7
Treibholz
#Elfstedentocht #Drijfhout
Gefährliche Geldmache beim Elfstedentocht I Drijfhout
181458 Aufrufe 2351 534
Drijfhout
108243 Abonnenten Abonnieren
154 Kommentare
Goedei – goedendag, hier ist eure Jessica mit nieuws aus unserem wunderschönen Fryslân . Das ganze Land ist ja gerade im elfstedenkoorts . Und als ob ein Elfstedentocht – oder wie wir hier in Fryslân sagen: alvestêdetocht – nicht aufregend genug wäre, soll es jetzt noch einen weiteren, einen »alternativen Elfstedentocht« geben. Ich erklär euch in diesem Video, was es damit auf sich hat und warum das Ganze eine gefährliche Geldmache ist.
Angefangen hat alles vor ein paar Wochen mit einem kurzen Clip auf Omrop Frylân . Klickt unten auf den Link in der Videobeschreibung, wenn ihr ihn euch ansehen wollt.
Toon Ewerts verkündet darin vor laufenden Kameras, dass er einen alternativen Elfstedentocht organisieren will. Ewerts betreibt hier in Leeuwarden ein Restaurant, und er mischt in der Politik mit. Er findet, dass die Elfsteden-Kommission um Marit Blom zu vorsichtig ist und die Gelegenheit verpasst, nach über zwanzig Jahren endlich wieder ein Rennen abzuhalten. Die Elfsteden-Kommission will das Rennen nur starten, wenn das Eis auf der gesamten Strecke mindestens fünfzehn Zentimeter dick ist – und Marit Blom lässt in der Hinsicht nicht mit sich reden. Ewerts meint aber, dass zehn Zentimeter reichen, früher, in den Anfangstagen des Elfstedentocht, sei man auch bei solchen Bedingungen gestartet.
Er hat schon zahlreiche Unterstützer um sich geschart. Nicht ausgeschlossen, dass er sein Vorhaben tatsächlich umsetzen kann. Das wäre wohl nicht ganz ungefährlich. Beim letzten Rennen von 1997 waren über 16000 Teilnehmer am Start. Und bei einer Neuauflage rechnet man mit einer Rekordzahl an Teilnehmern und Zuschauern. Jetzt stellt euch vor, die gehen alle auf das Eis, und es ist nicht dick genug.
Es ist also sinnvoll, auf Nummer sicher zu gehen. Ich habe versucht, darüber mit Toon Ewerts zu sprechen. Aber er hat das Interview nach wenigen Minuten abgebrochen. Meine Meinung: Ihm geht es nur um die Kohle.
Warum? Es ist so: Wer beim Elfstedentocht an den Start will, muss Mitglied in der Koninklijke Vereniging de Friesche Elf Steden sein. Der Verein hat rund 30000 Mitglieder. Startberechtigt sind nur jene, die am 1. Juni 2014 schon Mitglied waren. Später eingetretene Mitglieder können das Startrecht über eine Warteliste erlangen. Das Startrecht ist nicht übertragbar. Das grenzt die Zahl der Läufer ein – auf rund 20000.
Toon Ewerts will die Teilnahme hingegen über eine Startgebühr regeln. Er spricht von rund 100 EUR pro Person, die natürlich er als Organisator einstreicht. Zwar will auch er die Teilnehmerzahl begrenzen, allerdings auf satte 50000 Läufer.
Man kann sich ausrechnen, dass das für ihn ein prima Geschäft wäre und warum er die Besitzer von Läden, Cafés und Restaurants in Leeuwarden hinter sich hat: Die wittern ebenfalls den Zaster.
Ewerts würde mit einem alternativen Elfstedentocht ein Stück friesisches Kulturgut wohl in eine Kirmesattraktion verwandeln. Eine ziemlich gefährliche noch dazu.
Ich gehe der Sache weiter nach. Wenn euch das Video gefallen hat, lasst mir ein Like da, und wenn ihr mehr aus Fryslân erfahren wollt, abonniert meinen Kanal!
Griet stoppte das YouTube-Video mit einem Klick auf den Pausebutton und fror das Gesicht von Jessica Jonker auf dem Bildschirm des Laptops ein. Es war seltsam, die junge Frau, deren Leiche sie erst vor wenigen Stunden untersucht hatte, wieder lebendig und voller Energie zu sehen.
Sie betrachtete das junge Gesicht. Jessica Jonker fielen die langen Haare mit den blauen Strähnen auf die Schultern. Der blasse Teint ihres Gesichts mochte vielleicht eine Begleiterscheinung ihrer Herzerkrankung sein, doch in den grünen Augen leuchtete das Feuer von jemandem, der für seine Sache brannte.
Hinter der jungen Frau war bildschirmfüllend das Foto einer friesischen Landschaft zu sehen, die, aus der Vogelperspektive aufgenommen, weite Wiesen und Felder mit vereinzelten Gehöften zeigte. Am Horizont erkannte man das Wattenmeer. Ausgehend von dem leichten Schatten, den Jessica Jonker auf das Bild im Hintergrund warf, vermutete Griet, dass es sich um eine Art Fototapete handeln könnte. Vermutlich hatte sie das Video in ihrem Atelier im Gefängnis aufgenommen.
