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Vor aller Augen
I
m Inneren der Artemis
gaben die runden Deckenleuchten ein eher spärliches Licht ab. Griet hatte den Esstisch ausgeklappt und die Ausdrucke mit den Ergebnissen der Kriminaltechnik darauf ausgebreitet. Neben dem Terminkalender von Jessica Jonker hatten die Kollegen auf dem Laptop eine ausufernde Zahl an Word-Dokumenten gefunden sowie diverse Audiofiles mit Mitschnitten von Interviews.
Griet setzte sich auf die Eckbank und betrachtete die Unterlagen auf dem Tisch. Pieter saß neben Fenja in der Koje und erzählte ihr eine Gutenachtgeschichte. Griet hörte, wie er etwas von einem Einhorn fabulierte, und aus der routinierten Art, wie er es tat, schloss sie, dass seine Kinder die Geschichte bereits viele Male gehört hatten. Sie fragte sich, wie er das machte. Allein der Versuch, Geschichten frei zu erfinden, führte bei ihr meist zu einem spontanen Blackout. Ihr Talent schien sich darauf zu beschränken, Tatabläufe zu rekonstruieren, die auf Indizien und Ermittlungsergebnissen beruhten.
»So«, sagte Pieter, »und nun wird es Zeit, dass sich kleine Prinzessinnen und Einhörner ins Land der Träume begeben. Slaap zacht!
«
Pieter zog den Kopf ein, als er unter dem Türbogen der Koje hervortrat. »Ich denke, da möchte jemand noch einen Gutenachtkuss.«
Griet stand auf und ging nach vorn in die Koje. Fenja hatte die Bettdecke bis ans Kinn gezogen und schaute mit großen Augen zu dem
Bullauge hinauf, das langsam von den Schneeflocken bedeckt wurde. »Gibt es hier Piraten, Mama?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Griet formte mit den Fingern eine Pistole. »Und falls doch, verjage ich sie. Welterusten
– gute Nacht.«
Sie drückte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn. Dann ging sie zurück in den Salon und setzte sich zu Pieter an den Tisch, der die Unterlagen studierte.
»Es gibt hier einige interessante Sachen. Aber das hier … ist wirklich beunruhigend.« Er reichte Griet jene Seite des Terminkalenders, auf die auch Noor sie hingewiesen hatte.
Griet betrachtete das Blatt. Es war der Tag, an dem Jessica gestorben war. Den Vormittag hatte sie sich offenbar für die Arbeit an einem Artikel geblockt, zwischen neun und dreizehn Uhr war jedenfalls ein roter Strich gezogen, daneben stand die Notiz schrijven
– schreiben. Der einzige Termin an diesem Tag lag zwischen fünfzehn und siebzehn Uhr. Danach war nichts mehr eingetragen.
Griet nahm die anderen Seiten des Terminplaners und blätterte sie durch: eine Vielzahl von Interviews, Treffen mit Jessicas Freundin Evje, Kino, Arbeitszeiten, Telefonate, der Arztbesuch. Jessica hatte ihren Kalender offenbar penibel geführt. Umso verwunderlicher war es, dass ihre Fahrt nach Sloten nicht auftauchte. Vielleicht hatte sich dieser Termin spontan ergeben.
Griet wollte gerade etwas sagen, als draußen jemand gegen den Rumpf des Bootes klopfte. Sie stand auf, stieg den Niedergang hinauf und öffnete die Flügeltür.
Auf der Wiese vor dem Schiff stand inmitten des Schneegestöbers eine junge Frau. Es war Noemi Boogard.
***
Der Aufenthalt in London schien seine Spuren bei Noemi hinterlassen zu haben. Als Griet die junge Kollegin im Zuge der Vlieland-
Ermittlungen kennengelernt hatte, hatte sie Businesskostüme getragen und war auch in privaten Situationen auf ein korrektes Äußeres bedacht gewesen. Nun trug sie schwarze Jeans, eine Lederjacke, darunter einen Sweater der Foo Fighters. Die ehemals kurzen Rastalocken hatte sie lang wachsen lassen und die Haare zu einem Zopf geflochten. In die dunkle Haut ihres Gesichts hatten sich die ersten Fältchen geschlichen, und ihre Augen wirkten müde.
Griet stand mit Noemi an der kleinen Küchenzeile des Schiffs und schaltete den Gasherd an, um Wasser für den Tee aufzukochen. Pieter telefonierte an Deck.
