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Ein plötzlicher Fall von Dringlichkeit
G riet verließ die Hausbootpraxis über den Holzsteg und warf einen Blick auf ihr mobieltje, das sie auf stumm geschaltet hatte. Es gab mehrere Anrufe in Abwesenheit und eine Nachricht auf ihrer Mobilbox. Sie stammte von Pieter.
»Griet, zwei Dinge«, sagte er. »Ich habe versucht, Evje Molenaar zu erreichen, die Freundin von Jessica. Sie meldet sich nicht, aber ich bleib dran. Dann hat Mei gerade durchgegeben, dass sie die Obduktion von Jessica gleich heute Morgen durchführt. Acht Uhr dreißig. Und schau mal auf die Seite vom Leeuwarder Dagblad. Die haben eine Meldung online. Ich mach mich auf den Weg. Wir treffen uns im GGD
Die Sprachaufnahme endete. Griet war bei ihrem Fahrrad angekommen. Sie rief auf ihrem Smartphone die Seite des Leeuwarder Dagblad auf, der Lokalzeitung, für die auch Jessica Jonker geschrieben hatte. Schon der Blick auf die Schlagzeile genügte, um zu erkennen, dass das Blatt sich, wie nicht anders zu erwarten, für die spektakuläre Lesart der Geschichte entschieden hatte:
Elfsteden-Chefin fischt tote Reporterin aus Gracht!
06 : 42 Uhr
Sloten/Leeuwarden. Am frühen Montagabend ist in Sloten die Leiche einer Frau aus der Gracht geborgen worden. Bei der Toten handelt es sich um Jessica Jonker (25) aus Leeuwarden, eine Mitarbeiterin des Leeuwarder Dagblad und erfolgreiche YouTube-Influencerin. Aus bislang noch ungeklärtem Grund stürzte Jonker in Sloten vom Bolwerk Zuidzijde in die Gracht. Nach Aussagen der Anwohner war Marit Blom, die Vorsitzende der Koninklijke Vereniging de Friesche Elf Steden, vor Ort und unternahm trotz des brüchigen Eises einen waghalsigen Rettungsversuch. Ebenfalls daran be teiligt waren Geert Dammers, ijsmeester und rayonhoofd von Sloten, sowie Jeroen Brouwer, Inhaber von Dutch Heat, einer ortsansässigen Firma.
Trotz der sofortigen Hilfe verstarb Jessica Jonker noch an Ort und Stelle.
Die Redaktion des Leeuwarder Dagblad befindet sich in tiefer Trauer um ihre herausragende Reporterin. Wir hoffen, dass die Polizei die Umstände ihres Todes bald aufklären kann. Inwieweit der Vorfall die Vorbereitungen auf den Elfstedentocht stört, ist ungewiss. Marit Blom wollte sich auf eine Anfrage dieser Zeitung nicht äußern.
Es verwunderte Griet nicht, dass die Zeitung einen ungewöhnlichen Todesfall wie diesen aufgriff, noch dazu, wenn es um eine Journalistin ging. Die Nachricht würde sich schnell verbreiten, denn die Verbindung zum Elfstedentocht – mochte sie auch noch so gering sein – würde für zusätzliche Aufmerksamkeit sorgen. Normalerweise hätten sie vermutlich mehrere Tage auf die Obduktion der Leiche warten müssen. Unter diesen Umständen konnte Griet sich allerdings denken, warum es so schnell ging: Wim Wouters musste bei der Rechtsmedizin Druck gemacht haben. Sicherlich wollte er die Umstände dieses Todesfalls lieber früher als später geklärt haben.
Griet hatte den Artikel auf der Seite des Leeuwarder Dagblad bis ans untere Ende gescrollt, wo sie den Link zu einer weiteren aktuellen Meldung fand. Es schien um die Pressekonferenz des Bürgermeisters am gestrigen Nachmittag zu gehen, bei der auch der Polizeichef, Cornelis Hasselbeek, zugegen gewesen war. Unter der Headline war ein Foto der beiden abgebildet. Griet kam nicht umhin festzustellen, dass ihr oberster Chef trotz seiner fünfzig Jahre in schneidiger Uniform und mit durchtrainiertem Körper eine ziemlich gute Figur neben dem beleibten Bürgermeister machte.
