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Überraschende Erkenntnisse
S
ie hatte es nicht einfach nur vermasselt, sie hatte es richtig gründlich vermasselt. Die Nacht war kurz gewesen. Griet war mehrere Male von Fenja aus dem Schlaf gerissen worden. Zuletzt hatte ihre Tochter in den frühen Morgenstunden weinend neben ihr in der Koje gelegen und einen Albtraum gehabt – von einem schwarzen Mann, der sie verfolgte. Griet hatte sie tröstend in den Arm genommen. Als Fenja schließlich wieder eingeschlafen war, hatte Griet wach gelegen und sich selbst dazu beglückwünscht, dass sie die Arbeit wider besseres Wissen über das Wohl ihrer Tochter gestellt hatte.
Der Morgen hielt noch eine böse Überraschung parat. Als das erste Licht des Tages durch das Bullauge in die Koje fiel, gab Griet alle weiteren Schlafversuche auf. Sie schlich in den Salon und machte sich einen koffie
. Wenig später kletterte sie mit einer dampfenden Tasse in der Hand an Deck und kontrollierte ihre Lebensversicherung. Zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass der De-Icer den Dienst quittiert hatte – und das Eis sich bereits um das Boot schloss.
Sie zog das Gerät an den Halteseilen aus dem Wasser, betrachtete es von allen Seiten, konnte aber keine äußeren Schäden erkennen. Die Bedienungsanleitung, die sie daraufhin aus dem Verschlag unter der Sitzbank holte und konsultierte, brachte ebenfalls keine Erkenntnisse.
»Mama.« Fenja kam mit verschlafenem Blick aus der Koje. Im Arm hielt sie den großen Teddybären.
»Goedemorgen, schatteke
– guten Morgen, mein Schatz.
«
Fenja krabbelte zu ihr auf die Eckbank und schmiegte sich an sie.
»Hast du Hunger?«
Sie nickte. »Darf ich Cornflakes?«
»Klar.« Griet holte eine Schale aus dem Schapp oberhalb des Gasherds und füllte sie.
Während Fenja aß, wählte Griet auf dem mobieltje
die Nummer von Dutch Heat,
der Firma von Jeroen Brouwer, die den De-Icer hergestellt hatte. Nachdem sie zahlreiche Fragen einer automatischen Bandansage beantwortet hatte, wurde sie durchgestellt. Sie beschrieb der Frau am anderen Ende der Leitung das Problem, woraufhin diese sie zu einem Kollegen durchstellte, dem Griet das Problem erneut beschrieb. Der Mann erklärte ihr, dass ein Servicetechniker zu ihr kommen müsse. Er bot ihr einen Termin in zwei Monaten an.
»In zwei Monaten?
«, wiederholte Griet verblüfft. »Da ist der Winter vorbei. Ich brauche das Gerät jetzt.«
»Tut mir leid«, sagte der Mann. »Vorher geht es nicht.«
»Warum? Das ist ein Notfall. Mein Schiff liegt in der Noorderstadsgracht
. Und das Eis wird eher dicker als dünner. Schicken Sie bitte jemanden raus.«
»Das kann ich leider nicht. Ich übermittle den Auftrag gern an das Service-Unternehmen und notiere Ihren Wunsch nach einem vorgezogenen Termin, vielleicht …«
»Ihre Firma ist hier um die Ecke. Da kann es doch nicht so schwierig sein …«
»Verzeihen Sie, aber wir sind nicht in Leeuwarden, wir sind in Belgien.«
»Was?«
»Wir sind eine externe Hotline für Dutch Heat, und unser Firmensitz ist in Lüttich.«
Griet stutzte. Natürlich war es nicht ungewöhnlich, dass Firmen Telefondienste dieser Art auslagerten, doch bei einem mittelständischen Betrieb wie Dutch Heat,
der sein Geschäft in erster Linie regional in Fryslân
betrieb, hatte sie nicht damit gerechnet.
