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Der Mann, den es zweimal gab
I
n den Räumen der Districtsrecherche
herrschte geschäftiges Treiben, als Griet zurückkam. Die Kollegen hatten sich in der Mitte des Großraumbüros um eine aufstellbare Magnettafel versammelt, die vor der Glasfront von Wim Wouters’ Büro platziert war. Eine Karte mit dem Streckenverlauf des Elfstedentocht war darauf befestigt. Wouters und der junge Kollege, der vor wenigen Tagen die Großübung geleitet hatte, erklärten Details zum Ablauf des möglichen Großeinsatzes. Soviel Griet aus den wenigen Sätzen ableiten konnte, die sie im Vorbeigehen aufschnappte, ging es darum, wie man die Leute vom Eis schaffte, sollte das Rennen wetterbedingt abgebrochen werden müssen.
Cornelis Hasselbeek, der Polizeichef, wohnte der Versammlung ebenfalls bei. Er lehnte, in einen dunkelblauen Maßanzug gekleidet, an einem Aktenschrank und folgte den Ausführungen aufmerksam.
Griet hatte bislang noch nicht persönlich mit ihm zu tun gehabt und wusste nur, was sich die Kollegen über ihn erzählten. Sie hatten ihm den Spitznamen Captain Picard
verpasst, nach dem gleichnamigen Kommandanten der Enterprise aus Star Trek
. Einerseits war dies ganz offensichtlich seinem Äußeren geschuldet. Hasselbeek hatte wie sein fiktionales Ebenbild eine Glatze und einen schlanken, athletischen Körperbau. Andererseits lag es aber wohl auch an der Art, wie er mit seinen Mitarbeitern umging. Er stand in dem Ruf, immer ein offenes Ohr zu haben und mit guten Ratschlägen zu Lösungen beizutragen. Kurz, der Mann war offenbar das genaue Gegenteil von Wim Wouters.
Hasselbeek hatte sie bemerkt, löste sich von dem Schrank und folgte ihr. »Griet«, sagte er, »auf ein Wort.«
Er deutete auf die Teeküche, in der sich gerade niemand aufhielt. Griet ging hinein, und Hasselbeek schloss die Tür hinter sich.
»Der Fall Jonker …«, begann er.
»Ich weiß«, sagte Griet. »Wim hat mit mir geredet. Wir arbeiten, so schnell es geht. Aber ich bin mir sicher, dass es kein Unglück war.«
Hasselbeek schloss kurz die Augen, setzte ein Lächeln auf und hob beruhigend die Hände. »Ich fürchte, der liebe Kollege ist mal wieder über das Ziel hinausgeschossen. Ich weiß, was ihr drei gerade leistet, und es tut mir leid, dass wir euch keine Unterstützung zukommen lassen können. Aber dir ist ja klar …«
»Ja«, unterbrach Griet ihn, »der Elfstedentocht.«
»Ich konnte den ganzen Trubel um dieses Rennen persönlich noch nie nachvollziehen«, sagte Hasselbeek. »Aber da müssen wir jetzt wohl durch. Die Sache ist die, heute Morgen …«
»Die Presse, ich weiß. Ich habe den Artikel im Leeuwarder Dagblad gelesen.«
»Was die schreiben, lässt mich ziemlich kalt. Ich gebe später eine Mitteilung raus, in der wir die Sache erst mal wieder runterkochen. Es geht um etwas anderes.« Er blickte Griet ernst an. »Der Bürgermeister hat mich vorhin angerufen. Suzanne van Dijk, seine Pressesprecherin, hat ihm von eurem Besuch im stadhuis
erzählt. Ich kam nicht umhin, ihn … über ein paar Details in Kenntnis zu setzen. Und nun möchte er die Angelegenheit schnellstmöglich geklärt wissen.«
»In Ordnung«, sagte Griet. »Wir hängen uns rein.«
Wenn der Bürgermeister dem Polizeichef auf den Füßen stand, bedeutete das nichts anderes, als dass nun Druck auf dem Kessel war.
»Dennoch sind wir der Wahrheit verpflichtet«, sagte Hasselbeek. »Wenn es kein Unfall war, will ich wissen, was wirklich geschehen ist.«
Bevor Hasselbeek die Tür öffnete, schenkte er ihr ein
anerkennendes Lächeln und blickte Griet dabei für ihr Gefühl einen Moment zu lange in die Augen. Dann ging er mit federnden Schritten zu der Versammlung zurück.
