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Ien frysk famke
M
it dem, was sie nun tun würde – tun musste
–, würde Griet den Lebensabend zweier Menschen zerstören, und dafür hasste sie ihren Beruf.
Pieter hatte die Adresse von Jessica Jonkers Eltern schnell ermittelt. Das Ehepaar Jonker wohnte im Vossewijkpark,
einem der wohlhabenderen Viertel von Leeuwarden, westlich des Altstadtkerns. Griet und Pieter standen vor einem Reihenmittelhaus, eines von jener Sorte, wie man sie in den vergangenen Dekaden im ganzen Land gebaut hatte und die mit ihren uniformen Fassaden aus beigen Klinkersteinen wenig Rückschlüsse auf den Lebensstandard der Bewohner zuließen. Rechts neben der Eingangstür fiel aus dem großen Wohnzimmerfenster der Lichtschein in einen handtuchgroßen Vorgarten. Im Obergeschoss erblickte Griet zwei kleinere Fenster, eines davon mit diversen Aufklebern versehen, die in der Dunkelheit nur schemenhaft zu erkennen waren. Vielleicht hatte Jessica Jonker in jenem Zimmer ihre Kindheit und Jugend verbracht, dachte Griet noch, bevor sie sich entschloss, ein ungeschriebenes Gesetz zu brechen.
Pieter stand bereits vor der Eingangstür und wollte klingeln. Griet bedeutete ihm zu warten.
Sie tat einen Schritt zur Seite und stellte sich auf die mit weißem Kies versehene Drainage, die an der Vorderseite des Hauses entlang verlief. Sie postierte sich so, dass sie durch das Wohnzimmerfenster blicken, selbst aber nicht gesehen werden konnte.
Eigentlich besagte die allgemein gültige Etikette, dass es sich nicht ziemte, bei Nachbarn oder Fremden in die offenen Fenster zu schauen, selbst wenn diese nicht mit Vorhängen oder Rollos verhängt waren. Griet hatte im Sommer schon oft erlebt, dass Touristen die fehlende Verhüllung der Fenster als falsche Einladung verstanden, genau dies zu tun, was ihnen aber die wenigsten übel nahmen.
Außerdem nahm man es mit der Diskretion manchmal selbst nicht so genau. Wie in vielen anderen Städten gab es auch in Leeuwarden regelmäßig ein gluren bij de buren,
eine Art Straßenfest, bei dem die Leute in ihren Wohnzimmern kleine Theaterstücke oder musikalische Aufführungen veranstalteten und andere dazu einluden, ihnen von der Straße aus durch das offene Fenster zuzusehen.
Griet hatte im Laufe ihrer Dienstzeit eine eigene Form des gluren bij de buren
entwickelt. Nicht selten hatte ihr der Blick durch ein Fenster einen ersten Eindruck davon verschafft, mit wem sie es zu tun bekam. Und das verhielt sich bei den Jonkers nicht anders.
Auf der Fensterbank des Wohnzimmers reihten sich die Topfpflanzen aneinander, rechts stand zwischen Fenster und einem Stereoturm ein mit bunten Lichtern beleuchteter Weihnachtsbaum. An den Esstisch aus Massivholz, der unmittelbar hinter der Scheibe platziert war, passten sechs Leute. Links von ihm waren auf einem Büfettschrank an der Wand diverse Fotos aufgestellt. Auf dem Parkettboden sah Griet Teppiche liegen, einer unter dem Esstisch, ein weiterer im hinteren Teil des Wohnzimmers, wo das Ehepaar Jonker vor dem Fernseher saß, der an der Wand montiert war. Meneer
Jonker hatte in einem Ohrensessel Platz genommen, mevrouw
auf einer Zweiercouch. Es lief eine Quizshow. Auf dem Couchtisch standen eine Flasche Wein, Gläser und kaashappjes
– Käsehäppchen. Im offenen Kamin brannte ein Feuer, in dessen Schein Griet die Gesichter der Jonkers erkennen konnte. Von Weitem schätzte sie beide auf Mitte sechzig. Sie sahen glücklich aus.