Bevor sie das Smartphone in ihre Jackentasche steckte, blickte sie noch kurz auf die Uhr. Es war bereits halb zehn. Mei hatte bestimmt nicht mit der Obduktion auf sie gewartet. Allerdings kam Griet das nicht ungelegen. Sie hatte in ihrer Laufbahn genügend Leichensektionen beigewohnt und verspürte wenig Interesse, vor dem geöffneten Körper von Jessica Jonker zu stehen und Mei dabei zuzusehen, wie sie die junge Frau ausweidete. Das Endergebnis der Untersuchung würde ihr genügen.
Der GGD , der Gemeentelijke Gezondheitsdienst, wo die Rechtsmedizin untergebracht war, war nicht weit entfernt. Griet überquerte mit dem fiets – dem Fahrrad – die Prins Hendrikbrug und folgte der Willemskade bis zum Harlingertrekweg . Das Gebäude des GGD war ein moderner Komplex, der entfernt an eine Burg erinnerte, da der Architekt sich die Extravaganz erlaubt hatte, das Flachdach auf der Vorderseite mit einer Reihe von Zinnen zu versehen. Das Rechtsmedizinische Institut befand sich im Keller des Gebäudes.
Der Sektionssaal unterschied sich in seiner kühlen Nüchternheit mit den weiß gefliesten Wänden und Böden nicht von allen anderen, die Griet kannte. Die Leiche von Jessica Jonker lag auf dem Sektionstisch, und Mei Nakamura nähte gerade den Torso mit einem schwarzen Faden zu. Neben ihr stand Pieter, eine Tasse koffie in der Hand. Beide trugen grüne Kittel und eine durchsichtige Kopfhaube als Schutz.
Griet blieb stehen, weil sie einen Moment brauchte, um sich an den alles durchdringenden Geruch des Todes zu gewöhnen.
»Schön, dass du es auch noch schaffst«, sagte Mei, ohne aufzublicken. »Den spannenden Teil hast du verpasst. Die Schutzkleidung kannst du dir sparen, ich bin fertig.«
»Ich war bei Leo Maaskant, dem Hausarzt von Jessica Jonker«, erklärte Griet.
»Dann hat er dir vermutlich erzählt, dass sich mevrouw Jonker in einem sehr guten Allgemeinzustand befand.«
»Ja. Sie litt allerdings an einer Herzrhythmusstörung.«
Mei zog die Handschuhe aus, nahm die Schutzbrille ab und setzte ihre normale Brille auf. »Kurzgefasst ist es so, wie ich vermutet habe. Kein Wasser in der Lunge, keine sonstigen Verletzungen oder Schädigungen. Diese Frau ist an einem Herzstillstand gestorben.«
Pieter nippte an seinem koffie . »Dann war es ein Unglück? Sie fällt von der Brücke in die eisige Gracht und erleidet infolge des Schocks einen Herzstillstand?«
»Ich fürchte, so einfach ist es nicht.« Mei hob eine Augenbraue. »Selbst in Eiswasser kann man nach dem anfänglichen Schock noch bis zu einer Stunde bei Bewusstsein bleiben – wobei eine Rettungsweste hilfreich wäre. Man ist nicht auf der Stelle tot. Natürlich besteht bei so einem Sturz die Möglichkeit, dass man bewusstlos wird, besonders, wenn man wie mevrouw Jonker mit dem Hinterkopf auf das Eis aufschlägt. Allerdings hätte sie trotzdem weitergeatmet, und es wäre Wasser in die Lunge eingedrungen, was aber nicht der Fall ist. Außerdem waren die Retter umgehend zur Stelle. So oder so bestand also eine sehr gute Chance, mevrouw Jonker lebend zu bergen. Nein, der Herzstillstand ist vor dem Sturz und dem Eintauchen ins Wasser eingetreten.«
»Sie geht also über die Brücke, hat einen Herzstillstand und fällt infolgedessen in die Gracht«, fasste Griet zusammen.
