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Heiße Ware I
A
m frühen Abend saß Griet mit Fenja im Salon des Plattboots und aß zu Abend. Durch die Deckluken sah sie über ihnen die Schneeflocken auf das Deck fallen. Die Erfahrungen, die sie am heutigen Nachmittag gemacht hatte, hatten sie wieder daran erinnert, was sie an Kindern nicht mochte und warum ihr das Familienleben so gegen den Strich gegangen war.
Eine Stunde nach dem Telefonat mit Edwin Mulder hatte sie das politiehoofdkantoor
verlassen und Fenja abgeholt. Ihr schlechtes Gewissen hatte sie dazu getrieben, und natürlich auch die nagende Frage, inwieweit sie Pieter noch trauen konnte. Dann war sie mit Fenja zum Natuurmuseum
in der Schoenmakersperk
gefahren.
Es machte seinem Ruf als kinderfreundliche Einrichtung alle Ehre. Fenjas Begeisterung kannte keine Grenzen. Die von Griet hingegen schon.
Es wimmelte dort nur so vor Erwachsenen, die mit ihrem Nachwuchs durch die Ausstellung wanderten und eine derart gute Laune versprühten, dass Griet sich fragte, ob diese Menschen einfach nur talentierte Schauspieler waren oder ob sie tatsächlich Vergnügen an Dingen fanden, die aus ihrer Sicht allenfalls dazu angetan waren, kleine Kinder zu unterhalten. Sie lief wie ferngesteuert hinter Fenja durch die Räume, während sie in Gedanken woanders war.
Ein Teil der Ausstellung zeigte ausgestopfte Tiere, und man konnte einem Präparator bei der Arbeit zusehen. Der Mann trug einen weißen Kittel und weidete mit seinen filigranen Werkzeugen gerade ein
Rotkehlchen aus. Während Fenja gleichermaßen angeekelt wie interessiert zusah, musste Griet an Mei Nakamura und die diversen Autopsien denken, denen sie beigewohnt hatte.
Der weitere Weg führte sie durch das Raritätenkabinett eines fiktiven friesischen Kapitäns namens Severein, der allerhand Mitbringsel von seinen Weltreisen versammelt hatte. Die Bezeichnung Gruselkabinett wäre passender gewesen, dachte Griet. Neben antikem Klimbim und ausgestopften Tieren hatte der Kapitän auch zahlreiche Einmachgläser von seinen Exkursionen mitgebracht, in denen Tierföten, kleinere Affen oder auch mal ein einzelnes Auge schwammen. Fenja fand den Anblick zumindest irritierend, und Griet schob sie rasch in den nächsten Raum weiter, wobei ihr durch den Kopf ging, dass es in der realen Welt tatsächlich abartige Zeitgenossen gab, die ähnliche Sammlungen unterhielten, allerdings mit den Körperteilen ihrer Opfer.
Bei Swim Fish Swim
kam es zu einem kleinen Zwischenfall. Es handelte sich bei der Attraktion um einen dreidimensionalen Flug mit einem Tauchhelikopter unter dem afsluitdijk
hindurch, genauer gesagt, durch eine Schleuse in dem Deich, der das Ijsselmeer von der Nordsee trennte, die man eigens eingebaut hatte, um die natürliche Fischwanderung nicht zu unterbinden. Man nahm dazu in einer nachgebauten Helikopterkanzel Platz und setzte eine Oculus-3-D-Brille auf. Eine technische Spielerei, die Kinder naturgemäß magisch anzog, weshalb sich nicht gerade wenige von ihnen um das Gerät scharten. Die meisten Eltern schienen sich eher für nüchterne Schautafeln über die Fauna der friesischen Seen zu interessieren, die ein Zimmer weiter ausgestellt waren. Griet fand sich jedenfalls als einzige Erwachsene in einem Pulk lärmender Kinder wieder. Es ging nicht voran, da drei Jungen den Simulator blockierten und den 3-D-Flug zweimal hintereinander absolvierten. Die freundliche Ermahnung einer Museumsmitarbeiterin ignorierten sie und schickten sich an, zum
Unmut aller anderen eine dritte Runde zu drehen. Griet fühlte sich in diesem Moment in ihrem Verdacht bestätigt, dass die Welt voller kleiner klootzakken
– Arschlöcher – war, die nur zu großen klootzakken
heranwuchsen. Sie ging zu den drei kleinen klootzakken
hinüber, zückte ihren Dienstausweis und sagte, sie mögen schleunigst Leine ziehen, wenn sie keinen Ärger wollten. Das machte Eindruck auf die drei und gefiel den anderen Kindern.
