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Schnelles Eis
G
riet lehnte mit Pieter an der Bande der Eislaufbahn in der Elfstedenhal
. Die große Eishalle befand sich im Westen der Stadt und war erst 2015 eröffnet worden. Auf dem Platz vor dem Eingang stand die bekannte Bronzestatue eines Elfstedenrijders
. Reinier Paping, der Gewinner des tocht
von 1963, hatte dafür Modell gestanden, wie Griet von Pieter erfahren hatte, und auf dem Sockel waren die Namen aller Gewinner des Rennens eingraviert. Im Volksmund wurde das Standbild auch ijsvreter
genannt, der Eisfresser.
Die Elfstedenhal
war in eisfreien Wintern eine beliebte Stätte für alle, die sich fit halten und ihre Eislaufkünste trainieren wollten, für den Fall, dass doch noch einmal ein Elfstedentocht stattfinden würde. Heute jedoch war die vierhundert Meter lange Bahn nur spärlich besucht, da die gefrorenen Grachten und Seen eine attraktivere Alternative boten.
Ein halbes Dutzend Eisläufer befand sich auf der Bahn, darunter Marit Blom, die Aufnahmen mit einem Fernsehteam machte.
»Ich hatte heute Morgen kurz Gelegenheit, mich ein wenig mit der Dame zu beschäftigen«, sagte Pieter, während sie darauf warteten, dass die Dreharbeiten endeten. »Marit Blom hat ein durchaus bewegtes Leben.«
»Inwiefern?«
»Sie war Mitte der Neunziger beim Dutchbat
III
,
falls dir das etwas sagt.«
»Das tut es.« Griet warf Pieter einen Seitenblick zu.
Das Dutch Air Mobile Battalion,
ein luftbewegliches Bataillon, war das niederländische Kontingent der Blauhelmmission im Jugoslawienkrieg gewesen. Während des Einsatzes von Dutchbat
III
war es 1995 zum Massaker von Srebrenica gekommen, bei dem über achttausend bosnisch-muslimische Männer getötet worden waren. Das oberste niederländische Gericht in Den Haag hatte erst vor wenigen Jahren geurteilt, dass das Land eine Mitschuld am Tod dieser Menschen trug, weil sich das Bataillon den anrückenden serbischen Truppen kampflos ergeben hatte.
»War sie dabei?«, fragte Griet.
»Sieht ganz so aus«, antwortete Pieter. »Sie war damals noch sehr jung. Jedenfalls quittierte sie kurz darauf den Militärdienst und kam zurück nach Fryslân
. Ihrer Mutter gehörte in Franeker ein Blumenladen. Der Vater war wohl früh bei einem Unfall gestorben. Alles recht einfache Verhältnisse.«
»Was tat sie dann?«
»Sie knackte den Jackpot.«
»Wie, du meinst, sie gewann im Lotto?«
Pieter lachte. »Nein, sie heiratete in den Blom-Klan ein. Die Bloms sind Jachtbauer. Sie fertigen in Franeker nun bereits in dritter Generation sehr beliebte Plattbodenschiffe.«
»Nach ihrem Militäreinsatz hatte sie ein wenig Glück vielleicht verdient.«
»Mag sein. Allerdings ließ ihr Mann, Jurre, sie bald sitzen – er suchte offenbar heimlich das Weite, während sie 1997 den Elfstedentocht lief«, erzählte Pieter. »Die Familie hielt aber zu ihr, und Marit baute eine Charterkette mit Blom-Jachten auf. Die Heimatbasis ist in Sneek, aber inzwischen gibt es ein halbes Dutzend Basen, die sich über Fryslân
und Zeeland verteilen.«
»Eine geschäftstüchtige Frau«, sagte Griet. »Wie schafft sie es, parallel noch die Elfsteden-Kommission zu führen?«
»Sie war offenbar schon lange in der Vereinigung aktiv«, erwiderte Pieter. »Und während der Wintermonate ist hier oben beim Verchartern ohnehin Flaute. Der Bruder ihres Mannes, Erik Blom, scheint in ihrer Abwesenheit die Geschäfte übernommen zu haben. Viel weiter bin ich nicht gekommen …«
Griet sah, wie das Filmteam die Kameras einpackte und sich von Marit Blom verabschiedete. Griet winkte der Frau zu, und Blom kam auf Schlittschuhen zu ihnen herübergelaufen.
»Mevrouw Commissaris«,
sagte sie. »Was kann ich für Sie tun?« Marit Blom trug einen schwarzen Eislaufanzug und ein gleichfarbiges Stirnband über den feuerroten Haaren.
