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Die Liste
P
ace et Justitia,
Friede und Gerechtigkeit, stand in goldenen Lettern auf dem Giebel über der Eingangstür des stadhuis
geschrieben. Griet hielt es für einen besonders makabren Scherz des Schicksals, sollte Jessica Jonker tatsächlich in einem Gebäude mit dieser Aufschrift vergiftet worden sein. Das stadhuis
war Anfang des 18. Jahrhunderts erbaut worden, ein Gebäude im Stil des klassizistischen Barocks, errichtet auf den Kellergewölben der Auckamastins,
der alten Stadtburg. Die Front aus rotbraunen Klinkersteinen zierten sechsundzwanzig Sprossenfenster, von denen die unteren beiden Reihen mit Schlagläden versehen waren. Auf dem Schieferdach befand sich ein Uhrenturm, dessen Glockenspiel jeweils zur halben und vollen Stunde weit über die Stadt klang.
Es war noch früh am Morgen, und die Sonne kroch nur langsam über den Horizont. In der Nacht hatte es weiter geschneit, und der hofplein,
der kopfsteingepflasterte Platz, an dem sich das stadhuis
befand und in dessen Mitte ein großer Weihnachtsbaum stand, war von einer dicken Schicht Neuschnee überzogen.
Direkt gegenüber dem stadhuis
lag der Stadhouderlijk Hof,
der alte Palast des Statthalters, der heute als Hotel genutzt wurde. Ein Page befreite gerade die Treppe von Eis und Schnee, als Griet mit Noemi um das stadhuis
herum zum seitlichen Eingang ging. Sie waren mit Suzanne van Dijk verabredet, der Pressesprecherin der Stadtverwaltung, die auch der Pressekonferenz beigewohnt hatte.
Der Radiowecker hatte Griet am Morgen mit der Stimme von Marit
Blom geweckt, die im Morgenmagazin einem Reporter berichtete, dass die Wärmepumpen von Jeroen Brouwers Firma hervorragende Arbeit leisteten und der Elfstedentocht damit um einiges wahrscheinlicher wurde. Im Anschluss hatte ein Meteorologe erklärt, dass die Luftströmung, die gegenwärtig eisige Polarluft aus dem Norden zu ihnen trieb, weiter Bestand haben würde. Das wiederum führte dazu, dass sich in der folgenden halben Stunde, während Griet mit Fenja frühstückte, allerhand lokale Experten darin versuchten, ihr Glück in Worte zu fassen, dass das Traditionsrennen dieses Jahr offenbar wieder stattfinden würde.
Griet war froh, dass Fenja die puntjes
– weiche Brötchen – mochte, die sie frisch vom Bäcker geholt hatte. Griet hatte sie mit Schokoflocken bestreut, dem Einzigen, was der Vorratsschrank neben Marmelade hergegeben hatte. Nach dem Frühstück waren sie mit dem fiets
– Fenja auf dem Gepäckträger – nach Camminghaburen
gefahren.
Pieter war zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Weg zum Präsidium gewesen. Er würde heute Vormittag mit Noor und einem Team der Kriminaltechnik zum Blokhuisport
fahren. Als Nettie ihnen die Haustür öffnete, hatte Griet von ihrer Tochter nur noch einen Kondensstreifen gesehen, so schnell war sie nach drinnen gelaufen, wo die Bernhardinerdame sie mit wedelndem Schwanz begrüßte.
Es war überraschend, wie schnell sich Kinder auf neue Situationen einstellen konnten, hatte Griet gedacht. Und doch hatte sich gleichzeitig ihr schlechtes Gewissen gemeldet.
Im Eingangsbereich des stadhuis
erwartete Suzanne van Dijk, die Pressesprecherin der Stadt, die beiden Polizistinnen, eine Aktenmappe unter dem Arm. Sie trug ein blaues Businesskostüm und hatte die dunklen Haare mit einer Klammer hinter dem Kopf zusammengefasst. Sie rückte ihre randlose Brille zurecht, bevor sie Griet die Hand entgegenstreckte.
»Vielen Dank, dass Sie sich Zeit nehmen«, sagte Griet.
»Gern«, erwiderte Van Dijk. »Folgen Sie mir.«
Die Frau führte Griet und Noemi eine monumentale Holztreppe mit handgeschnitztem Geländer hinauf in einen großen Saal. Dessen Wände waren mit Eichenfurnieren vertäfelt und mit Porträts von Königinnen und Königen der Niederlande geschmückt, darunter Gemälde von koning
Wilhelm II
. und koningin
Juliana.