Griet blickte in das Leben zweier Menschen, die ihren Lebensabend genossen, und dieses Glück würde sie nun zerstören. Sie wandte sich ab und atmete durch. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag der Westerpark
mit einem zugefrorenen See. Hinter den vereisten Ästen der Bäume stand der Vollmond hell am Himmel.
Griet nickte Pieter zu. Er klingelte.
***
Griet hatte einmal erlebt, wie der Tod eines Kindes, vor allem der gewaltsame, das Leben zweier Familien zerstörte. Es war in Amsterdam gewesen, in den Neunzigern. Griet hatte als junge Streifenpolizistin Dienst im Stadtteil De Pijp
getan. Ein Sechsjähriger war zwischen parkenden Autos hindurch vor einen Bus gelaufen. Der Fahrer hatte keine Chance gehabt, er versuchte zwar eine Vollbremsung, erwischte den Jungen aber mehr oder weniger in voller Fahrt. Als Griet den Unfall aufnahm, beschrieb der Mann, wie er noch das überraschte Gesicht des Kleinen gesehen hatte, bevor er mit dem Bus über ihn hinwegrollte. Später erfuhr sie, dass der Mann seinen Kummer in Alkohol ertränkt hatte und seine Familie deshalb zerbrach. Er selbst war Vater zweier Mädchen gewesen. Das alles war nur geschehen, weil die Mutter des verunglückten Jungen sich mit einer Freundin Schuhe in einem Schaufenster angesehen hatte und für einen Moment abgelenkt gewesen war. Sie beendete ihr Leben ein halbes Jahr später mit Schlaftabletten und aufgeschlitzten Pulsadern. Der Zufall wollte es, dass Griet zu der Wohnung gerufen wurde, wo der Ehemann ihre Leiche in der Badewanne entdeckt hatte, als er von der Spätschicht heimkam.
Griet vermochte nicht abzuschätzen, wie die Jonkers den Schock auf lange Sicht verkraften würden. Äußerlich gaben sich beide zunächst gefasst. Doch bei mevrouw
Jonker hatte Griet in deren Augen gesehen, wie etwas in ihr zerbrach, als Griet die Nachricht vom
Tod der Tochter überbrachte. Es war eine ihr wohlbekannte Reaktion, die ebenso plötzliche wie surreale Erkenntnis, dass der Mensch, den man geliebt, um den man sich ein Leben lang gekümmert und gesorgt hatte, nun nicht mehr auf dieser Welt war. Wobei das vorzeitige Ableben des eigenen Kindes einen noch tieferen Riss im Herz verursachte und es für immer in einen dunklen, hoffnungslosen Ort verwandelte.
»Im Grunde … war es unsere Schuld«, sagte der Vater.
Sie saßen an dem großen Holztisch vor dem Fenster, und Griet ertappte sich bei dem Gedanken, dass es für Passanten, die trotz aller ungeschriebenen Gesetze einen Blick ins Wohnzimmer warfen, aussehen musste wie ein gemütlicher Plausch unter Freunden.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Griet. Sie hatte meneer
Jonker, einen Mann mit wettergegerbtem Gesicht und vollem weißem Haar, nach der Herzerkrankung seiner Tochter gefragt.
»Wir waren beide schon Mitte vierzig«, erklärte er und blickte zu seiner Frau. »Es war eine Risikoschwangerschaft. Jessica wurde mit einer Herzschwäche geboren.«
»Wir machten uns deshalb Vorwürfe«, sagte die Frau und strich sich eine Strähne ihres langen grauen Haars aus dem Gesicht. Sie trug einen schwarzen Strickpullover und eine Jeans. »Wegen der Krankheit war Jessica ein schüchternes, zurückgezogenes Kind. Sie tat sich schwer in der Schule, hatte wenig Freunde, vergrub sich zu Hause in den Büchern. Wenn ich daran denke, wie …« Sie verstummte und verzog schmerzerfüllt das Gesicht.
Ihr Mann legte ihr den Arm um die Schultern. »Die Medikamente, die Jessica anfangs bekam, hatten ziemliche Nebenwirkungen. Man war damals noch nicht so weit wie heute. Und es … es dauerte lange, bis wir einen Arzt fanden, der ihr helfen konnte.«
»Bei wem war Ihre Tochter in Behandlung?«, fragte Griet.