»Sie sieht dir sehr ähnlich«, sagte Noemi, die einen Blick auf die schlafende Fenja in der Koje geworfen hatte.
»Ich hoffe, das ist das Einzige, was ich ihr vererbt habe«, meinte Griet und holte zwei Tassen aus dem Schapp über der Küchenzeile. »Und, wie ist es bei Scotland Yard?«
»Interessant … an das Essen in der Kantine musste ich mich allerdings erst mal gewöhnen.«
»Du siehst ein wenig abgekämpft aus.«
»Ja, das viele Hin- und Herreisen strengt an. Ich war zwischendrin immer mal wieder bei meinen Eltern.«
»Und jetzt besuchst du sie über Weihnachten?«
Noemi nickte.
Griet reichte ihr eine Tasse Tee. »Wann musst du wieder zurück nach London?«
»Ich …« Noemi nippte kurz an ihrem Getränk. »Also … ich bleibe hier.«
»Was?« Griet erinnerte sich an die Postkarte, die Noemi ihr geschickt hatte. »Solltest du nicht eigentlich noch bis Februar dort arbeiten?«
»Ursprünglich, ja«, sagte sie. »Aber …«
Pieter kam herein, schloss die Flügeltür hinter sich und stieg rückwärts den Niedergang herunter, wobei er sein mobieltje
in die Höhe hielt.
»Evje Molenaar, die Freundin von Jessica, hat mich eben zurückgerufen«, sagte er. »Sie arbeitet in einem kleinen Laden in der Stadt. Wir können sie morgen dort treffen.«
Griet reichte ihm ebenfalls eine Tasse Tee, die er dankend annahm. Dann blickte er zu Noemi. »Und was hast du vor? Einer großen Karriere steht wohl nichts mehr im Weg. Für die letzten Kollegen, die im Ausland waren, ging es hoch hinaus. Also, was planst du?«
»Ich erzählte gerade … dass ich wieder zurück bin«, sagte Noemi. »Ich arbeite wieder für die Districtsrecherche
.«
Pieter blickte verdutzt drein. »Du meinst doch nicht die Districtsrecherche
hier in Fryslân?
«
»Ich bin ab sofort wieder im Dienst.«
»Ist nicht dein Ernst«, sagte Pieter. »Dir stehen doch alle Türen offen …«
»Ja, aber … mir gefällt es hier. Und, wisst ihr, so anders ist die Polizeiarbeit in England auch nicht. Ich sehe keinen Sinn darin, noch länger dort zu bleiben. Und … ihr beiden habt mir gefehlt.«
Die Erklärung erschien Griet reichlich fadenscheinig, denn wenn sich bei Noemi nicht grundlegend etwas verändert hatte, war sie durch und durch eine Karrieristin. Bei ihrer gemeinsamen Ermittlung auf Vlieland hatte sie großen Ehrgeiz an den Tag gelegt, weil sie sich profilieren wollte. Eine Führungsposition und eine Karriere innerhalb des Corps waren ihr erklärtes Ziel gewesen. Und in dieser Hinsicht war nach einem Auslandsjahr der nächste logische Schritt auf der Karriereleiter nicht die Districtsrecherche
in Leeuwarden.
»Ich habe mit Wouters gesprochen«, fuhr Noemi fort. »Ich habe meinen alten Job wieder und soll euch bei der Sache helfen, an der ihr gerade arbeitet.«
Pieter strich sich über den grau melierten Bart und musterte
Noemi. »Ich fürchte, das musst du mir erklären.«
Pieters Frage zielte offenkundig nicht auf ihre Zusammenarbeit, sondern auf Noemis Rückkehr ab. Ebenso offenkundig schien die junge Kollegin aber nicht weiter darüber reden zu wollen. »Wouters meinte, dass alle mit dem Elfstedentocht über beide Ohren dicht sind und ihr Unterstützung gebrauchen könnt«, sagte Noemi. »Also lasst uns loslegen. Wir sollen übrigens aufpassen, dass wir nicht wieder Mist bauen. Und er will endlich einen ersten Bericht.«
***
Kurz darauf beugten sie sich am Esstisch über die Auswertungen der Kriminaltechnik. Griet und Pieter hatten Noemi auf den Stand der Dinge gebracht.