Griet blieb noch einen Augenblick in der Teeküche stehen und dachte über das Gespräch nach. Im Grunde hatte Hasselbeek ihr gerade nicht viel Neues erzählt – wie Wouters vorhin. Nur dass er es auf eine charmante Weise getan und ihr dabei den Rücken gestärkt hatte.
Sie spürte ein Kribbeln in der Magengegend, und während sie ihrem Chef nachblickte, kam sie nicht um die Feststellung umhin, dass der Schneider seines Anzugs ganze Arbeit geleistet hatte. Vor allem die Proportion des Hosenbodens war ihm äußerst gut gelungen. Mit einem Schmunzeln machte Griet sich auf den Weg zu ihrem Büro.
Pieter stand hinter der Trennwand von Noemis Arbeitsplatz und blickte der jungen Kollegin über die Schulter, während sie am Computer arbeitete. Er winkte Griet heran, als er sie kommen sah.
»Was gibt es?«, fragte sie.
»Edwin Mulder«, sagte Noemi. »Wir skypen gleich mit ihm.«
»Du hast ihn gefunden?«
»War nicht schwierig. Ich hab mir von der Elfsteden-Kommission die Starterliste von 1997 besorgt. Da taucht nur ein Edwin Mulder auf. Seine Nummer steht im Telefonbuch.«
»Hier in Leeuwarden?«
»Jawell
.«
Griet konnte kaum glauben, dass es so einfach gewesen war. »Dann muss Jessica ihn auch gefunden haben. Aber warum schrieb sie nicht darüber?«
»Werden wir gleich erfahren«, erklärte Pieter. »Wir haben eben kurz mit ihm telefoniert. Und, na ja … das wenige, was er erzählt hat, genügte schon, dass ich ihm am liebsten gleich einen Besuch abgestattet hätte.«
»Und ich dachte, die Zeit sparen wir uns«, schob Noemi ungeduldig dazwischen. »Wozu gibt es digitale Kommunikation?«
Pieter verdrehte die Augen. »Ein Videotelefonat ersetzt nicht den persönlichen Kontakt. Wenn ich jemandem Auge in Auge gegenübersitze, spüre ich die zwischenmenschlichen Schwingungen. Auf einem Monitor …«
»In welchem Jahrhundert lebst du eigentlich?« Noemi schüttelte den Kopf.
Griet hob beschwichtigend die Hände. »Mensen
– Leute, ist doch jetzt egal …«
Das typische Skypeklingeln verkündete einen eingehenden Anruf auf Noemis Computer. Griet ging um die Trennwand herum, während Noemi das Gespräch annahm.
»Goede middag«,
grüßte der Mann, dessen Gesicht auf dem Monitor erschien. Griet realisierte sofort, was hier nicht stimmte, und verstand, warum Pieter Edwin Mulder von Angesicht zu Angesicht hatte sehen wollen.
Der Mann, der in die Webcam seines Rechners blickte, war alt. Und zwar so alt, dass er beim Elfstedentocht von 1997 niemals achtzehn oder neunzehn gewesen sein konnte – dem Alter von Edwin – nach Angaben von Wiebeke Hilberts –, als er mit ihrem Mann das Rennen lief. Jener Edwin hätte heute um die vierzig sein müssen. Doch Griet schätzte den Mann auf Anfang siebzig, was bedeutete, dass er 1997 etwa fünfzig Jahre alt gewesen war.
»Meneer
Mulder«, begann Pieter das Gespräch. »Meine Kollegin Noemi Boogard und mich kennen Sie ja bereits. Das hier neben mir ist Commissaris
Griet Gerritsen. Sie leitet die Ermittlungen.«
Pieter sprach mit erhobener Stimme und überdeutlich, als müsse er sich mit einem Schwerhörigen verständigen.
»Das Mikrofon Ihres Computers funktioniert sehr gut«, kam es prompt von Mulder zurück. »Sie brauchen nicht so laut zu reden.«
»Ja, in Ordnung. Würden Sie für Commissaris
Gerritsen noch einmal wiederholen, was Sie uns erzählt haben?«, bat Pieter, diesmal leiser.