»Mag ja sein«, sagte sie. »Aber der technische Service ist doch hier in Leeuwarden?«
»Nein, die Firma regelt den technischen Service ebenfalls über einen externen Dienstleister.«
»Aha.«
»Soll ich nun den Termin in zwei Monaten für Sie festmachen?«
»Ja, tun Sie das«, bat Griet. »Und, sagen Sie, könnten Sie mir einen direkten Kontakt zu der Service-Firma geben?«
»Das ist leider nicht üblich.«
»Hören Sie, es ist mir egal, was üblich ist.« Griet drohte der Kragen zu platzen. »Ich habe hier ein echtes Problem. Geben Sie mir den Kontakt, dann kann ich die Dinge vielleicht beschleunigen.«
Ein Seufzen erklang am anderen Ende der Leitung.
»Versuchen Sie Ihr Glück. Der Name der Firma ist SystemCare, und die direkte Durchwahl lautet …«
Griet notierte sich die Telefonnummer, legte auf und wählte neu. Nach einer weiteren automatischen Bandansage landete sie bei einer Servicemitarbeiterin.
»Wir haben lange Vorläufe«, erklärte die Frau, »der nächste freie Termin ist tatsächlich erst in zwei Monaten.«
»Hören Sie, ich wohne auf einem Plattboot …«, versuchte Griet erneut, die Dringlichkeit klarzumachen.
»Tatsächlich?« Die Stimmlage der Frau ging in die Höhe. »Das muss ja ein Traum sein!«
»Na ja … ganz, wie man’s nimmt«, erwiderte Griet etwas irritiert über die plötzliche Euphorie.
»Das muss fantastisch sein. Im Sommer abends an Deck sitzen, den Sonnenuntergang mit einem Gläschen Wein …«
»Ja, die Sommer sind wirklich toll. Die Winter aber nicht. Ich kann mein Gläschen Wein bald auf dem Grund der Gracht trinken, wenn ich
den De-Icer nicht wieder zum Laufen bekomme.«
»Oh …« Tastaturgeklapper erklang. »Lassen Sie mich mal sehen, ob ich da nicht doch etwas für Sie regeln kann … hm … es könnte übermorgen jemand vorbeikommen.«
»Das wäre großartig. Vielen Dank.«
»Gern, falls Sie noch weitere Fragen haben …«
»Nein … das heißt, warten Sie … eines würde mich tatsächlich interessieren«, sagte Griet, einer spontanen Eingebung folgend. »Ist es üblich, dass Firmen den Service vollständig an externe Dienstleister wie Sie vergeben?«
»Inzwischen schon, ja. Unsere Firma erledigt den Service für verschiedene Marken und Anbieter im Bereich Wärmepumpen und Heizungstechnik.« Die Frau machte eine kurze Pause, und es klang so, als würde sie etwas trinken. »Unsere Auftraggeber kommen allerdings meist aus dem asiatischen Raum. Es sind Firmen, die alte europäische Marken und Labels aufgekauft haben, aber in Asien produzieren und hierzulande keine Dependance haben.«
»Verstehe, aber Dutch Heat ist doch ein hiesiges Unternehmen.«
»Ja, und die Produktion ist auch bei Ihnen in Leeuwarden. Es ist nur … also ich weiß nicht, wie ich das sagen soll.« Die Dame räusperte sich. »Wenn wir den Service für niederländische Kunden übernehmen, dann … handelt es sich meist um Unternehmen … deren Auftragslage es ihnen nicht mehr erlaubt, eine eigene Serviceabteilung zu unterhalten. Sie verstehen, was ich meine?«
»Durchaus«, sagte Griet. »Sie haben mir sehr geholfen.«
Sie beendete das Gespräch.
Unternehmen, deren Auftragslage es ihnen nicht mehr erlaubt, eine eigene Serviceabteilung zu unterhalten.