»Ich möchte noch einmal mit Ihnen über Jessica Jonker sprechen«, erklärte Griet.
»Wie wäre es, wenn Sie mir dabei auf dem Eis Gesellschaft leisten?« Blom lächelte.
Griet warf Pieter einen Blick zu, und er nickte. »Ich besorg uns ein paar Schuhe.«
»Sagen Sie an der Ausgabe, dass Sie Gäste von mir sind«, rief ihm Marit Blom nach, als er in Richtung Foyer ging.
»Sie kannten Jessica Jonker.« Griet kam direkt auf den Punkt. »Wenige Tage vor ihrem Tod hatten Sie ein Interview mit ihr. Warum haben Sie uns davon nichts gesagt?«
Blom schürzte die Lippen. »Ist mir wohl in der Aufregung durchgegangen.«
»Tatsächlich? Völlig unbekannt ist Ihnen eine solche Situation wohl nicht, wenn ich recht informiert bin«, meinte Griet.
»Sie spielen auf meine militärische Vergangenheit an? Ich habe meinen Teil an Verletzten und Toten gesehen, ja. Und ehrlich gesagt, werde ich ungern daran erinnert. Tote Frauen aus der Gracht zu ziehen, das gehört jedenfalls nicht zu meinem Alltag.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich zu direkt war«, lenkte Griet ein, wobei
ihr nicht entging, wie ruhig und abgeklärt Blom reagiert hatte. »Da ist noch eine Sache, die ich nicht ganz verstehe. Sie erzählten mir, Sie wären an jenem Abend in Sloten gewesen, um eine Kontrolle durchzuführen. Geert Dammers war von Ihrem Besuch allerdings sehr überrascht.«
»Das will ich auch hoffen«, erwiderte Blom, »schließlich war das der Sinn der Sache. Ich verlasse mich nicht ausschließlich auf die Meldungen, die aus den einzelnen Bezirken bei uns eingehen. Ich überzeuge mich lieber mit eigenen Augen von der Lage vor Ort. Und wenn man das unangekündigt macht, hält es die Leute auf Zack. So halte ich es in meiner Firma auch immer.«
Pieter kam mit den Schlittschuhen zurück, und sie setzten sich auf eine Bank, um sie anzuziehen. Derjenige, der sie zuvor getragen hatte, war bei den Schnürsenkeln wohl auf Nummer sicher gegangen, der Knoten von Griets Schuhen ließ sich jedenfalls partout nicht öffnen. Pieter hatte seine Schuhe bereits angezogen und stiefelte auf das Eis.
Marit Blom kam zu Griet an die Bank und öffnete den Reißverschluss ihres Anzugs ein Stück. Aus einer Innentasche zog sie etwas hervor, das wie ein Messer aussah, und klappte einen metallenen Dorn heraus. »Hier«, sagte sie und hielt Griet das Messer hin, »damit bekommen Sie jeden Knoten auf.«
Auf Griets fragenden Blick hin fügte sie erklärend hinzu: »Ein Schäkelmesser. Ist auf einem Segelschiff unverzichtbar. Ich hab es aus alter Gewohnheit immer dabei.«
Griet schob den Dorn in den Knoten und löste ihn. Als sie die Schuhe angezogen hatte und aufs Eis stakste, gab sie Blom das Schäkelmesser zurück.
»Legen wir los«, sagte Blom und setzte sich in Bewegung. Griet folgte ihr auf der rechten Seite, Pieter auf der linken.
»Worüber sprachen Sie mit Jessica?«, fragte Griet.
Ȇber die Frauen beim Elfstedentocht. Das Rennen war ja lange Zeit
eine Männerdomäne. Dass ich als erste Frau den Kommissionsvorsitz übernommen habe, sollte wohl der Aufhänger für ihren Artikel sein.«
»Die Frauen waren bis in jüngste Zeit vom Profiwettkampf ausgeschlossen«, erklärte Pieter, an Griet gewandt.
»Richtig«, meinte Blom. »Sie durften erst 1985 zum ersten Mal in der Wettkampfwertung antreten. Lenie van der Hoorn-Langelaan gewann damals. Davon nahm allerdings kaum jemand Notiz, obwohl sie zwei Minuten schneller war als Jeen van den Berg, der Sieger von 1954. Die Fernsehkameras filmten nicht einmal, wie sie über die Ziellinie fuhr. Und als zwölf Jahre später Klasina Seinstra gewann, war es nicht viel besser. Bei der Siegerehrung gab es keinen Kranz für sie. Henk Angenent rettete die Situation, indem er den seinen mit ihr teilte. Ich erklärte mevrouw
Jonker, dass ich beabsichtige, die Frauen in Zukunft stärker in den Fokus zu rücken.«
»Sie sind selbst beim Rennen von 1997 angetreten, richtig?«, erkundigte sich Griet.
