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De Elfstedenkok
D
as Restaurant von Toon Ewerts befand sich an der Ecke Nieuwestad
und Bagijnesteeg
in einem schmalen Haus aus weiß getünchten Backsteinen, dessen Front sich leicht nach vorn neigte. Die Butzenscheiben der dunkelbraunen Holzfenster waren mit Glasmalereien verziert, die Porträts von ehemaligen Gewinnern des Elfstedentocht zeigten. Auf einem runden emaillierten Schild, das an der Fassade hing, stand der Name des Lokals geschrieben: De Elfstedenkok
. Direkt vor dem Gebäude lag der Lange Pijp,
ein breiter Platz, der in Form einer Brücke über die Gracht gebaut war. Dort standen, umgeben von einer Plexiglaswand, fünf Tische, die ebenfalls zum Restaurant gehörten. Die Gäste saßen teils in Decken eingehüllt unter Heizpilzen und aßen zu Mittag. Eine Kellnerin kam mit einem Tablett aus dem Haus und ging zu den Tischen hinüber.
Griet folgte Pieter in das Lokal. Der Innenraum war kleiner, als sie erwartet hatte, und bot lediglich Platz für ein gutes Dutzend Tische, von denen fast alle besetzt waren. Das Licht war gedämpft, und leise Jazzmusik spielte im Hintergrund, während sich die Gäste unterhielten.
Die Bedienung führte sie zu einem freien Tisch am Fenster, direkt gegenüber der Theke, die mit einem auf Hochglanz polierten, umlaufenden Messinghandlauf versehen war. Die Wände des Restaurants schmückten Reliquien des Elfstedentocht: alte Schlittschuhe, Trikots und diverse Fotos des Rennens aus unterschiedlichen Epochen.
Die Kellnerin zündete die Kerze auf dem Tisch an und reichte ihnen die Speisekarten. Griet bestellte einen Tee, um sich aufzuwärmen.
»Wir würden gern mit meneer
Ewerts sprechen«, sagte Griet und zeigte unauffällig ihre Dienstmarke.
»Ich seh, was sich machen lässt«, antwortete die Frau. Dann ging sie nach hinten in die Küche.
Pieters mobieltje
gab den Ton einer eingehenden Nachricht von sich. Er blickte auf das Display und hielt es dann Griet hin. »Sieh mal. Sie sind auch gerade beim Mittagessen.«
Nettie hatte ein Foto über WhatsApp geschickt. Fenja saß vor einer großen Portion friet
und einer frikandel speciaal
.
Die Kleine ist süß, hat einen gesegneten Appetit,
las Griet den Text unter dem Bild vor. Sie fragt allerdings immer mal wieder nach ihrem Papa …
Griet spürte einen Stich im Herz, und ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Pieter schien ihre Gedanken zu lesen.
»Sag mal«, meinte er bedächtig, »wie hast du dir das mit Fenja eigentlich weiter gedacht?«
Griet hob die Hände. »Ganz ehrlich … ich weiß nicht. Ich bin jedenfalls dankbar, dass sie heute bei euch sein kann.«
»Sie kann auch die nächsten Tage zu uns kommen, darum geht es nicht. Ich meine etwas anderes … Kinder werden größer. Vielleicht kannst du inzwischen mehr mit deiner Tochter anfangen. Gib eurer Beziehung eine Chance. Ihr müsst euch neu kennenlernen. Nimm dir frei. Unternimm etwas mit ihr. Im Natuurmuseum
gibt es zum Beispiel eine Unterwassersafari für Kinder …«
»Du hast bestimmt recht. Nur stecken wir gerade mitten in einem Fall«, unterbrach Griet ihn und enthielt ihm damit ihre wahren Gedanken vor. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, fürchtete sie sich nämlich vor genau einem solchen Kennenlernen. Was, wenn Fenja sie nicht mochte und sie nicht miteinander klarkamen?
»Der Fall.« Pieter schüttelte den Kopf und stützte die Ellbogen auf den Tisch. »Fenja ist deine Familie. Und Familie geht immer vor. Das ist eine zweite Chance.«
»Richtig«, erwiderte Griet. »Dieser Fall ist aber auch eine zweite Chance. Und wenn wir jemals von den Cold Cases wegkommen wollen, sollten wir sie besser nutzen …«
»Sie wollten mich sprechen?«
Ein Mann trat zu ihnen an den Tisch. Er trug ein Karohemd und darüber Hosenträger, die eine Bluejeans sicherten. Sein fülliges Gesicht wurde von einem rotblonden Vollbart umrahmt. Mit einem Küchentuch trocknete er sich die Hände.
»Toon Ewerts?«, fragte Griet.