Den anschließenden Tauchflug genossen Fenja und Griet gleichermaßen. Die 3-D-Technik faszinierte Griet, und sie malte sich aus, welche Möglichkeiten sich in Zukunft mit virtuellen Einsatzübungen auftaten. Für die Übung einer Großlage wie dem Einsatztraining zum Elfstedentocht würde man kein Heer von Kollegen als Komparsen mehr beschäftigen müssen, sondern konnte jedwede Situation digital nachbilden.
Das Ende des Museumsbesuchs markierte die OnderWaterSafari,
bei der man die Wasserwelt von Friesland zu allen vier Jahreszeiten von unten bestaunen konnte. Die Museumsleute hatten sich große Mühe gegeben, die Unterwasserfauna mit ihren zahlreichen Fischen, Bibern, Seehunden und Wasserpflanzen nachzubilden. Das Ganze erinnerte Griet an die Besuche im Efteling
mit ihrem Vater. Sie waren in ihrer Kindheit oft dorthin gefahren, wenn ein wenig Geld übrig gewesen war. Griet hatte sich immer prächtig amüsiert, ihr Vater weniger, was sie damals nie verstanden hatte. Als sie nun mit Fenja in einem ruckeligen Karren durch die OnderWaterSafari
rollte, begriff sie es endlich. Für die kindliche Fantasie war die Illusion perfekt, Erwachsene aber schauten hinter die Kulissen, sahen die Tricks und die Technik, die am Werk waren.
Spätestens an der Stelle, wo sie unter einer künstlichen Eisdecke entlangfuhren, in der ein Loch klaffte, durch das ein Taucher hinabschwamm, waren Griets Gedanken wieder vollends bei Jessica Jonker und der dünnen Eisdecke in Sloten, durch die sie in den Tod
gestürzt war. Sie dachte an die Brüder Ewerts und Stijn de Leeuw, Mart Hilberts und Edwin und an Rob Hoekstra und ihren Kollegen Pieter. Allzu gern hätte sie in ihre Tasche gegriffen und die Akte eingesehen, die sich darin befand. Bevor sie das Präsidium verlassen hatte, hatte sie sich die Ergebnisse der Ermittlungen zum Kunstraub von 2009 ausgedruckt, von dem Joop ihr erzählt hatte.
Auf dem Heimweg besorgten sie sich zwei Portionen shawarma
– die arabische Version von Grillfleisch in gerolltem Fladenbrot –, wobei Griet die vegane Variante wählte. Außerdem kaufte sie Fenja ein Comicheft, damit sie am Abend beschäftigt war, wenn sie sich in Ruhe die Fallakte ansehen wollte. Griet hatte in Fenjas Alter Wonder Woman
geliebt, und ihre Hoffnung, dass ihre Tochter ebenfalls Gefallen daran finden würde, erfüllte sich. Fenja schaute sich mit großen Augen die bunten Bilder an, und Griet hatte ihre Ruhe.
Doch jetzt, da sie auf der Eckbank im Salon saßen, wollte Fenja von ihr wissen, was in den kleinen Sprechblasen geschrieben stand. Griet las ihr ein paar Seiten vor. Dann meinte sie: »Und jetzt versuchst du es allein. Ich muss noch etwas für die Arbeit lesen.«
»Das haben wir aber noch nicht gelernt …«
»Übung macht den Meister … ansonsten guckst du dir einfach weiter die Bilder an.«
»Und was musst du lesen, Mama?«
»Es geht … um einen Dieb, der Bilder aus einem Museum gestohlen hat.«
Fenja machte ein nachdenkliches Gesicht und schien abzuwägen, ob sich weiteres Nachfragen lohnte oder ob das Comic nicht doch interessanter war. Sie entschied sich für Letzteres und vertiefte sich wieder in das Heftchen.
Griet nahm sich die Akte vor. Sie enthielt neben Fotos vom Einbruchsort auch einige Aufnahmen der gestohlenen Gemälde, die für die Versicherung des Museums gemacht worden waren. Die Bilder
stammten von Klaas Veenstra, und Griet erkannte den Stil sofort wieder. Sie ähnelten auf frappierende Weise jenen, die sie in dem Atelier im Blokhuisport
gesehen hatte. Ob es sich um denselben Künstler handelte? Die Gemälde, die damals im Museum ausgestellt worden waren, hatten ebenfalls den Elfstedentocht zum Thema. Sie zeigten Eisläufer vor verschiedenen Kulissen, auf Grachten mit alten Häusern im Hintergrund, vor Windmühlen oder auf Kanälen in weitläufiger Landschaft.