»Für einen Unfall oder einen natürlichen Tod gibt es tatsächlich zu viele Ungereimtheiten«, bestätigte Noemi die bisherige Einschätzung ihrer Kollegen. »Und wenn ihr ein Versehen oder einen Selbstmord ausschließen könnt, ist die naheliegende Erklärung tatsächlich, dass jemand Jessica vergiftet hat.«
»Lasst uns der Reihe nach vorgehen«, sagte Griet. »Wir wissen, dass Jessica mit den Artikeln über Mart Hilberts und den Jungen, den er suchte, diesen Edwin, großen Erfolg hatte. Deshalb sollte sie für das Leeuwarder Dagblad
eine Folgeserie über dramatische Erlebnisse von Amateurläufern beim Elfstedentocht von 1997 schreiben. Laut Stijn de Leeuw arbeitete sie an einer Vorrecherche. Gibt die Auswertung des Laptops dazu etwas her?«
Pieter blätterte in den Ausdrucken. »Den Wust an Word-Dokumenten müssen wir erst mal sichten … Aber im Kalender sind einige Interviewtermine eingetragen. In den Wochen vor ihrem Tod sprach sie unter anderem mit Mart Hilberts und Toon Ewerts.«
»Ewerts?«, wiederholte Griet, und auf Noemis fragenden Blick fügte sie hinzu: »Ihm gehört ein Restaurant, in dem Stijn de Leeuw mittags
gern abstieg. Außerdem plant Ewerts offenbar eine Konkurrenzveranstaltung zum offiziellen Elfstedentocht … Jessica hat ihn auf ihrem YouTube-Kanal öffentlich an den Pranger gestellt.«
»Hier ist noch etwas«, sagte Pieter. »Ein Termin mit … Marit Blom.«
»Wann war das?« Griet runzelte die Stirn.
»Sechs Tage vor ihrem Tod.«
»Daran hätte Marit Blom sich erinnern müssen«, meinte Griet. »Uns hat sie nicht gesagt, dass sie Jessica kannte.«
»Blom war eine der Auffindungszeugen?«, fragte Noemi.
»Ja.«
»Was ist mit den beiden Männern, die am Fundort waren? Gibt es da eine Verbindung?«
»Nein, weder Jeroen Brouwer noch Geert Dammers kannten Jessica.« Pieter tippte auf die Liste mit den Dateien, die die Kriminaltechnik auf dem Laptop gefunden hatte. »Von dem Gespräch mit Marit Blom existiert ein Audiomitschnitt.«
»Den sollten wir uns anhören«, sagte Griet. »Ich will außerdem eine Auswertung der Dateien und von Jessicas Social-Media-Accounts und des YouTube-Kanals. Und ich möchte mehr über Marit Blom wissen.«
»Ich übernehme das«, bot Noemi an.
»Einverstanden. Morgen früh reden wir mit Jessicas Freundin, Evje Molenaar. Außerdem sollten wir die Verbindung zwischen Ewerts und De Leeuw prüfen. Mag Zufall sein, dass er Jessica beschäftigte und gleichzeitig im Elfstedenkok
verkehrte. Seine Assistentin erzählte mir, dass er neuerdings in ein anderes Restaurant geht. Vielleicht hat das einen Grund.«
»Okay«, meinte Noemi. »Was ist mit dem mobieltje?
«
»Steht noch aus«, sagte Griet. »Wir müssen uns außerdem im Blokhuisport
umsehen. Jessica hatte dort ihr Büro und … eine Wohnzelle. Pieter?«
»Ich fahr gleich morgen früh mit Noor hin.« Er griff nach dem
Ausdruck des Terminkalenders und blätterte zu dem Tag, als Jessica Jonker gestorben war. Er wies mit dem Zeigefinger auf den Termin, der für den Nachmittag eingetragen war. »Was machen wir hiermit?«
»Laut Mei wurde Jessica in der Zeit zwischen fünfzehn und siebzehn Uhr vergiftet«, rekapitulierte Griet.
Noemi nahm den Kalendereintrag in die Hand. »Verdomme
.«
»Genau«, sagte Griet. »Bevor sie nach Sloten fuhr und dort von der Brücke in den Tod stürzte, verbrachte Jessica Jonker zwei Stunden auf der Pressekonferenz im stadhuis
. In Gesellschaft des Bürgermeisters und des Polizeichefs.«