20
Auf geheimer Mission
E ine knappe Stunde später parkte Griet mit dem Auto vor einem unscheinbaren Einfamilienhaus kurz hinter dem Ortseingang von Weidum. Sie hatte sich wieder einen Renault Zoё aus dem Pool eines Carsharing-Anbieters geliehen, der die Autos im gesamten Stadtgebiet per App rund um die Uhr zur Verfügung stellte. Zum Glück hatte die Firma auch an Menschen mit Kind gedacht und Kindersitze im Angebot.
Weidum war ein kleiner Ort wenige Kilometer südlich von Leeuwarden, bekannt für ein außergewöhnliches Hotel. Sie waren auf der Hinfahrt, die sie ein kurzes Stück über die Autobahn und dann über eine schnurgerade Landstraße geführt hatte, daran vorbeigekommen. Das Weidumer Hout, wie das Hotel hieß, bestand aus kubusförmigen Holzbauten, die auf der grünen Wiese entlang der Weidumer Faert, einem schmalen Kanal, aufgestellt worden waren und einen fantastischen Blick boten. Das Frühstück wurde in der Scheune eines ehemaligen Bauernhofs serviert, wo es auch vorzügliches Abendessen gab. Griet hatte sich vor etlichen Jahren einmal dort einquartiert, als sie ihren Vater besuchte.
Fenja saß auf der Rückbank und löffelte ein Softeis mit Schokoladensoße, das Griet ihr am Drive-in eines Fast-Food-Restaurants besorgt hatte.
Griet spähte durch das Fernglas zu dem Einfamilienhaus hinüber. Im Wohnzimmer brannte Licht, und ein beständiges buntes Flackern ließ darauf schließen, dass jemand vor dem Fernseher saß. Auf der linken Seite grenzte der Autobedrijv Hoekstra an das Haus, eine der üblichen kleinen Reparaturwerkstätten, deren Name auf dem Schild an der Werkshalle geschrieben stand. Neben einigen neueren Fahrzeugen reihten sich diverse ausgeschlachtete Wracks auf dem Hof aneinander. In der Halle brannte noch Licht. Griet blickte auf die Uhr. Es war kurz nach einundzwanzig Uhr. Rob Hoekstra schien ein fleißiger Mensch zu sein.
Griet öffnete das Fenster einen Spaltbreit und ließ frische, kalte Luft herein. Der Geruch von Schnee und der salzige Geschmack der nahen See lagen darin. Hinter den Ästen der kahlen Bäume, unter denen Griet den Wagen abgestellt hatte, erstreckte sich der Sternenhimmel über den weiten Feldern bis in die Unendlichkeit.
»Mama, darf ich auch mal gucken?«, fragte Fenja.
Griet reichte ihr das Fernglas nach hinten.
Sie war sich darüber bewusst, dass das, was sie hier tat, vermutlich pädagogisch nicht sonderlich wertvoll war. Andererseits, fragte sie sich, wie sinnvoll es wohl war, wenn Eltern ihre Kinder in Vergnügungsparks schleppten und sie mit Popcorn und Zuckerwatte vollstopften. Dies hier war ihre Art, ihrer Tochter ein spannendes Erlebnis zu bieten, wobei sie nichts Schlimmes zu befürchten hatten.
Im Grunde wusste Griet nicht einmal genau, warum sie hierhergefahren war. Vermutlich reine Neugierde. Gluren bij de buren . Einfach mal einen Blick durch das Wohnzimmerfenster oder das Tor von Hoekstras Werkstatt werfen und sehen, wer dieser Mann war – und ob sich irgendeine Verbindung zum Tod von Jessica Jonker entdecken ließ.
Für Fenja hatte sie ein Spiel daraus gemacht und ihr erklärt, sie seien Agenten auf einer geheimen Mission.
Sie standen bereits seit einer halben Stunde vor der Autowerkstatt, ohne dass etwas Bemerkenswertes geschehen war. Ein Mann, bei dem es sich offenbar um einen Mitarbeiter von Hoekstra handelte, war aus der Halle gekommen und mit einem Wagen weggefahren. Vermutlich hatte er Feierabend gemacht.
»Schau mal, Mama«, sagte Fenja. »Das Auto da sieht fast so aus wie Papas.«
Griet sah zur Werkstatt hinüber und erkannte, was Fenja meinte. Unter den ausgeschlachteten Karossen stand ein vom Schnee bedeckter alter VW -Käfer. Fleming besaß ein schwarzes Käfer-Cabrio, einen Oldtimer, den er sich von seinem ersten Bucherfolg gekauft hatte.
»Seid ihr im Sommer wieder damit gefahren?«
Fenja schüttelte den Kopf. »Papa hat’s verkauft.«
»Er hat es verkauft? « Griet wandte sich verwundert zu ihrer Tochter auf dem Rücksitz um. »Warum denn das?«
»Weiß nicht. Er meinte, es gefällt ihm nicht mehr.« Fenja zuckte die Schultern.
Fleming hatte den alten Wagen wie seinen Augapfel gehütet. Die Spazierfahrten bei Sonnenschein und mit geöffnetem Verdeck hatte er im Spaß immer als seine persönlichen Meditationseinheiten bezeichnet. Griet hätte nie gedacht, dass er das alte Stück einmal freiwillig hergeben würde.
Ein schwarzer Kombi rollte auf den Hof der Werkstatt. Griet hob das Fernglas an die Augen. Die Türen der Werkshalle wurden aufgeschoben. Der Wagen wendete und fuhr rückwärts hinein. Sie sah, wie ein Mann ausstieg. Ein anderer, vielleicht Hoekstra, kam auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Zwei Mechaniker in blauen Arbeitsoveralls öffneten den Kofferraum des Wagens und begannen, ihn zu entladen. Sie holten mehrere Kisten heraus und brachten sie zu einem schwarzen Transporter, der ebenfalls in der Halle stand.
Griet nahm ihr Notizbuch und schrieb die Kennzeichen beider Fahrzeuge auf.
Es dauerte keine fünf Minuten, bis der Wagen ausgeräumt war. Hoekstra verabschiedete sich von dem Mann, und die Werkshalle wurde hinter dem wegfahrenden Kombi wieder geschlossen.
Griet blickte den roten Rücklichtern nach, die auf der Landstraße langsam kleiner wurden. Ein gewöhnlicher Inspektionstermin war das gerade nicht gewesen.
»Schau mal, Mama, da kommt noch ein Auto.«
Griet wandte den Kopf und sah aus der entgegengesetzten Richtung einen dunkelblauen Volvo sich nähern. Er bremste ab und rollte über den Hof auf die Werkstatthalle zu. Der Fahrer hupte. Nach einem kurzen Moment kam Hoekstra aus der Halle. Er hatte eine glimmende Zigarette im Mund.
Griet nahm erneut das Fernglas zur Hand. Als sie hindurchblickte, beobachtete sie, wie die Lichter des Wagens erloschen, die Fahrertür geöffnet wurde und ein Mann ausstieg, den Griet nur von hinten sehen konnte. Er trat zu Hoekstra, der die Zigarette auf den Boden warf und austrat. Die beiden umarmten einander. Und als sie sich umdrehten, um in das Wohnhaus zu gehen, sah sie das Gesicht des Mannes. Griet ließ das Fernglas sinken, und in dem Moment sprach Fenja laut aus, was sie soeben mit Entsetzen selbst hatte feststellen müssen.
»Mama, das ist ja Onkel Pieter.«