroen Brouwer zog sich die Wärmedecke dichter um die Schultern, stieg aus dem Krankenwagen und ging voraus. Griet und Pieter folgten ihm, und er führte sie zu der kleinen weißen Fußgängerbrücke in der Mitte der Gracht.
Neben der Brücke zog sich eine Steintreppe hinab zum Eis. Brouwer stieg sie hinunter, und Griet folgte ihm. Pieter blieb oben stehen.
»Die Wärmepumpe befindet sich hier auf dem Boden der Gracht.« Brouwer deutete auf ein schwarzes Kabel und eine Kette, die am Fuß der Treppe im Wasser verschwanden.
»Dann waren Sie also hier, als es passierte?«
»Ja. Ich sah mevrouw Jonker über die Brücke kommen«, berichtete er. »Plötzlich taumelte sie, versuchte, sich an der Brüstung festzuhalten. Aber sie verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Gracht.«
»Standen Sie oder hockten Sie?«
»Wie bitte?«
»In dem Moment, als es geschah«, wiederholte Griet, »standen Sie oder hockten Sie?«
»Ich … kniete hier.«
»Und dabei sahen Sie, wie mevrouw Jonker stürzte?«
»Ja, und dann rannte ich sofort hin.«
»Versuchte sich mevrouw Jonker über Wasser zu halten?«
»Nein, sie trieb regungslos in … in dem Loch, das ihr Aufprall geschlagen hatte.«
»Was taten Sie?«
»Ich wollte helfen. Also ging ich auf das Eis, eine andere Möglichkeit sah ich nicht. Es gab nach, und ich brach ein …«
»Warum haben Sie nicht gewartet, bis mevrouw Blom und meneer Dammers bei Ihnen waren?«
»Ich hatte die beiden gar nicht bemerkt.«
»Sie wussten nicht, dass Marit Blom hier war?«
»Nein.«
»Aber sie sagte mir, sie wollte die Wärmepumpe in Augenschein nehmen.«
»Mag sein, aber davon wusste ich nichts.«
»Sie waren also nicht hier mit ihr verabredet?«
»Nein.«
»In Ordnung. Sie brachen durch das Eis …«
»Dann schrie ich um Hilfe. Ich meine, dieses Wasser … ich wusste nicht, wie kalt es ist. Und meine Klamotten saugten sich voll. Ich … bekam Panik … dachte, ich ertrinke. Mevrouw Blom und meneer Dammers halfen mir zum Glück.«
»Was war mit Jessica Jonker?«
»Die zogen wir anschließend gemeinsam aus der Gracht. Sie war ganz schön schwer. Ich meine, ich hätte nie gedacht, dass … also, Sie wissen vielleicht, was ich meine.«
»Ja«, sagte Griet. »Ein lebloser Körper, dazu noch die nasse Kleidung, das ist einiges an Gewicht. Es war also für Sie sofort ersichtlich, dass mevrouw Jonker tot war?«
»Ja, also … nein«, stotterte Brouwer. »Ich meine, sie atmete nicht mehr, und da war diese große Wunde an ihrem Hinterkopf.«
»Die haben Sie gesehen?«
»Ich trug sie … an den Schultern. Und dann war Blut an meinen Händen.«
»Sie leiteten sofort Wiederbelebungsmaßnahmen ein?«
»Ja … aber leider konnten wir ihr nicht mehr helfen. Meneer Dammers besorgte mir dann ein paar trockene Sachen.« Er zupfte an der Jacke des Jogginganzugs, den er trug.
»Kannten Sie die Tote, meneer Brouwer?«
»Nein. Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«
»Hartelijk bedankt .« Griet klappte ihr Notizheft zu.
Brouwer verabschiedete sich und ging wieder zu dem Krankenwagen hinüber.
Griet blickte zur Windmühle, an deren Fuß der leblose Körper von Jessica Jonker, in einem schwarzen Plastiksack verpackt, gerade abtransportiert wurde.
»Pieter«, sagte sie, als er neben sie trat, »es gibt ein paar Dinge, die wir uns mal genauer ansehen müssen.«
»Das glaube ich auch«, antwortete Pieter. »Hier stimmt etwas nicht.«
***
Griet ging mit Pieter an der Gracht entlang und berichtete ihm, was Marit Blom ausgesagt hatte. Er informierte sie im Gegenzug über sein Gespräch mit Geert Dammers. Als sie bei der Treppe neben der weißen Holzbrücke in der Mitte der Gracht ankamen, stiegen sie noch einmal gemeinsam hinab zu der Stelle, wo die Wärmepumpe verbaut war. Griet hockte sich am Fuß der Stufen hin und bedeutete Pieter, es ihr gleichzutun. »Brouwer sagte, er kniete hier und arbeitete an der Pumpe.«
»Ja, habe ich auch so verstanden.«
»Er will von hier aus gesehen haben, wie Jessica Jonker über die Brücke lief und ins Wasser stürzte.«
»Korrekt.«
Sie deutete mit dem Zeigefinger in Richtung der Steinbrücke neben der Windmühle. Pieter neigte den Kopf zur Seite und folgte ihr mit dem Blick, dann stutzte er, stand auf und stellte sich auf die Zehenspitzen.