»Wir haben die Pressekonferenz hier abgehalten«, erklärte Van Dijk. »Der alte Ratssaal ist unser größter Raum. Sie sagten am Telefon, es gehe um Ermittlungen in einem aktuellen Fall. Darf ich mich nach den Hintergründen erkundigen?«
Griet zögerte. Van Dijk hatte sich auf ihren frühen Anruf am Morgen hilfsbereit gezeigt, da wollte sie nicht unhöflich sein und sich auf die allgemeine Aussage beschränken, dass sie sich nicht zu laufenden Ermittlungen äußern durfte. Andererseits wollte sie auf keinen Fall die Vermutung in die Welt setzen, dass es um die Besichtigung eines möglichen Tatorts ging, wofür es noch keine Beweise gab und was Bürgermeister und Polizeichef gleichermaßen in Aufruhr versetzen würde.
»Es geht um die junge Frau, die wir vorgestern in Sloten tot aufgefunden haben«, sagte Griet schließlich. »Sie war hier auf der Pressekonferenz … Wir gehen dem lediglich routinemäßig nach.«
»Verstehe.«
»Das Thema der Pressekonferenz war der Elfstedentocht?«, erkundigte sich Noemi.
»Ja. In den vergangenen Wochen gab es immer wieder Bedenken, was die Sicherheit bei dem zu erwartenden Massenandrang betrifft«, erklärte Van Dijk. »Der Bürgermeister und der Polizeichef haben deutlich gemacht, dass alles dafür getan wird, den tocht
zu einer sicheren Veranstaltung für Teilnehmer und Zuschauer zu machen.«
»Wie viele Leute waren hier?«, fragte Griet.
»Sechzig waren geladen. Gekommen sind fünfundfünfzig.«
»Existiert eine Gästeliste?«
»Ich habe sie Ihnen ausgedruckt.« Van Dijk öffnete die Mappe, die sie dabeihatte, und reichte Griet einen zusammengetackerten zweiseitigen Ausdruck.
Griet überflog die Liste, auf der die Namen alphabetisch angeordnet waren. Unter dem Buchstaben J fand sie Jessicas Namen. »Alle, die hier aufgeführt sind, waren auch tatsächlich anwesend?«
»Ja«, antwortete Van Dijk.
»Haben Sie persönlich mit mevrouw
Jonker gesprochen?«
»Nein, dazu war nicht die Gelegenheit. Ich musste dem Bürgermeister bei seinen anschließenden Gesprächen mit den TV
-Sendern assistieren.«
»Wann begann die Pressekonferenz?«
»Pünktlich um fünfzehn Uhr. Die letzten Gäste verließen das Haus gegen siebzehn Uhr.«
»Wie war der Ablauf der Veranstaltung?«
»Zunächst haben der Bürgermeister und der Polizeichef geredet, dann sagte Marit Blom etwas zum Stand der Dinge. Danach gab es die obligatorische Fragerunde.«
Griet blickte sich um. In einer Ecke des Raums befand sich ein Rednerpult, daneben mehrere Stapel mit Stühlen. »Die Sprecher standen vorn am Pult, die Gäste saßen?«
»Ja. Neben dem Pult stand noch ein Tisch für die Redner, die nicht an der Reihe waren. Für die Gäste waren fünf Stuhlreihen aufgebaut.«
»Gab es Verpflegung?«
»Nicht hier oben«, sagte Van Dijk. »Aber im Anschluss fand unten im Gewölbekeller ein Get-together statt.«
»War Jessica Jonker dort anwesend?«
»Kann ich Ihnen nicht mit Sicherheit sagen. Der offizielle Teil endete gegen sechzehn Uhr, einige Gäste verließen dann die Veranstaltung, andere gingen noch runter.«
»Waren die Honoratioren ebenfalls im Gewölbe?«
»Ja, nach den TV
-Interviews. Der Bürgermeister, der Polizeichef und Marit Blom.«
»Das heißt, wer noch ein Gespräch mit ihnen wünschte, begab sich nach unten.«
»Ja.«
»Würden Sie uns die Räumlichkeiten zeigen?«, bat Griet.
»Natürlich. Kommen Sie.«
Sie verließen den alten Ratssaal, und Van Dijk führte sie durch das Treppenhaus in den Keller.
Der Raum, den sie betraten, hatte eine niedrige, weiß verputzte Gewölbedecke, die auf breiten Steinsäulen ruhte. Neben einer Reihe von Stehtischen, die frei im Raum positioniert waren, gab es einige moderne Sessel, die entfernt an überdimensionierte, eingedellte Bälle erinnerten. An der Frontseite befand sich ein Tresen. Ein bogenförmiger Durchgang führte zu einem Nebenraum, der ähnlich gestaltet war.
Van Dijk erklärte, dass an der Theke Sekt, Orangensaft und Alkoholfreies gereicht worden waren.
»Wurden die Getränke jedem Gast einzeln ausgeschenkt?«, fragte Noemi.
»Nein, sie waren vom Catering bereits vorbereitet worden. Es wurde nur nachgefüllt.«
»Die Gläser standen also auf dem Tresen?«
»So war es. Dazu reichten wir Kanapees. Auch da haben sich die Gäste selbst bedient.«
Griet durchmaß langsamen Schrittes den Raum und versuchte, sich vorzustellen, wie die Situation gewesen war.
