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Elfstedenmoord
G
riet hob die Tasse an den Mund und inhalierte den Duft des frischen schwarzen koffie
. Es war ihr erster Kaffee an diesem Morgen.
Um diese Uhrzeit waren erst wenige Kollegen im politiehoofdkantoor,
und sie nutzte die Ruhe, um konzentriert zu arbeiten. Sie hatte Wouters, der als Einziger ebenfalls schon anwesend war, eben einen kurzen Bericht eingereicht und hoffte, dass damit der Form Genüge getan war.
Sie trank einen Schluck, dann konzentrierte sie sich wieder auf den Bildschirm. Mittels der Kennzeichen, die sie sich notiert hatte, suchte sie im Register des Rijksdienst voor de Wegverkeer
nach den Haltern der beiden Fahrzeuge, die sie in der Werkshalle von Rob Hoekstra gesehen hatte.
Ein seltsames Gefühl hatte sie beschlichen, als sie vorhin Fenja zu den De Vries’ gebracht hatte. Sie hatte ihrer Tochter eingeschärft, nichts von ihrem abendlichen Ausflug zu erzählen – gute Agenten schweigen über verdeckte Einsätze –, wobei sie sich ermahnt hatte, dass es vermutlich nicht richtig war, ein Kind überhaupt in einen solchen Loyalitätskonflikt zu bringen. Andererseits hatte ihr nächtlicher Ausflug eine zwar unwillkommene, aber dennoch interessante Erkenntnis zutage gefördert.
Fenja war freudig auf die Eingangstür der Doppelhaushälfte zugestürmt, wo Nettie und die Bernhardinerdame sie in Empfang nahmen. Pieter war schon unterwegs gewesen und brachte die Kinder zur Schule. Griet hatte sich von Fenja und Nettie verabschiedet, und
die beiden waren ins Haus gegangen.
Als sie auf ihr fiets
stieg, hatte Griet kurz einen Blick zurückgeworfen. Was verbarg sich hinter der Fassade der Normalität? Warum traf sich Pieter de Vries, treuer Ehemann, hingebungsvoller Vater zweier Kinder und Ermittler der Districtsrecherche,
heimlich mit einem Kriminellen, der vielleicht eine Rolle in einem aktuellen Fall spielte? Und sosehr Griet Pieter und seine Familie mochte und ihn als Freund schätzen gelernt hatte, drängte sich doch eine weitere Frage auf. Konnte sie Fenja weiterhin zu diesen Leuten schicken?
Griet wurde abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als eine Tageszeitung mit lautem Knall auf ihrem Schreibtisch landete.
Wim Wouters, Hoofdcommissaris
und Teamchef der Districtsrecherche,
baute sich neben ihr auf.
Er war ein Mann Mitte fünfzig, in dessen Gesicht sich anscheinend jedes einzelne Berufsjahr eingekerbt hatte. Der untersetzte Körperbau und das Doppelkinn zeugten von vielen Stunden hinter dem Schreibtisch. Wouters fuhr sich mit einer Hand durch das gelockte graue Haar, mit der anderen deutete er auf die Zeitung: »Was hast du ihm erzählt?«
Griet nahm die Zeitung in die Hand. Schon der erste Blick auf die Titelseite genügte, um zu wissen, warum ihr Chef nicht allzu guter Laune war.
Tote in Gracht doch kein Unglück – Was geschah mit Jessica Jonker?
Von Stijn de Leeuw
Sloten/Leeuwarden. Als am Montagabend eine junge Reporterin tot aus der Gracht von Sloten geborgen wurde, deutete zunächst alles auf einen Unfall hin. Doch nach neuesten Erkenntnissen scheint die Polizei sogar einen Mord für möglich zu halten.
Bei der Toten handelte es sich um Jessica Jonker (25), eine freien
Mitarbeiterin dieser Zeitung. Die in dem Fall zuständige Ermittlerin, Griet Gerritsen, Commissaris
der Districtsrecherche,
wollte auf unsere Anfrage hin keine Stellung nehmen. Wie unserer Redaktion bekannt ist, ermittelt die Polizei inzwischen aber in alle Richtungen. Das bedeutet, dass man offenbar nicht mehr von einem Unfall ausgeht und eventuell sogar ein Gewaltverbrechen in Betracht zieht …
Weiter las Griet nicht, sie kannte diese Art von Artikeln. Sie faltete die Zeitung zusammen und hielt sie Wouters hin. »Das reimt er sich zusammen«, sagte sie. »Ist doch offensichtlich.«
»Ich habe euch nach Sloten geschickt, weil es nach einer klaren Sache aussah.« Wouters wedelte drohend mit der Zeitung. »Macht es nicht komplizierter, als es ist!«
»Kompliziert ist der Fall von ganz allein geworden.«
»Da bin ich mir nicht sicher. Aus deinem Bericht geht kein einziges Indiz hervor, das klar für ein Verbrechen spricht«, schnaubte er. »Weitere Ermittlungen sind nur gerechtfertigt, wenn ihr eindeutige Spuren habt. Das sieht übrigens auch der Polizeichef so.«
»Hasselbeek?«
»Ja, Marit Blom hat sich gestern in der Sache bei ihm gemeldet«, sagte Wouters, als wäre das Erklärung genug.
