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Hinter Gittern
D
er Blokhuisport
musste einst, als er noch als Gefängnis genutzt worden war, die schönste Strafvollzugsanstalt der Welt gewesen sein, da war Griet sich ziemlich sicher. Zwei spitze Türme zierten das Eingangstor der mittelalterlichen Festung, die erst 1821 zu einem Zuchthaus umfunktioniert worden war und direkt an der Zuiderstadsgracht
lag. Und wer es nicht besser wusste, konnte das ockerfarbene Gemäuer von Weitem durchaus für ein herrschaftliches Schloss halten, vor dem sich in anderen Städten die Touristen scharen würden.
Griet und Noemi betraten die Steinbrücke, die über einen Wassergraben zum Eingang führte. Die letzten Gefangenen waren 2007 verlegt worden, danach hatte man den Komplex vorsichtig renoviert. Heute beherbergte der Blokhuisport
ein Hostel, in dem man in den ehemaligen Zellen übernachten konnte, sowie einige Restaurants, Ateliers und Geschäfte.
Durch das gewölbte Eingangstor kamen Griet und Noemi in einen Innenhof, der früher vermutlich für den Freigang genutzt worden war. Zu ihrer Linken gab es eine Bibliothek, rechts eine Töpferei und ein Restaurant mit Terrasse an der Gracht. Sie folgten einem Schild mit der Aufschrift: Shops en ateliers in Celblock H
. Der Weg in den Zellenblock H führte über einen weiteren Hof, wo man neben einem Weihnachtsbaum eine Eislaufbahn für Kinder hergerichtet hatte.
Rot-weißes Absperrband flatterte vor dem Zellenblock, und eine Menschentraube hatte sich am Eingang versammelt. Bei den meisten
Leuten handelte es sich wohl um die Inhaber von Geschäften und die Mieter von Büros und Ateliers, die aufgrund der Polizeiaktion Pause machen mussten. Sie unterhielten sich, tranken koffie
und aßen Gebäck. Versorgt wurden sie von einem Streifenbeamten, der hinter einem kleinen Tisch vor dem Eingang postiert war. Griet ging zu dem Kollegen und zeigte ihren Dienstausweis. »Bessern Sie sich hier Ihr Gehalt mit Catering auf?«
Der Kollege verdrehte die Augen. »Das war die Idee von Pieter de Vries. Damit die Leute bei Laune bleiben, wenn wir sie schon von der Arbeit abhalten. Gehen Sie durch und sehen Sie zu, dass die da drinnen fertig werden. Ich will hier nicht den ganzen Tag herumstehen.«
Griet und Noemi duckten sich unter dem Absperrband hindurch und betraten den Zellenblock.
In ihrer Laufbahn hatte Griet bereits unzählige Gefängnisse besucht, um mit Inhaftierten zu sprechen. Was ihr aus diesem Grund sofort auffiel, war das Fehlen der üblichen Gerüche und Geräusche einer Haftanstalt, der Gestank von menschlichen Ausdünstungen, die Rufe der Gefangenen. Doch auch in seinem Erscheinungsbild unterschied sich der Zellenblock H des Blokhuisport
von seinen eher klinisch anmutenden Pendants in modernen Gefängnissen. Die Zellen verteilten sich auf drei Ebenen, deren umlaufende Korridore mit mannshohen Gittern gesichert waren. Die alten Eisentüren der Zellen waren in Wände aus braunem Backstein eingelassen, und die Leuchtstoffröhren an den Decken tauchten alles in ein gelbbraunes Licht. Griet fühlte sich um ein Jahrhundert in der Zeit zurückversetzt, und sosehr man das alte Gefängnis herausgeputzt hatte, hätte sie damals nicht hier einsitzen wollen.
Noemi schien ebenfalls von dem historischen Gemäuer beeindruckt zu sein. Sie ließ den Blick schweifen und nahm die Umgebung in sich auf.
Jessica Jonkers Zellen befanden sich im ersten Stockwerk. Griet sah dort oben den Polizeifotografen bei der Arbeit, und zwei Kollegen von der Kriminaltechnik kamen gerade in weißen Schutzanzügen aus einer Zelle. Pieter unterhielt sich einige Meter weiter mit einer Frau.
Ein Schild mit der Aufschrift Kapper Dames & Heren
wies darauf hin, dass sich in der Zelle an der Treppe, die nach oben führte, ein Friseursalon verbarg. Direkt daneben lag ein Künstleratelier. Griet warf einen Blick in die Zelle, die, wie die anderen, vielleicht sechs oder sieben Quadratmeter maß. Diverse Bilder hingen an den Wänden, und weitere standen auf Staffeleien im Raum. Sie zeigten Winterlandschaften mit zugefrorenen Grachten, Windmühlen und Reetdachhäusern und erinnerten an den Stil eines Hendrick Avercamp. Andere Bilder mit Eisschnellläufern waren eher im expressionistischen Stil gehalten.
