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Der Zeh von Tinus Udding
D
ie N359 von Leeuwarden nach Hindeloopen war eine beinah schnurgerade Landstraße. Zu beiden Seiten erstreckten sich die verschneiten Wiesen und Felder bis zum Horizont. Immer wieder fuhren sie durch Gebiete, in denen das Land fast verlassen wirkte, wären nicht die Kirchtürme der kleinen Ortschaften gewesen, die dann und wann in der Ferne in die Höhe ragten. Als Griet nach Fryslân
gezogen war, hatte sie sich gewundert, dass es in einem so dicht besiedelten Land wie den Niederlanden überhaupt noch einen derart menschenleeren Landstrich gab.
Griet fühlte sich leer, nachdem ihr Ärger über das Gespräch mit Wouters langsam abgekühlt war. Es war nachvollziehbar, dass er und Hasselbeek Klarheit wollten, nun, da manches darauf hindeutete, dass Jessica eventuell im stadhuis
vergiftet worden war. Und im Stillen fragte sie sich, ob ihr Vorgesetzter nicht recht hatte. Sie hatte den Fall Jonker von Beginn an als eine zweite Chance begriffen, eine Fahrkarte raus aus der Abstellkammer voller Cold Cases. Vielleicht wollte sie es zu sehr. Interpretierte sie am Ende etwas in die Sache hinein, was nicht da war?
Ähnlich erging es ihr mit Pieter. Was hatte sie wirklich in der Nacht bei der Autowerkstatt gesehen? Gab es eine harmlose Erklärung für alles?
Sie musterte Pieter von der Seite. Er hatte eine Hand am Lenkrad, in der anderen hielt er eine Tüte mit einem saucijzenbroodje,
einem warmen Blätterteigbrötchen mit einer Wurst darin. Sein Blick blieb
konzentriert auf die Straße gerichtet, als er ein Stück abbiss.
Wiebeke Hilberts, die Witwe von Mart Hilberts, lebte in Hindeloopen, einem kleinen Ort am Ijsselmeer. Griet erwartete sich nicht viel von dem Gespräch. Doch Jessica Jonker hatte der Arbeit an der Geschichte von Mart und Edwin in den Wochen vor ihrem Tod viel Zeit gewidmet und den alten Mann mehrere Male besucht. Es war nur folgerichtig, sich mit Wiebeke zu unterhalten.
»Du siehst müde aus«, sagte Griet.
»War eine unruhige Nacht«, erwiderte Pieter. Seine Augen waren von roten Äderchen durchzogen, die Gesichtshaut fahl, und er hatte sich nicht rasiert.
»Was war denn los?«
»Nichts Besonderes«, wiegelte er ab. »Suske hatte einen Albtraum … und dann konnte ich nicht mehr einschlafen.«
»Soll ich lieber fahren?«
»Geht schon.«
Griet richtete den Blick wieder aus dem Fenster. Sie fuhren schweigend weiter, bis Pieter den Wagen schließlich auf den Oosterdijk
lenkte, der direkt auf das Ijsselmeer zuführte. Am Horizont tauchte der schiefe Kirchturm von Hindeloopen auf, der sich genau wie der Oldehove
auf dem sandigen Untergrund mit den Jahren zur Seite geneigt hatte.
Hindeloopen war bis ins späte 18. Jahrhundert hinein ein wichtiger Handelshafen an der damaligen Zuiderzee
gewesen. Von hier aus waren die Segler in die Hansestädte gefahren, um Jenever
oder Hausschuhe aus Wolle zu verkaufen, oder hatten aus den Kolonien edle Gewürze in die Heimat gebracht.
An den Glanz vergangener Tage erinnerten die Kapitänshäuser, an denen Griet und Pieter vorbeikamen, als sie den Wagen auf dem Parkplatz am Deich abstellten und zu Fuß dem Damm in Richtung Ortskern folgten. Eine schmale Zugbrücke aus weißem Holz führte
über die Schleuse, die die Gracht aus dem Ort mit dem Ijsselmeer verband. Direkt neben der Brücke stand etwas tiefer das alte Schleusenwärterhaus aus gelben Backsteinen, auf dessen Dach ein kleiner Uhrenturm thronte. An der Stirnseite des Hauses gab es auf Straßenniveau eine überdachte Veranda, die im Volksmund leugenbank
– Lügenbank – genannt wurde. Von hier reichte die Sicht weit über das Meer, und bei gutem Wetter verging kein Tag, an dem nicht die Einheimischen auf der Bank saßen und, eine Pfeife oder selbst gedrehte Zigarette im Mund, Seemannsgarn spannen und die Hafenmanöver der Segler kommentierten. Heute gab es allerdings nichts zu sehen. So weit das Auge reichte, war das Ijsselmeer zugefroren. Lediglich eine schmale Fahrrinne, die offen gehalten wurde, führte hinaus auf das Meer, wo der Wind den Schnee in lichten Wolken vor sich hertrieb.