»Ja.«
»Wir würden gern mit Ihnen über Jessica Jonker reden«, sagte sie, während sie und Pieter ihm ihre Dienstausweise zeigten. »Sie hatten vor Kurzem ein Interview mit ihr.«
»Stimmt.« Ewerts deutete nach hinten in die Küche. »Es ist gerade Hochbetrieb. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, kommen Sie doch später wieder.«
»Tatsächlich macht es mir etwas aus«, erwiderte Griet. Sie wollte ihm keine Zeit geben, sich in irgendeiner Weise auf das Gespräch vorzubereiten. »Mevrouw
Jonker ist tot. Wir untersuchen die Umstände ihres Ablebens. Nehmen Sie bitte Platz.«
Ewerts blickte sich verstohlen um. Griet hatte laut genug gesprochen, dass einige Gäste auf ihre Unterhaltung aufmerksam geworden waren. Er stieß ein Brummen aus und setzte sich neben Pieter.
»Der Tod von mevrouw
Jonker scheint Sie nicht zu überraschen«, stellte Griet fest und zog ihr Notizheft aus der Innentasche ihres Parkas.
»Stand doch in der Zeitung … tragische Sache.«
»Wann haben Sie mit mevrouw
Jonker gesprochen?«
»Vor etwa zwei Wochen.«
»Und worum ging es?«
»Mein Erlebnis beim Elfstedentocht.«
Die Bedienung kam und brachte ihnen die Getränke.
Griet tauchte den Teebeutel in das heiße Wasser. »Wie verlief Ihr Gespräch mit ihr?«
»Normal«, sagte Ewerts. »Warum fragen Sie?«
»Mevrouw
Jonker hat auf YouTube ein Video veröffentlicht, in dem sie sich hinsichtlich Ihrer Pläne für den Elfstedentocht kritisch äußert«, erwiderte Griet. »Sie behauptet auch, Sie hätten das Interview abgebrochen.«
Ewerts verschränkte die Arme und schien sich seine Antwort zu überlegen. »Ich habe nichts gegen kritische Fragen. Aber sehr wohl etwas gegen Unterstellungen«, meinte er schließlich. »Ich sagte mevrouw
Jonker, dass sie Unfug redet und wir uns auf dieser Basis nicht weiter zu unterhalten brauchten. Sie packte ihre Sachen und ging.«
»Was unterstellte sie Ihnen denn?«, fragte Pieter.
»Denselben Unsinn, den sie auch in dem Video verbreitet. Dass ich das Leben der Leute aufs Spiel setze, nur um Geld zu verdienen.«
»Und das stimmt nicht?«, fragte Griet. »Es gibt doch bereits einen Elfstedentocht. Außer geschäftlichen Interessen sehe ich wenig Gründe für ein zweites, alternatives Event der gleichen Art.«
»Ich bin Mitglied in der FNP
«, sagte Ewerts, als würde das irgendetwas erklären.
Griet musste unwillkürlich an ihr Erlebnis mit dem Vertreter der Fryske Nasjonale Partij
auf dem Einwohnermeldeamt denken.
»Und ich bin Mitglied in der Eifelvereniging
«, warf Pieter ein, der offenbar denselben Gedanken hatte. »Was wollen Sie uns also damit sagen?«
»Wir setzen uns für den Erhalt der Traditionen ein«, erklärte Ewerts, »und um nichts anderes geht es bei meinem Elfstedentocht. Tatsache ist, dass wir seit über zwanzig Jahren keinen tocht
mehr hatten. Und Marit Blom ist gerade dabei, aus übertriebener Vorsicht die einmalige Gelegenheit für eine Neuauflage des Rennens zu verspielen.«
»Wenn ich es recht verstehe«, sagte Griet, »geht es ihr lediglich darum, die Sicherheit zu gewährleisten, wenn Zehntausende Menschen gleichzeitig aufs Eis stürmen.«
»Das ist doch übertrieben …« Ewerts blickte kurz zum Fenster hinaus. »Es gab schon viele Male alternative Rennen. Zuletzt brachen 1996 Hunderte Läufer zu einem privaten Elfstedentocht auf. Bei ähnlichen Bedingungen. Auch damals hieß es, das offizielle Rennen könne nicht stattfinden, weil es zu gefährlich sei … bla, bla, bla. Aber die Leute kamen alle unbeschadet im Ziel an.«
»Und deshalb meinen Sie, dass mevrouw
Jonker Ihnen unrecht tat?«, fragte Griet.
»Sehen Sie, das Klima wird doch immer wärmer. Wer weiß, wann wir das nächste Mal solche günstigen Bedingungen haben? Ich finde, wir sollten die Gelegenheit nutzen. Und damit bin ich nicht allein.«
»Und da kam Ihnen das Video von mevrouw
Jonker sehr ungelegen«, meinte Pieter.
