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Der Grutterswinkel
G riet stapfte mit Noemi durch den Schnee über die Kleine Kerkstraat, wo die Geschäfte gerade ihre Türen öffneten. Mit ihren vielen kleinen Läden, von denen die meisten inhabergeführt waren, stand die Gasse in dem Ruf, die schönste Einkaufsstraße des Landes zu sein. Griet und Noemi waren auf dem Weg zu Evje Molenaar, der Freundin von Jessica Jonker, die in der Nähe in einem Museumsladen arbeitete.
Griet nippte an dem koffie, den sie sich nach ihrem Besuch im stadhuis in einem Stehcafé besorgt hatten. Sie fragte sich, ob es mehr als Zufall war, dass drei Leute die Pressekonferenz besucht hatten, die mit Jessica Jonker in Verbindung standen. Bei jedem von ihnen ließ sich eine plausible Erklärung für die Anwesenheit finden. Marit Blom hatte in ihrer Eigenschaft als Vorsitzende der Koninklijke Vereniging de Friesche Elf Steden an der Veranstaltung teilgenommen. Stijn de Leeuw als Chefredakteur des Leeuwarder Dagblad . Und Ewerts war in einer Doppelrolle zugegen gewesen – in eigener Sache und als Caterer.
Hatte einer von ihnen Grund gehabt, Jessica nach dem Leben zu trachten? Am ehesten konnte Griet es sich bei Ewerts vorstellen – aber wegen eines YouTube-Videos?
»Hier muss es sein«, sagte Noemi.
Sie waren auf den Nieuwesteeg abgebogen und standen nun vor einem kleinen Museumsladen, der als De Grutterswinkel bekannt war. Evje Molenaar verdiente sich hier einen Teil der Studiengebühren.
Das kleine Geschäft befand sich in einem historischen Reihenhaus mit brauner Klinkerfassade im Rokokostil. Über dem Eingangsbereich, der mit dunkelbraunem Holz umrahmt war, wehten zwei Fahnen: die blau-gelb gestreifte Flagge von Leeuwarden und die Flagge von Fryslân mit blauen und weißen Streifen, Letztere mit roten Herzen besetzt. Im rechten Schaufenster waren alte Verpackungen von Schokoladen, Kaffees oder Waschmitteln ausgestellt. Durch das linke Fenster war eine Theke zu sehen, wie Griet sie noch aus den Tante-Emma-Läden ihrer Jugend kannte. Eine junge Frau stand dahinter und kontrollierte gerade die antike Registrierkasse.
Griet betrat den Laden durch die Eingangstür, die sich mit dem Klingeln eines Glöckchens öffnete.
***
Das Haus, in dem sich der Grutterswinkel befand, war im Jahr 1596 erbaut worden, sogar ein Bürgermeister der Stadt hatte einmal darin gewohnt. Evje Molenaar erzählte ihnen, wie alles damit begonnen hatte, dass 1901 ein Klaas Lieuwe Fennstra einen Kolonialwarenladen in dem Gebäude eröffnete, das er zunächst für den jährlichen Betrag von 375 Gulden anmietete, bevor er es einige Jahre später erwarb. Als er und seine Frau 1926 kurz nacheinander verstarben, übernahmen ihre drei Töchter notgedrungen das Geschäft. Obwohl die Älteste erst dreiundzwanzig war, führten sie den Laden zu neuer Blüte. Der Krämerladen genoss bald einen hervorragenden Ruf, und es kauften wohlhabende Leute dort ein, wie zum Beispiel die Zelles, die Eltern der berühmten Mata Hari, die gebürtig aus Leeuwarden stammte. Das Geschäft schloss 1973, allerdings erlebte die jüngste der drei Schwestern noch, wie der Grutterswinkel 1991 als Museum wiedereröffnet wurde.
Griet blickte sich um. Die Regale waren bis an die Decke gefüllt mit Konservendosen und Waren, die in Papier oder Pappe verpackt waren – Suppen und Eintöpfe, Gemüse, Schokolade, Spül- oder Putzmittel, Seife. Auf einem Bord hinter der Theke standen Einmachgläser voller Süßigkeiten, unter anderem die Himbeerbonbons und würfelförmigen Karamellen, die Griet als Kind sehr geliebt hatte.
Eine Tür führte zu einem Nebenraum, früher das Wohnzimmer, der heute als Café genutzt wurde. Es roch nach Lakritz und warmem Kuchen.