Jessicas Vater hatte erzählt, dass seine Tochter zwei Zellen im Blokhuisport angemietet hatte, einem ausgedienten Gefängnis an der Zuiderstadsgracht . Es war vollständig modernisiert worden, und in den ehemaligen Häftlingszellen waren heute ein Hostel untergebracht sowie die Büros und Geschäfte von diversen Freiberuflern, Künstlern und Kleinunternehmern. Griet hatte bereits Kontakt mit dem Vermieter aufgenommen und die zuständigen wijkagenten gebeten, die Räume zu versiegeln, bis die Kriminaltechnik sie untersuchen konnte.
Griet stand von der Eckbank auf, reckte sich und ging durch den Salon des Plattboots hinüber zur Kochecke. Aus der Stadt erklang das Glockenspiel des stadhuis . Es war kurz vor Mitternacht.
Sie öffnete den Verschlag über der Spüle und holte eine Flasche Jenever hervor, die ihr die Kollegen zum Geburtstag geschenkt hatten. Sie hatten zwar kein Vermögen investiert, sich aber auch nicht lumpen lassen. Griet schenkte sich ein Glas ein und ging damit hinüber zum Sicherungspanel, wo sie die Heizung eine Stufe höher stellte. Die Temperaturen sollten diese Nacht auf minus fünf Grad sinken. An den Bullaugen, die Griet erst am Morgen vom Schnee befreit hatte, hatten sich außen Eisblumen gebildet.
Sie setzte sich wieder auf die Eckbank an den Laptop.
Den YouTube-Kanal von Jessica Jonker hatte sie schnell gefunden. Sein Titel lautete drijfhout – Treibholz. Der Abonnentenzahl nach zu urteilen, war Jessica durchaus erfolgreich gewesen. Zu den beliebtesten Videos zählten jene, in denen sie ihrem Publikum auf amüsante Weise das Fries näherbrachte oder Interviews mit Lokalgrößen führte. Auch ihre Suche nach dem jungen Edwin, von der sie in ein paar Videos berichtete, hatte viele Zuschauer gefunden.
Die mit Abstand meisten Aufrufe, Likes und Kommentare hatte allerdings das Video erhalten, das Jessica als Letztes hochgeladen hatte, jenes über Toon Ewerts und den alternativen Elfstedentocht.
In Gedanken gab Griet der jungen Frau vollkommen recht. Ein einziger Elfstedentocht genügte vollauf. Weder die Stadt noch das Land brauchten einen zweiten. Ansonsten drehten vermutlich alle noch vollends durch.
Griet scrollte durch die zahlreichen Kommentare unter dem Video. Die Mehrheit ihrer Follower stimmte Jessica zu, wobei die meisten es bei wenigen lobenden Worten beließen, nur manche äußerten sich ausführlicher, darunter wie so oft ausgerechnet jene, die mit Beschimpfungen und Hasstiraden um sich warfen. Ihr Tenor war, dass Jessica eine Hexenjagd auf einen ehrbaren Mann anzettele, der Elfstedentocht eben nichts für Weicheier sei, sondern für echte Kerle, und dass Frauen dort von alters her ohnehin nichts zu suchen hätten und so weiter … Es stand außer Frage, dass es nicht um eine ernsthafte Diskussion ging. Die Gemüter schienen sich vielmehr an der bloßen Tatsache zu erhitzen, dass es sich bei Jessica Jonker um eine Frau handelte, die in vermeintlich männlichem Territorium wilderte.
Für einen Moment überlegte Griet, ob die Hasskommentare relevant für die Ermittlungen waren. Einerseits war es heute leider gang und gäbe, dass die Leute im Internet verbal übereinander herfielen. Dass einer dem anderen den Tod wünschte, bedeutete meist nicht, dass er auch tatsächlich zur Tat schritt. Andererseits war dies in Einzelfällen natürlich bereits durchaus vorgekommen. Gerade in letzter Zeit hatte Griet von Streifenkollegen häufiger gehört, dass der virtuelle Hass in realen umschlug und die Leute wegen eines Twitter- oder Facebook-Posts aufeinander losgingen. Es waren seltsame Zeiten, dachte Griet. Als sie Ende der Neunziger in den Polizeidienst eingetreten war, hatte man das Internet noch als Fanal von Demokratie, Frieden und Freiheit gefeiert. Wie sehr sich doch alle getäuscht hatten. Griet machte sich eine kurze Notiz zu den YouTube-Kommentaren, vermutete aber, dass eine Auswertung wenig ergiebig sein würde.
Sie lehnte sich zurück, ließ den Jenever im Glas kreisen und dachte an die Jonkers. Sie hatte das Gespräch mit professioneller Nüchternheit geführt.
Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr der Kummer der Eltern nachhing. Sie überlegte sich, wie es sich anfühlen mochte, an ihrer Stelle zu sein. Was wäre, wenn eines Tages Kollegen vor ihrer Tür stünden und ihr mitteilten, dass Fenja etwas zugestoßen war?
Solche Gedanken waren ihr bislang fremd gewesen. Doch nun spürte sie zum ersten Mal, wie Eltern wirklich empfanden und welcher Albtraum für die Jonkers gerade Realität geworden war.
Und doch meldete sich auch wieder der rationale Teil ihres Gehirns, ihr Ermittlerinstinkt. Wenn Fenja jemals etwas zustoßen sollte so wie Jessica Jonker, würde sie Gewissheit haben wollen. Darüber, ob es tatsächlich nur ein Unglück gewesen war oder ob es jemanden gab, der Schuld hatte und den man zur Rechenschaft ziehen musste.
Ihr mobieltje klingelte.
Auf dem Display sah Griet, dass es Fleming war, ihr Ex-Mann. »Hej«, meldete sie sich. »Was gibt’s?«
»Entschuldige, dass ich so spät anrufe«, sagte er mit seiner vertrauten Stimme. »Ich hab ein kleines Problem und wollte dich fragen … ob du mir helfen könntest.«
»Natürlich, worum geht es?«
»Ich würde Fenja gern früher bringen.«
»Wie viel früher denn?«
»Morgen am späten Nachmittag?«
»Na ja, das …« Griet wusste nicht, was sie sagen sollte. Das kam überraschend. Sie wollte Fleming gern helfen, doch es lag auf der Hand, warum sie seinem Wunsch nicht so ohne Weiteres nachkommen konnte.
»Hör zu, ich weiß, dass ich dich damit überfalle«, sagte er. »Aber es ist wichtig. Die haben am Filmset Schwierigkeiten mit dem Drehbuch, und ich muss hinfahren.«
Flemings Kriminalromane waren in den Niederlanden ein so großer Erfolg gewesen, dass es schon seit Jahren Gespräche über eine Verfilmung gab. Vor einem halben Jahr waren die Verhandlungen über die Filmrechte konkret geworden. Soweit Griet wusste, arbeitete eine Produktionsfirma an einer Fernsehserie, und ihr war durchaus bewusst, wie viel für Fleming davon abhing.
»Was ist mit deinen Eltern?«, fragte sie.
»Die sind in die Berge gefahren.«
»Und wenn du einen Babysitter …«
»Glaub mir, Griet, ich bin schon alle Möglichkeiten durchgegangen. Alle, die sonst auf Fenja aufpassen, sind weg oder im Weihnachtsbrass. Und jemand Fremden will ich nicht im Haus haben, wenn ich nicht da bin.«
»Also, ich stecke gerade mitten in einem Fall …«
»Du steckst immer mitten in einem Fall.« Sie hörte, wie er seufzte. »Es ist nur dieses eine Mal … bitte.«
Griet hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie die Ermittlungen voranbringen und sich gleichzeitig um ihre Tochter kümmern sollte. Allerdings stand sie in Flemings Schuld. Die Trennung war ihr Wunsch gewesen, und er hatte kein Drama daraus gemacht. Im Gegenteil, er hatte die Sorge um Fenja übernommen und es Griet auf diese Weise überhaupt ermöglicht, sich ein neues Leben aufzubauen.
Sie konnte ihn unmöglich im Stich lassen.
»Ist gut«, sagte sie. »Wann bringst du sie?«
»Fünfzehn Uhr morgen? Dann kann ich am frühen Abend in Amsterdam sein und die ersten Gespräche führen.«
»Und … wie lange soll sie bleiben?«
»Ich weiß es noch nicht genau«, sagte Fleming. »Könnte sein, dass ich das Wochenende brauche. Wäre das okay?«
»Ja, in Ordnung«, stimmte Griet zu, obwohl ihr Bauchgefühl das Gegenteil sagte. »Ich freu mich auf euch.«
Sie beendete das Gespräch und ließ das mobieltje sinken.
Es fiel ihr schwer, ihre Gedanken zu ordnen. Die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Fenja hatte sie zwar die vergangenen Wochen in freudige Spannung versetzt. Doch da waren auch Zweifel gewesen, wie ihre Tochter nach all den Veränderungen zu ihr stehen würde. Was, wenn Fenja sich von ihr entfremdet hatte? Außerdem würde Fenja länger bleiben als erwartet – und vor allem würde Griet sich allein um sie kümmern müssen. Sie spürte, wie sich die Last der Verantwortung wieder auf ihre Schultern zu legen begann, ein Teil des Elterndaseins, den sie nie gemocht hatte. Sie fühlte sich dazu imstande, umfangreiche Mordermittlungen zu leiten, doch die Sorge um das Wohl eines jungen Lebens hatte sie immer an den Rand der Verzweiflung gebracht. Was, wenn sie es … vermasselte?
Je länger Griet darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr, dass es für das Gefühl, das in ihr gerade übermächtig zu werden drohte, einen Namen gab.
Angst. Angst vor dem eigenen Versagen.