Griet und Pieter bogen links auf die Kalverstraat
ab, ein Gässchen, in dem die Häuser so dicht beieinanderstanden, dass man den Eindruck hatte, zwei fietsers
würden mit ihren Fahrrädern kaum aneinander vorbei passen. Sie überquerten eine kleine Fußgängerbrücke, die über eine Gracht führte und Einblick in die Gärten hinter den Häusern gab, deren Terrassen und Wiesen mit Schnee bedeckt waren. In manchen standen aufgebockte Boote, die aus dem Wasser geholt worden waren. In der vereisten Gracht lagen nur einige Schaluppen, die schon so verfallen waren, dass ihre Besitzer wohl darauf warteten, dass das Eis den Rest besorgte. Sie bogen schließlich in die Stichstraße Kleine Weide
ab und kamen zu einem niedrigen Wohnhaus, vor dessen Tür eine Kreidetafel mit der Aufschrift stand: Het Eerste Friese Schaatsmuseum,
das erste friesische Schlittschuhmuseum.
Wiebeke Hilberts arbeitete hier. Die Frau hatte Pieter bereits am Telefon erzählt, dass sie gebürtig aus Hindeloopen stammte. Nachdem ihr Mann vor vielen Jahren in Rente gegangen war, hatten sie
Leeuwarden verlassen und waren wieder hierhergezogen. Mart hatte die Stadt zwar geliebt, doch er hatte sich auch mit dem kleinen Ort anfreunden können, schließlich gehörte Hindeloopen als eine der elf friesischen Städte zur Strecke des Elfstedentocht, und Mart hatte ihn diverse Male auf Schlittschuhen passiert.
Griet und Pieter betraten das Museum und entdeckten Wiebeke Hilberts im Elfstenzaal,
jenem Raum der Ausstellung, der sich mit dem berühmten Rennen befasste. Wiebeke war mit Hammer und Nägeln damit beschäftigt, Bilderrahmen mit alten Zeitungsausschnitten aufzuhängen. Die Presseschnipsel zeigten Überschriften, die in fetten Lettern die Worte wiedergaben, mit denen der jeweils amtierende Vorsitzende der Elfsteden-Kommission einen Elfstedentocht angekündigt hatte. It giet oan!,
hatte Henk Kroes 1997 verlauten lassen, und sein Vorgänger Jan Sipkema sagte 1985 feierlich: It sil heve!
Wie Pieter Griet erklärte, handelte es sich bei beidem um friesische Umschreibungen für ein und dieselbe profane Tatsache: Der Elfstedentocht würde stattfinden.
Wiebeke Hilberts war eine Frau, mit der es das Alter gut gemeint hatte. Sie wirkte eher wie Ende fünfzig als Ende sechzig. Die grauen Haare hatte sie strubbelig kurz geschnitten, ihre Figur wirkte trainiert, und die Augen versprühten Lebensfreude. Sie lud Griet und Pieter zu einem kleinen Rundgang durch den Elfstedenzaal
ein und führte sie herum.
Diverse alte Fotos und Filme erzählten die Geschichte des Rennens. Den Gewinnern war jeweils eine eigene Vitrine gewidmet, in der Schlittschuhe, Kleidung oder andere Gegenstände aus ihrem Besitz ausgestellt waren – wie zum Beispiel die Schlittschuhe von Evert van Benthem, der 1985 und 1986 gleich zweimal nacheinander den Elfstedentocht gewonnen hatte, wie Wiebeke erklärte.
Sie blieben schließlich vor einer länglichen Käseglocke stehen, unter deren Glas auf einem schwarzen Holzteller ein bräunliches
Gebilde lag. Erst als Griet näher heranging, erkannte sie, worum es sich handelte. Aus Ekel wich sie unwillkürlich wieder ein Stück zurück. »Ist das ein Fußnagel?«
Wiebke nickte. »Das ist der Zeh von Tinus Udding. Der ist ihm beim tocht
von 1963 abgefroren. Damals war natürlich noch ein Stück Fleisch vorhanden, aber mit der Zeit sind nur noch der Nagel und etwas Haut übrig geblieben.«
Griet blickte zu Pieter, dem das ungewöhnliche Exponat offenbar ebenfalls die Sprache verschlagen hatte. Wiebeke schien ihr Unbehagen zu bemerken und deutete auf die beiden Bilderrahmen, die an der Wand hinter dem Zeh hingen.
»Vielleicht unser wertvollstes Stück«, sagte sie und wies auf das angegilbte Stück Pappe hinter dem Glas des oberen Rahmens. »Die Stempelkarte von Koning
Willem Alexander. Er lief 1986 den tocht,
allerdings unter dem Namen W.A. van Buren.«
Griet betrachtete die Karte, auf der einige Stempel mit Ortsnamen und Uhrzeiten zu sehen waren.
Wiebeke deutete auf den unteren Bilderrahmen, in dem ein Dutzend ähnlicher Karten hingen. »Die haben wir aus aktuellem Anlass in die Ausstellung aufgenommen. Es sind die Stempelkarten von allen Mitgliedern des aktuellen Elfsteden-Komitees, die selbst einmal am tocht
teilgenommen haben.«
»Was bedeuten die Angaben auf den Karten?«, erkundigte sich Griet.