»Natürlich«, sagte Mulder. »Ich erklärte Ihren Kollegen dasselbe, was ich auch mevrouw
Jonker gesagt habe. Nämlich dass ich nicht derjenige bin, den Sie suchen.«
Griet stützte sich mit einer Hand auf den Schreibtisch, mit der anderen umfasste sie die Rückenlehne von Noemis Bürostuhl und blickte in die Kamera, um dem Mann das Gefühl zu geben, dass sie direkt zu ihm sprach. Dabei war es so gut wie unmöglich, aus dem Augenwinkel seine Reaktion auf dem Monitor zu sehen, was bei der Einschätzung, ob er die Wahrheit sagte, recht hilfreich gewesen wäre. Sie musste Pieter in Gedanken recht geben, es hatte doch Vorteile, persönlich mit seinem Gesprächspartner zu reden.
»Dann hatten Sie Kontakt mit mevrouw
Jonker«, stellte sie fest. »
Wann war das?«
»Vor drei Wochen. Sie hat mich besucht.«
»Die Initiative ging von ihr aus?«
»Wie meinen Sie das?«
»Mevrouw
Jonker meldete sich bei Ihnen, nicht umgekehrt?«, präzisierte Griet.
»Genau. Sie rief mich an.« Der Mann räusperte sich, und ein überlautes Knacken drang aus den Lautsprechern.
»Wie hatte mevrouw
Jonker Sie gefunden?«
»Offenbar hatte sie sich alle Männer mit dem Namen Edwin aus der Starterliste von 1997 herausgesucht und sie abtelefoniert.«
»Aber wussten Sie denn nicht, dass mevrouw
Jonker und Mart Hilberts nach Ihnen suchten?«
»Da ich zu der aussterbenden Gattung der Tageszeitungsleser gehöre, konnte ich das kaum übersehen.«
»Warum haben Sie sich dann nicht gemeldet?«
»Ganz einfach«, erwiderte der Mann. »Ich bin, wie gesagt, nicht derjenige, nach dem die beiden suchten. Ich habe Mart Hilberts noch nie gesehen.«
»Aber Sie sind den tocht
von 1997 gelaufen?«
»Ich war am Start, ja, aber …«
Die Verbindung brach ab.
»Potverdikkie!«,
schimpfte Pieter.
»Ruhe bewahren, das haben wir gleich«, sagte Noemi und machte sich daran, die Verbindung wiederherzustellen.
Griet wandte sich an Pieter. »Das ergibt doch keinen Sinn. Er ist das Rennen von 1997 gelaufen. Kennt Mart Hilberts aber angeblich nicht. Das alles erzählt er auch Jessica, als sie ihn anruft. Die sagt aber Wiebeke Hilberts, dass sie den Jungen gefunden hat …«
»Leute, es geht wieder los«, erklärte Noemi.
Auf dem Monitor erschien erneut das Bild von Edwin Mulder, zunächst stumm, doch nach wenigen Sekunden war auch der Ton wieder da. Der Mann hielt nun einen dicken, rot-weiß gescheckten Kater auf dem Schoß, der sich an ihn schmiegte. »Excuses
– Entschuldigung, Rasputin ist über die Tastatur gelaufen.«
»Kein Problem«, sagte Griet. »Meneer
Mulder, wir verstehen noch nicht ganz …«
»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche«, erwiderte er. »Aber ich glaube, wir können die Sache abkürzen, indem ich Ihnen einfach meine Geschichte erzähle. So habe ich es auch mit mevrouw
Jonker gemacht.«
»Wir sind ganz Ohr«, sagte Pieter.
»Ich war 1997 am Start. Sie wissen ja vielleicht, wie es da zugeht«, berichtete er. »Es ist ein einziges Geschubse und Gedränge. Jedenfalls rempelte mich jemand um. Ich ging zu Boden, fiel ziemlich unglücklich auf den Arm. Es tat höllisch weh … und ich ging ins Sanitätszelt. Mein Arm war gebrochen. Tja, und damit hatte sich mein
Elfstedentocht erledigt.«
»Nur, dass wir uns richtig verstehen«, sagte Griet. »Sie brachen das Rennen direkt nach dem Start ab und nahmen es auch nicht wieder auf.«
»So war es.« Auf dem Bildschirm sprang der Kater von Mulders Schoß, und der Mann rückte wieder näher an die Kamera heran. »Tja, ich lag also auf einem Feldbett, während andere das Rennen ihres Lebens liefen. Und dann war da plötzlich dieser junge Kerl. Er konnte nicht älter als fünfzehn oder sechzehn gewesen sein. Mir war klar, worauf er aus war. Ich hatte davon gehört, dass sie so etwas tun …«
»Dass sie was tun?«, fragte Griet.