»Wie gesagt, die Anschuldigungen sind haltlos«, bekräftigte Ewerts. »Viele Leute in der Stadt stehen hinter mir. Es hat ja zum Beispiel auch niemand verstanden, warum sich Blom so gegen den Einsatz moderner Technik gesträubt hat.«
Pieter hob die Augenbrauen. »Aber sie lässt doch jetzt die Wärmepumpen testen. Ist das keine moderne Technik?«
»Genau darum geht es doch. Ihr Vorgänger, Jaap van der Horst, hatte sich schon klar für deren Verwendung ausgesprochen. Dann kam Blom und hat alles abgeblasen.« Ewerts schüttelte den Kopf. »Weiß
der Teufel, warum sie es sich so plötzlich doch wieder anders überlegt hat.«
Es hatte wenig Sinn, diesen Punkt weiter zu vertiefen, dachte Griet, sie kamen zu sehr vom eigentlichen Thema ab. »Haben Sie mevrouw
Jonker nach dem Interview noch einmal getroffen?«, fragte sie.
»Nein.«
»Auch nicht auf der Pressekonferenz im stadhuis?
«
»Nein … also, schon.« Ewerts stockte kurz. »Sie war da. Ich sah, wie sie mit dem Bürgermeister, Marit Blom und ein paar anderen Leuten sprach. Aber ich selbst hab nicht mit ihr geredet.«
»Wann war das?«, fragte Griet. »Während der Pressekonferenz oder anschließend im Gewölbekeller?«
»Im Keller.«
Dann war Jessica tatsächlich dort gewesen. »Und sie unterhielt sich mit Marit Blom?«
»Sie standen da, redeten und stießen miteinander an.«
»Sie tranken etwas?«
»Ja.«
Griet machte sich eine Notiz. »Man sagte uns, Sie waren an dem Abend für das Catering verantwortlich?«
»Ja«, antwortete Ewerts. »Allerdings läuft der Cateringbetrieb getrennt vom Restaurant. Ich war dort, um mit dem Bürgermeister und Ihrem Chef über meine Pläne bezüglich des Elfstedentocht zu sprechen.«
»Das bedeutet, Sie waren weder an der Zubereitung der Speisen noch an Ausschank und Essensausgabe beteiligt?«
»Damit hatte ich an dem Abend nichts zu tun.« Ewerts blickte nach hinten zur Küche. »Wenn das alles wäre …«
»Eine Frage hätte ich noch«, sagte Griet. »Mevrouw
Jonker schrieb für das Leeuwarder Dagblad. Kennen Sie zufällig den Chefredakteur?«
»Ich glaube … schon, ja.«
»Es heißt, er wäre einer Ihrer Stammgäste.«
»Ziemlich viele Leute kommen regelmäßig hierher. Schwierig, da den Überblick zu behalten. Aber … ich hab ihn ein paarmal hier gesehen, ja.«
»In letzter Zeit auch?«
»Das kann ich nicht sicher sagen. Die meiste Zeit stehe ich ja hinten in der Küche …«
»Bedankt«,
sagte Griet und schloss ihr Notizheft. Sie glaubte Toon Ewerts kein Wort. Zumindest war sie noch nie einem Wirt begegnet, der seine Stammkundschaft nicht kannte, zumal, wenn er ein solch übersichtliches Etablissement wie den Elfstedenkok
betrieb.
***
Im Hinausgehen blieben sie in dem kleinen Flur vor der Eingangstür stehen. Diverse Bilderrahmen hingen hier an den holzvertäfelten Wänden. Einer von ihnen enthielt eine Karte mit der Streckenführung des Elfstedentocht. Das Rennen startete von Leeuwarden aus in südlicher Richtung über Sneek nach Sloten, bevor die Läufer in westlicher Richtung nach Stavoren liefen. Entlang des Ijsselmeers ging es weiter über Hindeloopen und Workum nach Harlingen. Der nördlichste Teil der Route führte von dort nach Franeker, Dokkum und schließlich wieder zurück nach Leeuwarden. Allerdings war in anderer Farbe auch noch eine zweite Strecke in entgegengesetzter Richtung eingezeichnet.
»Bis in die Dreißigerjahre lief man das Rennen om de noord
«, erklärte Pieter und deutete auf die Karte. »Es startete in nördliche Richtung nach Dokkum. Das Problem war, dass die Läufer sich bei Einbruch der Dunkelheit dann auf den friese meeren
befanden, also auf den großen Seen zwischen Stavoren und Sloten. Viele verirrten sich dort, und es gab weit und breit keine Hilfe. Deshalb wird der tocht
heute im Uhrzeigersinn gelaufen, om de zuid,
mit Start in südliche
Richtung.«
Griet betrachtete die Fotos, die neben der Karte hingen. Einige schienen vom Elfstedentocht von 1997 zu sein. Auf einem davon war Toon Ewerts mit einem anderen Mann zu sehen, der ihm frappierend ähnlich sah.
»Ist das sein Bruder?«, erkundigte sich Pieter.
Sein mobieltje
vibrierte. Er las die eingegangene Nachricht.
»Etwas Wichtiges?«, fragte Griet.
»Nein, nur Noud Wolfs, ein alter Kollege. Er ist in Rente, und wir treffen uns ab und an auf ein pilsje
.« Er schob das Smartphone in die Hosentasche zurück. »Was hast du jetzt vor?«
»Ich denke«, antwortete Griet, »wir sollten uns mal mit Marit Blom unterhalten.«