»Es gibt einen Kontrollposten in jedem Ort, den die Läufer passieren«, erklärte Wiebeke. »Dort müssen sie ihre Teilnehmerkarte abstempeln lassen. Ort und Uhrzeit werden vermerkt. Im Ziel müssen die Läufer eine vollständige Stempelkarte vorzeigen. So ist es ausgeschlossen, dass jemand mogelt und eine Abkürzung nimmt.«
»Ist so etwas denn schon mal geschehen?«, fragte Griet.
»Ja, 1947 zum Beispiel«, fuhr Wiebeke fort. »Nach dem Rennen
stellte sich heraus, dass diverse Teilnehmer sich vom Eis geschlichen und ganze Teilabschnitte auf Bauernkarren und Fahrrädern zurückgelegt hatten oder sich gar per Anhalter von Autos mitnehmen ließen. Einige wenige hatten sogar ihre eigenen Wagen an der Strecke bereitgestellt. Die gesamten Top vier wurden damals disqualifiziert. Jan van der Hoorn, der eigentlich als Fünfter im Ziel gewesen war, wurde zum Sieger erklärt.«
»Wobei nicht alle absichtlich mogelten«, warf Pieter ein. »Einige hatten sich einfach verlaufen und von Ortskundigen wieder zur Strecke fahren lassen.«
»Das stimmt. Du scheinst dich gut auszukennen.« Wiebeke lächelte. »Bei schlechter Sicht kommt es schon mal vor, dass jemand die Orientierung verliert. Allerdings gelten auch dann die Regeln. Wer das Eis verlässt und ein Hilfsmittel besteigt, wird disqualifiziert.«
Griet war sich ziemlich sicher, dass der historische Exkurs zum Elfstedentocht noch den ganzen Tag weitergehen könnte und Pieter seine helle Freude daran gehabt hätte. Doch deshalb waren sie nicht hier.
»Wiebeke«, sagte sie, »Jessica Jonker hat einige Male mit deinem Mann gesprochen und euch besucht. Dabei ging es um die Suche nach seinem Freund Edwin?«
»Richtig. Mart hoffte, dass Jessica den Jungen vielleicht finden würde.«
»Ich habe die Geschichte verfolgt«, sagte Pieter. »Und ich habe mich immer gefragt, warum Mart erst jetzt nach dem Jungen suchte. Ich meine … es ist über zwanzig Jahre her, dass sie den tocht
gemeinsam gelaufen sind.«
Wiebeke machte ein verlegenes Gesicht. »Ich fürchte, die Sache war … ein wunder Punkt in Marts Leben.«
»Warum?«
»Ich glaube, es hat immer an seiner Ehre gekratzt, dass er die Hilfe
des Jungen in Anspruch nehmen musste. Ohne ihn hätte er es nicht geschafft, hat er mir mal gesagt. Deshalb hatte er darüber nicht gern gesprochen.«
»Und nun wollte er den Jungen plötzlich wiedersehen. Warum?«, fragte Pieter.
»Weißt du, wenn du an Krebs stirbst, hat das zumindest einen Vorteil … du kannst dich in Ruhe verabschieden.« Wiebeke fuhr sich durch die kurzen Haare. »Mart wollte irgendwie mit allem abschließen und auch mit dieser Sache für sich ins Reine kommen. Deshalb suchte er nach Edwin. Aber er kannte ja nicht mal den Nachnamen des Jungen. Also nahm er Kontakt mit der Zeitung auf. Und die waren natürlich von der Geschichte begeistert.«
»Das bedeutet, die Geschichte ist tatsächlich erst vor Kurzem an die Öffentlichkeit gekommen?«, wollte Griet wissen.
»Ja.«
»Wann hat Mart zuletzt mit Jessica gesprochen?«
»Ich weiß es nicht genau«, meinte Wiebeke. »Mart war kein Unbekannter hier in Fryslân
. Wir hatten viel Besuch in den Wochen vor seinem Tod. Die Leute kamen, um Abschied zu nehmen. Henk Angenent war hier, der Sieger von 1997, der Bürgermeister, einige Vertreter der Elfsteden-Kommission, Freunde, Familie und Nachbarn … Ich verlor ein wenig den Überblick. Jessica war auch da, und ich glaube … sie rief später noch einmal an. Da war Mart schon schwach, also sprach ich mit ihr.«
»Worum ging es?«
»Um den Jungen. Sie hatte ihn gefunden …«
»Was?« Griet bemerkte Pieters ungläubigen Blick, als er erwiderte: »Es hieß doch, dass die Suche ins Leere lief …«
»Ich kann es nicht genau sagen.« Wiebeke hob entschuldigend die Hände. »Jessica nannte einen Namen und meinte, sie wisse endlich, wer der Junge sei. Doch dann … hörte ich nichts mehr von ihr. Mart
starb. Und wenig später war auch sie tot.«
»Sie gab dir den vollständigen Namen?«, fragte Griet.
Wiebeke nickte. »Ja.«
Griet zog ihr Notizbuch aus der Jackentasche.