»Leo Maaskant.«
»Die Hausbootpraxis?«, hakte Pieter nach.
»Precies
– genau.«
Leo Maaskant war ein stadtbekannter Homöopath, der seine Praxis auf einem Hausboot in der Nähe des Museumshafens in Leeuwarden betrieb. Selbst Griet hatte von ihm gehört, da einige Kollegen, die wenig von der Schulmedizin hielten, sich bei ihm ihre Rückenbeschwerden, den zu hohen Blutdruck oder den entgleisten Cholesterinspiegel therapieren ließen.
»Seit wann war Jessica bei ihm in Behandlung?«, fragte Griet.
»Sie war zwölf, als wir das erste Mal zu ihm gingen«, erklärte der Vater. »Die Praxis war gerade neu und … na ja, Sie wissen vielleicht, wie das damals war, zu solchen ›Wunderheilern‹ ging man nicht. Deshalb hatten auch wir lange gezögert.«
»Aber Leo bekam die Krankheit in den Griff.« Mevrouw
Jonker wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen. »Jessica blühte richtig auf, traute sich plötzlich etwas zu.«
»Ihr Traum war, Journalistin zu werden«, sagte der Vater. »Sie schrieb für die Schülerzeitung, studierte dann in Groningen und schloss mit Auszeichnung ab. Sie war voller Tatendrang.« Er lachte bitter. »Während des Studiums machte sie sogar solche YouTube-Filmchen …«
»Was waren das für Videos?«, fragte Griet.
»Sie berichtete über Fryslân
.«
Griet hob die Augenbrauen. Das klang nicht gerade nach einem besonders trendigen Thema für eine YouTuberin. Andererseits war der Stolz auf ihr Land den Menschen hier oben offensichtlich in die Wiege gelegt worden.
Meneer
Jonker schien ihre Gedanken zu ahnen. »Jessica liebte ihre Heimat. Sie war, wie man hier sagt, ien frysk famke …
« Er senkte den Blick und presste die Lippen zusammen.
»Ein echtes friesisches Mädchen«, übersetzte Pieter.
»Mein Mann hat früher bei Rijkswaterstraat
gearbeitet und Jessica mitgenommen, wenn es ging«, sagte die Mutter und strich ihrem Mann über den Arm.
Rijkswaterstraat
kümmerte sich um den Bau und Unterhalt der Wasserwege in den Niederlanden. Griets Vater hatte immer gemeint, das mache sie zur wichtigsten Behörde im ganzen Land, sorge sie doch schließlich dafür, dass alle trockene Füße behielten.
»Ich war damals oft mit dem Boot hier oben in Fryslân
unterwegs«, fuhr meneer
Jonker mit einem Seufzen fort. »Jessica begleitete mich häufig und lernte auch die verborgenen Winkel unseres Landes kennen.«
»Was machte Ihre Tochter nach dem Studium?«, fragte Griet.
»Vor ein paar Monaten bekam sie das Angebot, für das Leeuwarder Dagblad zu schreiben. Die waren über den YouTube-Kanal auf sie aufmerksam geworden«, sagte der Vater. »Das war das, was sie … sich immer …« Er sprach nicht weiter, sondern vergrub das Gesicht in beiden Händen. Seine Schultern begannen zu beben. Mevrouw
Jonker rückte tröstend an die Seite ihres Mannes.
Griet schwieg und ließ die beiden einen Moment in ihrem Schmerz allein. Dann bot sie an: »Wenn es Ihnen lieber ist, können wir ein andermal …«
Meneer
Jonker wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und hob beschwichtigend die Hand. »Schon gut … machen wir weiter.«
Griet beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Es gibt ein paar Dinge, die wir Sie fragen müssen, um … bestimmte Möglichkeiten auszuschließen.«
Meneer
Jonker nickte. »Fragen Sie nur.«
»Wissen Sie von Auffälligkeiten im Leben Ihrer Tochter? Menschen, die ihr nicht wohlgesinnt waren. Oder hatte sie Schulden, Beziehungsprobleme, irgendetwas, weshalb jemand … ihr eventuell Böses wollte?«
»Nein, nichts dergleichen«, sagte der Vater, und auch die Mutter schüttelte den Kopf.