Es hatten sich Dutzende Menschen in dem Gewölbe befunden, was bedeutete, dass dichtes Gedränge geherrscht haben musste.
Den Raum von der Kriminaltechnik nach Spuren untersuchen zu
lassen, war sinnlos. Augenscheinlich hatte man nach der Veranstaltung sauber gemacht und aufgeräumt. Und davon abgesehen war es auch fraglich, nach welchen Hinweisen sie überhaupt hätten suchen sollen – sollte jemand Jessica hier vergiftet haben, hatte er mit ziemlicher Sicherheit dabei keine Spuren hinterlassen. Mei hatte Griet nach der Leichensektion erklärt, dass das Digitalis vermutlich in Pulverform verabreicht worden war, zum Beispiel, indem der Täter es in ein Getränk oder in eine Mahlzeit aus entsprechender Konsistenz mischte.
Vor Griets innerem Auge füllte sich der Gewölbekeller des stadhuis
wieder mit Menschen. Stimmengewirr lag in der Luft, man stand dicht beisammen, lachte, unterhielt sich. Manche hielten sich an den Stehtischen auf, andere hatten in den Sesseln Platz genommen. Die Leute schlenderten umher, suchten Gesprächspartner. Immer wieder versorgten sie sich mit Getränken und Häppchen, ein stetes Kommen und Gehen herrschte an der Theke. Für jemanden, der sich mit Jessica unterhielt und ihr beiläufig ein Glas oder ein Kanapee reichte, wäre es vielleicht möglich gewesen, ihr etwas unterzumischen.
Griet wandte sich Van Dijk zu. »Wer war für das Catering verantwortlich?«
»Wie üblich Toon Ewerts.«
»Ewerts?« Griet hob die Augenbrauen.
»Seinem Restaurant ist ein Cateringbetrieb angeschlossen. Ein sehr guter, zu fairen Preisen«, erklärte Van Dijk. »Er versorgt alle Veranstaltungen im stadhuis
.«
»War Ewerts persönlich anwesend?«
»Ja, allerdings überließ er das Catering seinen Mitarbeitern«, sagte Van Dijk. Und dann wich die professionelle Nüchternheit für einen Moment aus ihrem Gesicht, als sie erklärte: »Er hatte darum gebeten, als Organisator eines … ›alternativen Elfstedentocht‹ bei der Pressekonferenz zugegen sein zu dürfen. Ich fürchte, es ist nicht so
gelaufen, wie er es sich vorgestellt hat.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er hat sich vor versammeltem Publikum eine Abfuhr eingefangen, als er wissen wollte, ob die politie
auch ein alternatives Rennen schützen würde.« Van Dijk setzte ein Lächeln auf. »Ihr Chef und der Bürgermeister machten unmissverständlich klar, dass es sich dabei um eine profitorientierte, private Unternehmung handelte. Daher müsse Ewerts die Kosten eines solchen Einsatzes gegebenenfalls selbst tragen beziehungsweise die Sicherheit anderweitig gewährleisten.«
»War Ewerts später hier unten?«
»Ja, ich musste den Bürgermeister vor ihm abschirmen. Er hat stattdessen Ihren Chef belagert.«
Griet sah sich um. Natürlich gab es hier unten keine Überwachungskameras. Weshalb auch. Dennoch wäre es hilfreich gewesen, zu sehen, was sich hier unten genau abgespielt hatte. Und mittels einer Videoaufnahme hätte sich auch zweifelsfrei klären lassen, ob Jessica nach der Pressekonferenz tatsächlich hier unten gewesen war. Alle Anwesenden zu befragen, würde zu viel Wirbel verursachen.
»Wie steht es mit Ihrer Sicherheitstechnik?«, fragte Griet.
»Wir haben Außenkameras.«
»Sie speichern die Aufnahmen?«
»Ja, allerdings nur vierzehn Tage lang.«
»Das genügt«, sagte Griet. »Wir benötigen die Aufzeichnungen für den Zeitraum der Pressekonferenz.«
»Kann ich Ihnen gleich besorgen«, sagte Van Dijk.
Griet bedeutete Noemi mit einem Nicken, der Frau zu folgen. Die beiden verließen den Keller in Richtung Treppenhaus.
Griet beschloss, draußen auf Noemi zu warten. Während sie durch die Empfangshalle zum Ausgang ging, suchte sie die Gästeliste nach Namen ab, die mit den Ermittlungen in Zusammenhang standen.
Neben Jessica Jonker und Marit Blom entdeckte sie Toon Ewerts und Stijn de Leeuw.
Griet trat durch den Ausgang auf den Platz vor dem stadhuis
und blickte noch einmal zu der Inschrift über dem Giebel hinauf.
Friede und
Gerechtigkeit
.
Für Letztere würde sie sorgen.