»Vermutlich«, sagte Mei. »Andererseits, wenn es so einfach wäre, würde ich in meinem Bericht eine natürliche Todesursache notieren, und ihr beiden könntet in Ruhe die Weihnachtseinkäufe machen. Da ist aber eine Sache, die mich stutzig macht.«
Mei sah hinab auf den leblosen Körper, als erhoffe sie sich von der toten Jessica Jonker eine Antwort. Schließlich hob sie den Kopf und blickte Griet über den Rand ihrer Brille an. »Der forensische Chemiker schuldete mir einen Gefallen. Er hat eine Nachtschicht eingelegt«, fuhr sie fort. »Und bei der toxikologischen Untersuchung hat er eine sehr hohe Konzentration Digitalis im Blut der Toten gefunden.«
»Ist das denn ungewöhnlich?«, erwiderte Griet. »Maaskant hat bestätigt, dass Jessica das Mittel regelmäßig nahm.«
»Die Dosis war definitiv tödlich«, erklärte Mei. »Ich kann mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass das Digitalis zu dem Herzstillstand geführt hat.«
Pieter leerte seine Tasse, stellte sie ab und machte sich daran, die Schutzkleidung auszuziehen. »Hat sie versehentlich überdosiert?«
»Möglich, aber nicht wahrscheinlich«, antwortete Griet. »Jessica nahm das Digitalis schon sehr lange, wusste um die Risiken und ging nach der Aussage ihres Arztes entsprechend umsichtig damit um. Zudem liegt ihr letzter Check-up erst eine Woche zurück. Da war alles in Ordnung.«
»Das deckt sich mit meiner Erfahrung«, sagte Mei. »Die Behandlung mit Digitalis ist umstritten. In den seltenen Fällen, in denen es noch angewandt wird, sind daher Ärzte und Patienten gleichermaßen vorsichtig.«
»Ausschließen können wir ein Versehen aber nicht …«, überlegte Pieter laut. »Was ist mit Selbstmord?«
Griet schüttelte den Kopf. »Maaskant sagt – ebenso wie die Eltern –, dass es keine Hinweise auf Suizidgedanken gab. Außerdem ergibt es auch keinen Sinn. Jessica wohnte in Leeuwarden. Da fährt sie nicht nach Sloten, um sich dort auf der Brücke mit einer Überdosis das Leben zu nehmen.«
»So wäre das ohnehin nicht abgelaufen.« Mei räusperte sich. »Von einer Überdosis Digitalis kippt man nicht auf der Stelle tot um. Die Wirkung entfaltet sich über mehrere Stunden. Es beginnt mit Übelkeit oder Bauchschmerzen, dann folgen Kopfweh, Benommenheit, manchmal auch Halluzinationen oder eine Veränderung des Sichtfelds.«
»Das hat mir Maaskant auch erklärt«, bestätigte Griet. »Allerdings meinte er, dass Jessica über die Gefahren einer Überdosierung wusste, also auch um die Symptome, und umgehend einen Arzt aufgesucht hätte.«
»Was sie offenbar nicht getan hat«, stellte Pieter fest.
»Fragt sich, warum nicht«, sagte Griet.
Pieter nickte. »Wir sollten herausfinden, weshalb sie in Sloten war.«
»Und ihr solltet außerdem dringend in Erfahrung bringen, wo sie sich vorher aufgehalten hat«, sagte Mei. »Mevrouw Jonker stürzte gegen achtzehn Uhr in die Gracht. Ich schätze daher, dass ihr die tödliche Dosis in der Zeit zwischen fünfzehn und siebzehn Uhr verabreicht wurde …«
Mei sprach nicht weiter, und das musste sie auch nicht.
Griet blickte Pieter an, und auch er schien zu realisieren, was Meis Worte implizierten. Wenn sie einen Unfall, eine versehentliche Überdosierung und einen Selbstmord ausschlossen, blieb nur eine Möglichkeit.
Jemand hatte Jessica Jonker vergiftet.