»Das Mindestalter für die Teilnahme am Elfstedentocht war auch damals achtzehn Jahre, und es konnte nur starten, wer Mitglied in der Koninklijke Vereniging de Friesche Elf Steden
war.
Diese Bedingungen versuchten natürlich manche zu umgehen. Man wusste, dass sich nicht wenige Teilnehmer bereits in der Frühphase des Rennens verletzten und in einem der Sanitätszelte landeten. Und … tja, dort trieben sich dann Leute ohne Startgenehmigung rum, auch Minderjährige. Sie hofften, dass sie jemanden fanden, der ihnen seine Starterkarte abtrat, weil er selbst nicht mehr mitlaufen konnte.«
»Das heißt, Sie gaben dem Jungen Ihre Stempelkarte?«
»Das tat ich«, sagte Mulder. »Der Junge bettelte darum. Er erzählte mir, dass er auf diesen Tag hin trainiert hatte. Er dachte, es wäre vielleicht für lange Zeit die letzte Chance … Sie wissen schon, wegen der Klimaerwärmung und so. Damit hatte er rückblickend ja auch recht. Tja, ich schaute mir den Burschen an, ich wollte ihn ja nicht ins Verderben rennen lassen. Aber er wirkte verdammt fit und kräftig. Er konnte es schaffen. Also gab ich ihm meine Karte.«
»Konnte er denn so ohne Weiteres in das Rennen einsteigen?«, fragte Griet. »Es gab doch Kontrollen?«
Der Mann auf dem Bildschirm lächelte. »Das war ja das Geniale an
der Sache, eine kleine Lücke im System. Ich hatte bereits den Stempel vom Start auf der Karte. Die nächste Kontrolle kam erst bei Sneek. Der Junge musste sich nur irgendwo aufs Eis schleichen und loslaufen. Sie können bei einem Natureisrennen ja nicht die gesamte Strecke einzäunen.«
»Und was ist mit den Kontrollposten, wo er die Karte abstempeln lassen musste?«, fragte Griet.
»Sie haben’s nicht so mit dem Elfstedentocht, oder, Commissaris?
« Edwin Mulder zog die Stirn kraus. »An den Stempelposten ist der Teufel los. Da kommen im Sekundentakt neue Läufer reingerauscht, während die vorigen gerade ihre Karten stempeln lassen und andere schon wieder loslaufen. Das ist wie im Taubenschlag! Da kommt nun wirklich keiner auf die Idee, sich den Personalausweis zeigen zu lassen …«
Griet dachte einen Augenblick nach. Was Mulder erzählte, klang plausibel. »Und das alles sagten Sie auch mevrouw
Jonker?«
»Ja.«
»Hatten Sie danach noch einmal Kontakt mit ihr?«
»Nein.«
»Und mit Mart Hilberts oder seiner Frau haben Sie ebenfalls nicht gesprochen.«
»Nein.«
»Meneer
Mulder … vielen Dank für das Gespräch.«
»Sehr gern«, sagte er. »Melden Sie sich, falls Sie noch Fragen haben.«
Noemi trennte die Verbindung.
»Dann ist also jemand anderes unter dem Namen Edwin Mulder den Elfstedentocht mit Mart Hilberts gelaufen«, fasste Pieter die Quintessenz der Unterhaltung zusammen.
»Sieht ganz so aus.« Griet blickte nachdenklich über die Trennwand des Abteils zu den Kollegen hinüber, die noch immer vor der
Magnettafel mit der Strecke des Elfstedentocht versammelt standen. Insgeheim kam sie nicht umhin, dem Jungen Respekt zu zollen, der die Identität von Edwin Mulder angenommen hatte. Im jugendlichen Alter eine solche Monstertour zu überstehen, das war ein Husarenstück. Sie konnte sich in etwa vorstellen, was Jessica Jonker gedacht haben musste, als Mulder ihr das alles erzählte: Diese Geschichte war noch viel aufregender als die ursprüngliche. Umso seltsamer, dass Jessica sie nicht publik gemacht hatte.
»Und wohin bringt uns das jetzt?«, fragte Noemi.
»Dorthin, wo auch Jessica nach ihrem Gespräch mit Edwin Mulder stand«, sagte Griet und blickte Noemi und Pieter an. »An ihrer Stelle wäre ich jetzt noch entschlossener gewesen, den wahren Edwin ausfindig zu machen.«