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte er. »Aus der Hocke kann er das gar nicht gesehen haben. Und selbst im Stehen wäre es fast unmöglich gewesen. Die Brüstung der Brücke hätte ihm den Blick versperrt.«
»Genau«, sagte Griet. »Das lässt natürlich noch die Möglichkeit zu, dass er hier hockte und nur hörte, wie Jessica Jonker ins Wasser fiel.«
»Aber warum sagt er dann, er habe den Sturz gesehen?«
»Frag ich mich auch. Die andere Erklärung wäre, dass er nicht hier, sondern woanders stand, wo er es tatsächlich sehen konnte. Aber warum sollte er das verheimlichen?«
»Hm.« Pieter zuckte die Schultern. »Macht keinen Sinn. Oder willst du auf etwas Bestimmtes hinaus?«
Das wollte Griet in der Tat. Sie stieg die Treppe hinauf und trat einige Schritte zurück, bis sie fast an einer Hauswand stand. Sie bedeutete Pieter, sich neben sie zu stellen, sodass sie die Gracht zu beiden Seiten überblicken konnten.
»Marit Blom und Geert Dammers waren dort drüben.« Griet zeigte zu der Autobrücke in der Ortsmitte. »Sie hörten zwar die Hilferufe von Brouwer, sahen aber weder den Sturz von Jonker noch, wie Brouwer der Frau zu Hilfe eilte. Als sie an der Unglücksstelle ankamen, lag er bereits im Wasser.«
»Das heißt?«
»Vielleicht war Blom bei der Frau auf der Brücke … ein Gerangel, beide stürzen in die Gracht.«
»Möglich.« Pieter schürzte die Lippen. Dann blickte er zu der Steinbrücke. »Sehen wir uns da oben mal um.«
Sie gingen über den Kopfsteinpflasterweg an der Gracht entlang zur Windmühle. Der Schneefall hatte aufgehört, und die Wolkendecke war aufgebrochen. Unter dem sternenklaren Himmel, der sich nun zeigte, war es gefühlt noch kälter geworden. Griet zog eine Wollmütze aus der Tasche ihres Parkas und setzte sie auf.
Am Fuß der Brücke stand ein Pranger, wie man ihn im Mittelalter verwendet hatte, um Gesetzesbrecher vor dem Volk zur Schau zu stellen. Sie gingen an ihm vorbei und gelangten über eine Treppe zu der Steinbrücke hinauf.
Griet fuhr prüfend mit der Stiefelsohle über den Boden. Die Schneedecke auf dem Kopfsteinpflaster war festgetreten und glatt. Die Brüstung der Brücke reichte Griet ungefähr bis zur Hüfte. Jessica Jonker war eine große Frau gewesen, durchaus denkbar, dass sie über die Brüstung gekippt war, wenn sie das Gleichgewicht oder das Bewusstsein verloren hatte – oder wenn jemand sie gestoßen hatte.
»Da ist noch eine Ungereimtheit«, sagte Pieter. Er blickte zur Gracht hinab, an deren Rand die Kriminaltechniker ihre Utensilien einpackten. »Was sagte Marit Blom noch gleich, warum sie hier war?«
»Sie wollte die Lage in Sloten persönlich in Augenschein nehmen«, rekapitulierte Griet. »Weil das Eis zu dünn ist.«
»Hatte sie eine Verabredung mit Geert Dammers?«
»Davon sagte sie nichts. Ist das wichtig?«
»Vielleicht«, meinte Pieter. »Dammers ist nicht nur ijsmeester, sondern auch rayonhoofd von Sloten …«
Griet schüttelte den Kopf. »Hat jemand mal in Erwägung gezogen, ein Wörterbuch zum Elfstedentocht rauszubringen?«
Pieter lächelte. »Die Strecke des Elfstedentocht ist in Bezirke eingeteilt. Und für jeden Bezirk ist jeweils ein rayonhoofd zuständig. Dammers überprüft in Sloten das Eis und beurteilt, ob die Konditionen wettkampfgerecht sind. Er erstattet Meldung an die Elfsteden-Kommission, neuerdings läuft das sogar alles über eine App. Die einzelnen Bezirksleiter stimmen regelmäßig darüber ab, ob der Elfstedentocht stattfinden kann. Jeder stimmt für seinen Bezirk. Und gestartet wird nur, wenn alle zustimmen.«
»Und das bedeutet … was?«
»Als rayonhoofd bestimmt Dammers als Einziger, ob das Eis hier in Ordnung ist. Seine Verantwortung, seine Entscheidung. Den Stand der Dinge teilt er Marit Blom und allen anderen über die App laufend mit. Das heißt, Blom hatte eigentlich gar keinen Grund, von Leeuwarden hierherzufahren. Ein Blick in die App oder zur Not ein simpler Anruf hätten genügt.«
Griet hob die Augenbrauen. »Sie meinte außerdem, dass sie sich die Wärmepumpe ansehen wollte. Allerdings wusste Jeroen Brouwer nichts davon.«
»Geert Dammers ging es ganz ähnlich«, sagte Pieter. »Er machte seinen abendlichen Kontrollgang an der Gracht, als er Blom plötzlich bemerkte. Sie stand hinter der Brücke in der Mitte des Ortes bei der kluuntapijt
»Und?«
»Sie schien jemanden zu beobachten.«