Griet blätterte weiter und las den Bericht über den mutmaßlichen Tathergang, der mithilfe von Zeugenaussagen und der Spurensicherung rekonstruiert worden war.
Der Dieb war anscheinend durch ein Seitenfenster eingedrungen. Dieses war zwar alarmgesichert gewesen, allerdings hatte das gesamte Sicherheitssystem einen Blackout gehabt, sodass auch auf den Bändern der Videoüberwachung nichts zu sehen war. Der Sicherheitschef des Museums, ein Thijs de Boer, sagte, er habe die Anlage noch am Vorabend kontrolliert, bevor er das Gebäude nach Dienstschluss verließ. Die Nachtwache, ein externer Dienstleister, patrouillierte im Zweistundentakt. Der Einbruch ereignete sich genau zwischen zwei Kontrollrunden in der Zeit zwischen 01.00 Uhr und 03.00 Uhr. Aus der Sonderausstellung wurden lediglich die fünf Arbeiten von Klaas Veenstra entwendet.
Die Suche nach den Bildern blieb zunächst erfolglos. Die politie
installierte ein TGO
, ein team grootschalige opsporing,
das bei Kapitalverbrechen ermittelte und von Experten aus unterschiedlichen Bereichen gebildet wurde. Doch die Kollegen tappten im Dunkeln. Es blieb unklar, ob der Sicherheitschef des Museums oder der Securitydienst einfach geschlampt hatten oder ob jemand dem Dieb geholfen hatte. Die Erklärung, dass es sich bei dem Ausfall der Alarmanlage um einen Zufall handelte, glaubte jedenfalls niemand.
Nach gut zwei Wochen ergebnisloser Ermittlungen geschah dann das Überraschende. Die Bilder standen eines Morgens wohlbehalten und sorgfältig verpackt wieder vor dem Fries Museum
. Der Dieb hatte seine Beute in der Nacht retourniert, wobei er leider so schlau gewesen war, sich mittels dunkler Kleidung und Schirmmütze so unkenntlich zu machen, dass er auf den Aufnahmen der Überwachungsanlage nicht identifiziert werden konnte – zumal er offenbar genau Bescheid wusste, wo sich die Kameras befanden.
Die Ermittlungen wurden offiziell weitergeführt, doch da die Gemälde nun wieder da waren, hatte die Sache keine Priorität mehr. Nachdem etwas Zeit verstrichen war, landete der Fall bei den Akten.
Zurück blieb die Schlussbemerkung des Ermittlungsleiters, dessen Einschätzung Griet teilte: Der Dieb hatte versucht, die heiße Ware auf dem Schwarzmarkt loszuwerden, dabei aber keinen Erfolg gehabt. Nachdem die Angelegenheit Wellen geschlagen hatte, fand sich offensichtlich kein Abnehmer. Zudem hatte der Täter wohl erkennen müssen, dass die Gemälde von Klaas Veenstra nicht so wertvoll waren, wie er vielleicht aufgrund der Berichterstattung in der Presse angenommen hatte. Der Ermittlungsleiter schloss daraus, dass es sich bei dem Täter vermutlich um jemanden handelte, der im Kunstraub nicht sonderlich bewandert war, also auch nicht über die geeigneten Kontakte verfügte, heiße Ware loszuschlagen.
»Mama, ist das hier der Mann, der es geschrieben hat?«, fragte Fenja und tippte auf den Namen auf dem Titelbild des Comics.
»Ja«, antwortete Griet und sagte ihr, wie man den Namen ausspricht. Sie legte die Akte zur Seite und wollte das Geschirr und die leeren Verpackungen hinüber zur Spüle tragen, als sie innehielt. Der Mann, der es geschrieben hat.
Sie stellte alles wieder ab und nahm die Fallakte noch einmal zur Hand. Sie hatte einen wesentlichen Punkt übersehen, und das war nicht der Diebstahl selbst, sondern der Name des Ermittlungsleiters.
Noud Wolfs.
Griet erinnerte sich an ihn. Er war der ehemalige Kollege, der neulich versucht hatte, Pieter zu erreichen.
Griet blätterte zu der Stelle, an der die Namen der Beamten vermerkt waren, die Mitglied des TGO
gewesen waren und mit Wolfs in dem Kunstraub ermittelt hatten.
Ihr Zeigefinger fuhr die Liste von oben nach unten entlang, bis er bei jenem Namen verharrte, den sie gehofft hatte, nicht zu finden.
Pieter de Vries.