Griet wandte sich Evje zu. »Das ist wirklich alles bezaubernd. Aber Sie wissen vermutlich, dass wir nicht deshalb hier sind.«
»Jessicas Eltern haben es mir gesagt.«
»Was geschehen ist, tut uns sehr leid«, sagte Griet. »Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen über Jessica stellen.«
»Natürlich.«
»Sie beide waren gut befreundet?«
»Seit der kleuterschool – dem Kindergarten«, erwiderte die junge Frau. »Jessica war meine beste Freundin.«
»Sie studieren hier in Leeuwarden?«
»Ja, Geschichte.«
»Wann haben Sie Jessica zuletzt gesehen?«
»Vergangenen Samstag. Wir waren im Shooters
»Welchen Eindruck machte Jessica da auf Sie?«
»Sie war gut drauf. Wurde ein ziemlich langer Abend … und ich hatte ein paar Cocktails zu viel.«
»War Jessica ebenfalls angeheitert?«, fragte Noemi.
»Nein, sie hielt sich vom Alkohol fern.«
»Wegen ihrer Krankheit?«
»Genau«, sagte Evje.
»Dann war Ihnen bekannt, dass Jessica medikamentös behandelt wurde?«, fragte Griet.
»Das Digitalis, ja.«
»Wie kam sie damit zurecht?«
»Gut, soweit ich weiß.«
»Es gab also keine Anzeichen, dass sich ihre Krankheit in letzter Zeit verschlimmert hatte?«
»Nein, überhaupt nicht.«
»Bereitete ihr etwas Sorgen?«
»Na ja, nicht wirklich …« Evje zögerte. »Mal abgesehen von ihrer beruflichen Situation.«
»Warum, gab es Probleme?«, fragte Griet. »Sie schien doch recht erfolgreich zu sein … die Artikel im Leeuwarder Dagblad, der YouTube-Kanal …«
»Schon, aber sie verdiente nicht wirklich Geld damit.«
»Zahlt die Zeitung so mies?«, wollte Noemi wissen.
»Für einen Artikel bekam sie nur ein paar Hundert Euro«, sagte Evje. »Und der YouTube-Kanal … klar, sie hatte viele Abonnenten und Likes, aber dafür bezahlt Ihnen YouTube kein Geld. Das kommt nur aus den Werbeclips, die in die Videos eingebunden sind. Und pro tausend Aufrufe bleiben bei Ihnen vielleicht gerade mal ein bis zwei Euro hängen.«
»Man braucht also … eine halbe Million Aufrufe oder mehr, damit überhaupt etwas Zählbares dabei rumkommt«, stellte Noemi fest. »Warum hat Jessica das gemacht, wenn es sich nicht lohnt?«
»Es hatte als Spaßprojekt während des Studiums begonnen«, erklärte Evje. »Und solange es Laune machte … Eigentlich war Jessica auf eine feste Stelle bei einer Zeitung aus.«
»Der Chefredakteur des Leeuwarder Dagblad sagte uns, dass Jessica noch weitere Artikel für das Blatt schreiben sollte.«
Evje runzelte die Stirn. »Echt jetzt? Ist ja nicht zu fassen.«
»Was meinen Sie?«
»Er hat Jessica doch die Zusammenarbeit aufgekündigt.«
Griet warf Noemi einen kurzen Blick zu. »Davon war nicht die Rede. Er sagte, sie sollte ihm Vorschläge für weitere Artikel machen.«
»Das hatte sie auch getan«, berichtete die junge Frau. »Sie hat ihm eine E-Mail geschickt … Als Antwort bekam sie dann von ihm die Nachricht, dass ihre Mitarbeit in Zukunft nicht mehr erwünscht sei.«
»Gab es dafür einen Grund?«
»Nicht wirklich. Auf Jessicas Nachfragen hin reagierte De Leeuw nicht«, sagte Evje. »Allerdings hatte sie eine Vermutung … Der Rauswurf kam, kurz nachdem sie das Video über Toon Ewerts veröffentlicht hatte. Und sie meinte, die beiden wären irgendwie befreundet.«
»Jessica sah also einen Zusammenhang?«, fragte Griet.
»Sie wollte das jedenfalls nicht so einfach auf sich beruhen lassen.«
Griets mobieltje klingelte.
»Entschuldigung.« Sie wandte sich ab und nahm den Anruf an. Am anderen Ende hörte sie die Stimme von Pieter.
»Ihr beiden kommt besser in den Blokhuisport «, sagte er. »Wir haben hier etwas gefunden.«