»Ja«, sagte Blom. »Wobei ich mich nicht gern an diese Nacht erinnere.«
»Wegen Ihrem Mann?«
»Als ich nach dem Rennen nach Hause kam, musste ich feststellen, dass Jurre seine Sachen gepackt und mich verlassen hatte.«
»Einfach so? Wo war er hingegangen?«
»Das weiß ich bis heute nicht«, erwiderte Blom. »Ich hörte nie wieder von ihm. Vermutlich ist er mit einer anderen durchgebrannt.«
»Das tut mir leid«, meinte Griet.
»Das ist lange her. Freud und Leid liegen im Leben eben nahe beieinander. Den Elfstedentocht zu laufen war schon ein unbeschreibliches Gefühl. Wenn man es ein Mal erlebt hat, will man es immer wieder tun. Was ist mit Ihnen?« Sie blickte Griet von der Seite an und musterte sie. »Sie machen keine schlechte Figur auf dem Eis.«
Die Frau wollte ihr schmeicheln, dachte Griet und ging nicht darauf
ein. »Sie waren am Montagnachmittag auf der Pressekonferenz im stadhuis
. Haben Sie Jessica Jonker dort getroffen?«
»Ja«, antwortete Blom im Plauderton, sie schien das forsche Tempo, das sie gerade liefen, mühelos durchzuhalten. »Ich sprach nach der Veranstaltung kurz mit ihr.«
»Worum ging es?«
Blom blickte Griet zweifelnd an. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen sollte. Ich … möchte keine Gerüchte in die Welt setzen.«
»Trauen Sie sich«, erwiderte Griet. »Was Sie sagen, bleibt unter uns.«
»Jessica interessierte sich für Toon Ewerts. Sie wollte wissen, ob an den Gerüchten etwas dran sei, die man sich erzählt.«
»Welche Gerüchte?«
»Sie wissen, dass er politisch aktiv ist?«
»In der FNP
, ja.«
»Er hat einen steilen Aufstieg in der Partei hingelegt«, erklärte Blom. »Und man munkelt, dass er weitergehende Ambitionen hat. Sein … Projekt mit dem alternativen Elfstedentocht ist dabei nicht ganz unwichtig.«
»Ich nehme an, Sie halten nicht viel von diesem Unterfangen?«
»Er setzt die Sicherheit der Leute aufs Spiel«, sagte Blom, während sie das Tempo weiter verschärfte. »Trotzdem, sollte er einen Elfstedentocht an den Start bringen und wir nicht, dann werden ihm die Herzen der Leute zufliegen. Vor allem die der Geschäftsleute.«
»Was seinen politischen Ambitionen zuträglich wäre.«
»Genau. Und inzwischen ist es ein offenes Geheimnis, dass er sich manche Gefälligkeit mit kleineren Spenden erkauft.«
»Sie meinen …« Griet hatte für einen Moment nicht achtgegeben, als sie in die Kurve einbogen. Sie rutschte mit dem inneren Fuß weg, schlug hart mit der Hüfte aufs Eis und schlitterte weiter, bis die Bande sie unsanft stoppte. Augenblicklich schoss ein stechender Schmerz
durch ihre linke Seite, an der Stelle, wo vor Jahren die Kugel im Rotterdamer Hafen sie erwischt hatte.
Marit Blom stoppte und kam zu ihr zurück. Pieter brauchte einen Moment länger. Mit besorgtem Gesichtsausdruck bückte Blom sich zu ihr herunter.
»Sie haben sich doch nicht verletzt?«
Griet bewegte sich vorsichtig und stellte fest, dass sie außer ein paar blauen Flecken wohl keine ernsteren Blessuren davongetragen hatte. »Geht schon.«
»Sie sollten eine Pause einlegen. Gönnen Sie sich doch vorn in der Cafeteria einen koffie
… und lassen Sie ihn auf meine Rechnung schreiben.« Blom setzte ein Lächeln auf. »Ich hoffe, ich konnte Ihnen weiterhelfen. Meine Tür steht Ihnen immer offen.«
Pieter half Griet auf, während Marit Blom auf dem Eis mit eleganten Bewegungen davonfuhr.