Das war eine sehr freundliche Umschreibung eines sehr unangenehmen Sachverhalts: Dutch Heat,
dem Unternehmen von Jeroen Brouwer, stand offenbar das Wasser bis zum Hals.
***
Eine halbe Stunde später stand Griet in der Küche von Nettie de Vries und nahm von ihr eine Tasse Tee entgegen. Die Vögel im Käfig auf dem Küchenschrank veranstalteten ein kleines Konzert, und Bianca, die Bernhardinerdame, scharwenzelte um Griets Beine herum. Fenja hatte von Nettie bereits eine warme Chocomel
bekommen und fütterte, zusammen mit Pieters Kindern, im Wohnzimmer die Fische im Aquarium. Griet hatte Pieter gerade noch mit dem Wagen wegfahren sehen, als sie angekommen waren.
»Nochmals vielen Dank, dass du dich um Fenja kümmerst«, sagte Griet.
»Gern, sie ist wirklich reizend«, erwiderte Nettie. »Ich wollte gleich mit den Kindern Schlittschuhlaufen gehen. Wär das okay für dich? Fenja kann ein altes Paar Schuhe von Suske haben.«
»Natürlich.«
Griet musterte Pieters Frau, während sie einen Schluck koffie
trank. Nettie trug selten Schmuck, und wenn, dann nur zu besonderen Anlässen. Heute allerdings hatte sie eine silberne Kette um den Hals, die Griet wegen ihrer ungewöhnlichen Form auffiel. Die einzelnen Glieder bestanden aus unterschiedlich großen Ringen, die alle ineinander verdreht waren.
»Ist die neu?«, fragte Griet mit Blick auf das Stück.
Nettie nahm die Kette zwischen Daumen und Zeigefinger. »Gefällt sie dir?«
»Ja, gefällt mir gut. Nicht zu aufdringlich, aber trotzdem elegant.«
»Das fand ich auch …«
»Ist es echtes Silber?«
»Ja.«
»Wo hast du sie gekauft?«
»Ich habe sie von Pieters Schwester …« Nettie sprach nicht weiter
und machte ein Gesicht, als wäre ihr etwas herausgerutscht, das sie nicht hätte sagen sollen.
Von einer Schwester hatte Pieter Griet gegenüber noch nie gesprochen. Es war die Macht der Gewohnheit, die Griet sofort nachhaken ließ. »Er hat Geschwister?«
Nettie rang mit sich, dann brachte sie heraus: »Eine Halbschwester.«
»Lebt sie hier in Leeuwarden?«
»Das … erzählt er dir besser selber.«
»Verstehe.«
Die Kinder kamen herein und fragten nach Süßigkeiten. Nettie erklärte ihnen, dass es so früh am Morgen allenfalls Obst gäbe, und damit war für Griet die Gelegenheit vorüber, mehr über Pieters überraschende Verwandtschaftsverhältnisse zu erfahren. Griet verabschiedete sich von Fenja und ließ sich von Nettie zur Tür bringen.
Als sie auf ihr fiets
stieg, meldete sich Noemi auf dem mobieltje
. »Was gibt es?«, fragte Griet.
»Es geht um Stijn de Leeuw«, sagte Noemi. »Ich weiß jetzt, warum er in Urk war … und es hatte nichts mit einer Recherche zu tun.«
Griet hörte sich an, was Noemi herausgefunden hatte, dann erkundigte sie sich: »Wo ist De Leeuw jetzt?«
»In der Redaktion.«
»Bestell ihn zur Befragung ein.« Griet überlegte einen Moment. »Und sag Pieter, er soll Toon Ewerts holen.«
»Mit welcher Begründung?«
»Er soll sich was einfallen lassen …« Sie blickte auf die Uhr. »Wir treffen uns in einer Stunde im politiehoofdkantoor
.«
Sie beendete das Gespräch und stieg auf ihr fiets.
Allerdings fuhr sie nicht auf direktem Weg ins Polizeipräsidium. Vorher wollte sie noch etwas anderes in Erfahrung bringen.