Die Kunstwerke stammten alle von demselben Maler, dessen Signatur Griet beim besten Willen nicht entziffern konnte. Sie staunte auch nicht schlecht über die Preise, die der Künstler für seine Werke aufrief. An der Darstellung Elfstedentocht
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klebte ein Etikett über 10000 Euro, und Elfstedentocht
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sollte gar 15000 Euro kosten.
»Kommst du?«, fragte Noemi. Sie stand schon halb auf der Treppe nach oben. Griet wandte sich von den Bildern ab und folgte ihr.
Pieter stellte ihnen die Frau vor, mit der er sich gerade unterhalten hatte. »Famke Terheiden. Sie leitet das Hostel und organisiert die Vermietung der übrigen Zellen.«
Griet reichte der Frau die Hand.
»Wie ich gerade sagte …«, meinte Terheiden. »Jessica hatte eine Bürozelle und einen Schlafraum angemietet.«
»Ist es üblich, dass die Leute hier arbeiten und wohnen?«, fragte Pieter.
Terheiden schüttelte den Kopf. »Nein. Normalerweise läuft das getrennt. Wir haben Gäste, die ein oder zwei Nächte im Hostel
verbringen, die Vermietung der Zellen als Büro, Atelier oder Geschäft ist eine andere Sache. Doch als Jessica mit ihrem Ansinnen an mich herantrat, dachte ich mir, warum nicht etwas Neues ausprobieren, zu viel Leerstand kann ich mir auf Dauer nicht leisten.« Sie wies mit der Hand auf die dritte, obere Etage, wo die Zellen allesamt ungenutzt waren.
»Seit wann hat Jessica die Zellen gemietet?«, fragte Griet.
»Sie ist ungefähr vor einem Vierteljahr eingezogen. Sie kam aus Groningen. Soviel ich weiß, suchte sie nach einer bezahlbaren Wohnung«, erklärte Terheiden. »Aber Sie wissen ja vielleicht, wie schwierig das aktuell ist.«
Pieter wandte sich Griet und Noemi zu: »Wir haben uns in beiden Zellen umgesehen. Die Wohnzelle ist ziemlich spartanisch eingerichtet – ein schmales Bett, ein Sessel, ein Kleiderschrank. Aber nichts, das für uns von Interesse wäre. Bei der Bürozelle sieht das schon anders aus. Kommt mit.«
Sie verabschiedeten sich von Terheiden, und Pieter wies den beiden Kolleginnen den Weg zu der Zelle. »Ich war vorhin kurz im politiehoofdbureau
«, erklärte er. »Wouters drängelt wegen des Berichts. Am liebsten will er ihn noch heute … Da wären wir.«
Die Eisentür der Zelle stand offen. Die Kriminaltechnik hatte offenbar ihre Arbeit beendet. Noemi ging voran, und Griet folgte ihr.
Sie schätzte, dass der Raum ungefähr drei mal drei Meter groß war und früher mehreren Häftlingen Platz geboten hatte. Auf der Stirnseite stand unter einem vergitterten Fenster ein Schreibtisch, auf dem diverse Zeitungsausschnitte, Papiere und Fotos lagen. Auf der linken Seite war eine Videokamera mit Stativ auf die gegenüberliegende Wand ausgerichtet. Dort erkannte Griet die Fototapete mit der friesischen Landschaft wieder, die sie in Jessicas YouTube-Video gesehen hatte.
Ihr kam der Gedanke, dass es wahrlich ungewöhnlichere Wohnorte
gab als ein altes Plattbodenschiff.
»Schaut euch das hier an«, sagte Pieter. Er ging zum Schreibtisch und nahm mehrere Fotos, die er trotz der Handschuhe, die er trug, vorsichtig auf die offene Handfläche legte, um keine Spuren zu verwischen.
Griet betrachtete die Bilder. Es waren zwei Serien, und sie zeigten beide denselben Mann. Auf den einen Fotos sah man ihn ein Restaurant betreten, auf den anderen, wie er es wieder verließ. In der unteren rechten Ecke der Fotos war jeweils ein Zeitstempel zu erkennen. Der Mann betrat das Lokal um 12.15 Uhr und kam gut zwei Stunden später wieder heraus.
Noemi war neben Griet und Pieter getreten und deutete mit dem Zeigefinger abwechselnd auf die beiden Bilder. »Bemerkenswert. Der Mann trägt beim Verlassen des Restaurants eine Aktentasche bei sich, die er beim Hineingehen nicht dabeigehabt hat.«
Pieter nickte und verzog einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln, was wohl bedeutete, dass dies genau der Punkt war, auf den er hinauswollte.
Griet sah sich die Bilder noch einmal näher an. Auf dem Schild über dem Eingang stand in verschnörkelter Schrift der Name des Restaurants geschrieben: De Elfstedenkok
. Es war das Restaurant von Toon Ewerts.
Und bei dem Mann mit der Aktentasche handelte es sich um Stijn de Leeuw, den Chefredakteur.