Griet lehnte sich im Stuhl zurück. »Blom? Interessant. Was wollte sie von ihm?«
»Presse, Fernsehen, Radio … die klingeln wohl gerade alle Sturm bei ihr, weil Blom die Leiche aus der Gracht gefischt hat.« Wouters zuckte die Schultern. »Sie wollte von Hasselbeek wissen, wie sie sich in der Sache verhalten soll und wann das Theater ein Ende hat. Und jetzt das hier …« Wouters gestikulierte abermals mit der Zeitung. »Der Chef möchte die Sache geklärt wissen. Besser heute als morgen. Und das mit der Pressekonferenz sollen wir unter dem Teppich halten.«
Griet richtete sich im Stuhl auf. »Jessica Jonker hat weder aus Versehen eine Überdosis genommen noch Selbstmord begangen, und ein Unfall war es mit Sicherheit auch nicht.« Sie kam nun richtig in Fahrt. »Jonker war für Toon Ewerts eine Bedrohung, zudem unterhält er offenbar Kontakt zu einem verurteilten Kriminellen. Seinem Freund Stijn de Leeuw hat er wohl ein paar Scheinchen zugesteckt, damit er Jessica rauswirft. Zufällig waren die beiden auf der Pressekonferenz, wo Jessica mutmaßlich vergiftet wurde. Marit Blom war übrigens auch da. Die Frau taucht sowieso überall auf, zum Beispiel in Sloten, wo niemand sie erwartet hat, just in dem Moment, als Jonker von der Brücke stürzt. Und dann wäre da noch Jeroen Brouwer, der Dinge sieht, die er gar nicht gesehen haben kann …« Griet musste Luft holen. Dann deutete sie auf ihren Computer. »Das kommt mir alles reichlich spanisch vor. Und wenn du mich nicht länger von der Arbeit abhältst, finde ich gern heraus, was wirklich geschehen ist. Und falls du oder Hasselbeek irgendein Problem damit habt, beantrage ich ebenso gern die Versetzung.«
Damit drehte sie sich zu ihrem Schreibtisch herum und machte mit der Arbeit weiter. Hinter sich hörte sie ein Schnaufen. Bevor er sich mit stampfenden Schritten entfernte, sagte Wouters noch leise: »Darauf komme ich mit Freuden zurück.«
Griet starrte auf den Bildschirm und war vor Wut nicht in der Lage, klar zu denken. Sie hatte nicht die geringste Absicht, sich von Wouters, Hasselbeek, den Medien oder sonst irgendjemandem unter Druck setzen zu lassen. Sie hatte schon zu viele Ermittlungen erlebt, bei denen aus Zeitnot wichtige Hinweise übersehen oder voreilige Schlüsse gezogen worden waren.
Allerdings war sie dankbar, dass Stijn de Leeuw sich mit dem Artikel in Erinnerung gerufen hatte. Sie würde Noemi bitten, erneut in der Redaktion vorbeizusehen, und falls der Mann nicht vor Ort anzutreffen war, sollte sie herausfinden, wo er steckte, und ihn zur
Vernehmung schleifen.
Sie seufzte und widmete sich wieder ihrer Aufgabe. Nachdem sie sich durch einige Menüs geklickt hatte, tauchten auf dem Monitor die Informationen auf, nach denen sie suchte.
Der Kombi, aus dem die Männer in Hoekstras Werkstatt Kisten entladen hatten, gehörte einem Jaap Leinders. Griet öffnete ein zweites Fenster, startete parallel einen Suchlauf nach dem Namen in den Datenbanken der politie
und landete einen Treffer. Die Kollegen vom basisteam
Leeuwarden hatten Leinders im Visier. Sie verdächtigten ihn, an mehreren Einbrüchen beteiligt gewesen zu sein. Allerdings fehlten handfeste Beweise, um ihn dafür zu belangen.
Griet gab das Kennzeichen des Transporters ein, der bei Hoekstras gestanden hatte. Der Name, den das Register des RDW
wenige Sekunden später ausspuckte, ließ sie aufmerken. Das Fahrzeug war auf Vlam Ewerts zugelassen, den Bruder von Toon Ewerts. Außer ein paar kleineren Jugendsünden fand Griet nichts über den Mann in den Datenbanken. Eine Googlesuche war ergiebiger. Vlam Ewerts gehörte ein Auktionshaus im Molenpad
hier in der Stadt.
Sie nahm die Tasse und stellte fest, dass der koffie
inzwischen kalt geworden war. Heute hatte sie wirklich keinen guten Start in den Tag.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Pieter.
Mein lieber Pieter, was hast du mit diesen Leuten zu schaffen?
Als Polizist hatte er unbestritten seine Qualitäten. Griet hatte sich schon manches Mal gefragt, warum jemand wie er auf dem Abstellgleis gelandet war. Bislang hatte sie es einfach als Pech abgetan. Manchmal genügte es schon, wenn das eigene Gesicht jemandem nicht passte – und dass Wim Wouters nicht allzu viel von Pieter hielt, war Griet bereits an ihrem ersten Tag hier in Leeuwarden aufgefallen.
Vielleicht steckte dahinter mehr, als sie bislang angenommen hatte, und es ging nicht nur um persönliche Animositäten.
Aber egal, so oder so führte alles unweigerlich zu der Frage: Konnte
sie Pieter noch vertrauen?
Griet bemerkte, wie jemand hinter sie trat. In der Annahme, dass es Wouters war, der seiner Position noch einmal Nachdruck verleihen wollte, drehte sie sich auf dem Stuhl herum. Doch es war Pieter, der in Mantel und Mütze an ihrem Schreibtisch stand. Er machte keine Anstalten, seine Sachen abzulegen.
»Ich habe von unterwegs mit der Witwe von Mart Hilberts telefoniert«, sagte er. »Sie hätte Zeit, heute Vormittag mit uns zu sprechen. Kommst du mit?«