»Hatte sie einen Freund?«
»Ja. Das heißt, eigentlich nicht mehr.« Meneer
Jonker blickte kurz zu seiner Frau, als wolle er sich rückversichern. »Die beiden hatten sich getrennt.«
»Sein Name?«
»Theo Lammers.«
»Gab es Streit bei der Trennung?«
»Nein, nicht dass wir wüssten. Theo ging kurz danach in die USA
.«
Griet notierte sich den Namen des Mannes. »Es ist eine Standardfrage, und ich muss sie vor allem bei Verstorbenen mit einer Vorerkrankung stellen. Wie war es um das seelische Wohl Ihrer Tochter bestellt?«
Der Vater gab ein trockenes Lachen von sich. »Sie meinen, ob Jessica Selbstmord begangen hat? Ausgeschlossen.«
»Sie war doch endlich dort angelangt, wo sie immer hinwollte«, sagte mevrouw
Jonker. »Nach den Artikeln über Edwin standen ihr die Türen offen …«
»Warten Sie«, schaltete sich Pieter ein. »Meinen Sie, Jessica schrieb für das Leeuwarder Dagblad die Geschichte über Mart Hilberts und Edwin?«
»Ja, das war eine große Sache, nicht? Die ganze Stadt sprach plötzlich darüber, was unsere Jessica schrieb …« Die Mutter strahlte kurz voller Stolz über das ganze Gesicht. Doch dann erstarb ihr Lächeln. Sie sank in sich zusammen, und ihre Miene verwandelte sich in eine ausdruckslose Maske. Aus ihren Augen schien mit einem Mal jede Lebensenergie gewichen zu sein. »Goeie gnade
– gute Gnade …« Sie erhob sich und ging zu der Glastür, die in den Hausflur führte. Nachdem sie sie lautlos hinter sich geschlossen hatte, sah Griet noch, wie die alte Frau langsam die Treppe hoch ins Obergeschoss ging.
Der Zeitpunkt war gekommen, das Gespräch zu beenden. Griet räusperte sich und wollte sich zum Gehen erheben, als meneer
Jonker meinte: »Alstublieft
– bitte … bringen wir das hier zu Ende.«
Griet überlegte einen Moment. Es gab nur noch wenige Fragen, die sie stellen wollte, und es sprach nichts dagegen, sie mit dem Vater allein zu besprechen. Vermutlich war es sogar besser, als den Jonkers einen weiteren Besuch abzustatten. »Danke«, sagte sie mit einem anerkennenden Nicken und setzte die Befragung fort. »Reden wir über das Umfeld Ihrer Tochter. Hatte sie viele Freunde?«
»Jessica war, wie soll ich sagen … wählerisch«, antwortete der Vater. »Die wenigen Freunde, die sie hatte, waren echte Freunde. Solche, die für einen da sind, wenn man sie braucht. Ihre beste Freundin war Evje. Die beiden kannten sich seit dem Kindergarten.«
»Es wäre nett, wenn Sie uns ihre Kontaktdaten geben könnten«, sagte Pieter.
»Natürlich.«
Griet blätterte in ihrem Notizheft. »Da ist noch etwas, um das wir Sie bitten würden. Wir wissen, dass es nicht einfach für Sie sein wird, doch Sie müssten Ihre Tochter identifizieren.«
Der Vater nickte. »In Ordnung.« Und mit einem Blick zur Wohnzimmertür fügte er hinzu: »Wäre es in Ordnung, wenn ich allein komme?«
»Ja, das ist kein Problem«, sagte Griet. »Eine letzte Sache noch. Wissen Sie, warum Ihre Tochter heute Abend in Sloten war?«
»Nein.«
»In Jessicas Personalausweis ist eine Adresse in Groningen verzeichnet. Ich nehme an, sie hat dort während des Studiums gewohnt und den Ausweis noch nicht aktualisieren lassen?«
»Dat kloppt
– stimmt.«
»Wo wohnte sie jetzt?«
»Unsere Tochter war in dieser Hinsicht vielleicht etwas … ungewöhnlich.« Meneer
Jonker setzte ein Lächeln auf. »Sie hatte eine Zelle im Gefängnis.«