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Ein folgenschwerer Sturz
T oon Ewerts hielt die beiden Fotos in Händen, auf denen Stijn de Leeuw in sein Restaurant ging und es wenig später mit einer Aktentasche in der Hand wieder verließ. Er betrachtete die Bilder schweigend, dann legte er sie vor sich auf den Tisch und schob sie zu Griet hinüber. »Und was sollen mir diese Aufnahmen sagen?«
Griet saß mit Ewerts am Metalltisch des fensterlosen Vernehmungsraums im obersten Stockwerk des politiehoofdkantoors . Im benachbarten Zimmer führte Noemi zeitgleich ein Vorgespräch mit Stijn de Leeuw, und Pieter verfolgte das Ganze in einem separaten Raum auf dem Monitor.
Ohne Ewerts’ Frage zu beantworten, legte Griet die Fotos zusammen und schob sie zur Seite, wo ein weiterer Packen Bilder bereitlag. Dann sah sie Ewerts an und sagte: »Wir gehen davon aus, dass Jessica Jonker ermordet wurde.«
Ewerts’ Kopf zuckte ein Stück zurück, und ein überraschter Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Aber … es hieß doch, es sei ein Unfall gewesen?«
»Inzwischen haben wir anderweitige Erkenntnisse.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Das fragen wir uns auch, deshalb sind Sie hier«, sagte Griet. Sie stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände. »Ich möchte keine voreiligen Schlüsse ziehen und hatte gehofft, Sie können mir ein paar Erklärungen liefern.« Ohne abzuwarten, ob er etwas erwiderte, fuhr sie fort: »Beginnen wir mit dem Offensichtlichen, dem YouTube-Video, das mevrouw Jonker über Sie gemacht hatte. Sie sagten mir ja bereits, dass Sie nicht sonderlich erfreut darüber waren.«
Ewerts nickte. »Allerdings.«
»Nachdem mevrouw Jonker das Video veröffentlicht hatte, kündigte Stijn de Leeuw ihr kurzfristig die Zusammenarbeit auf. Sie vermutete, dass es einen Zusammenhang gab.«
»Darüber weiß ich nichts«, antwortete Ewerts. »Worauf wollen Sie hinaus?«
Griet tippte auf die Fotos, die De Leeuw vor dem Elfstedenkok zeigten. »Böse Zungen behaupten, Sie erkauften sich in der Stadt manche Gefälligkeit. Mevrouw Jonker hatte wohl den Verdacht, dass Sie sich bei ihr für das Video rächen wollten … indem Sie Stijn de Leeuw um einen entsprechenden Gefallen baten.«
»Das ist blanker Unsinn.« Ewerts stieß ein kurzes Lachen aus, dann stützte er sich mit den Händen auf die Armlehnen des Stuhls und machte Anstalten, aufzustehen. »Wenn Sie mir etwas Konkretes vorwerfen, sagen Sie es. Ansonsten möchte ich jetzt gehen.«
»Das steht Ihnen frei.« Griet ließ sich nicht beeindrucken. »Vielleicht interessiert es Sie, dass mevrouw Jonker vergiftet wurde. Und zwar auf der Pressekonferenz im stadhuis, auf der Sie ebenfalls anwesend waren.«
Ewerts ließ sich zurück auf den Stuhl sinken.
»Wir nehmen an, dass jemand ihr eine Überdosis Digitalis in ein Getränk oder das Essen mischte«, sprach Griet weiter. »Ihr Betrieb machte das Catering bei der Veranstaltung.«
Ewerts schüttelte den Kopf. »Sie wissen schon, wie absurd das ist, oder?«
Griet griff nach dem anderen Bilderstapel, der auf dem Tisch lag. Sie zog die Aufnahmen der Überwachungskamera hervor, die zeigten, wie Ewerts das stadhuis verließ und dann ein Auto neben ihm zum Stehen kam. »Wir konnten den Wagen einem Rob Hoekstra zuordnen. Kennen Sie den Mann?«
»Nein«, sagte Ewerts, allerdings erst, nachdem er einen Moment zu lange gezögert hatte.
Griet lehnte sich zurück. »Das YouTube-Video von Jessica Jonker hat Sie ganz schön in Rage versetzt. Und wir wissen beide, dass es für Ihre politischen Ambitionen und Ihr Elfstedentocht-Projekt schädlich gewesen wäre, wenn mevrouw Jonker den Verdacht, den sie bezüglich Ihrer Beziehung zu Stijn de Leeuw hegte, öffentlich gemacht hätte. Dann wurde sie bei der Veranstaltung vergiftet, bei der Ihre Firma das Catering übernommen hatte. Und dann sind da diese Aufnahmen, wie Sie sich kurz nach der Veranstaltung mit Rob Hoekstra treffen … einem stadtbekannten Kriminellen.«
»Ich sagte doch …«
Griet hob eine Hand. »Wir wissen, dass Hoekstra eine Beziehung zu Ihrem Bruder unterhält, also machen Sie mir nichts vor. Auf dem Video ist klar zu erkennen, wie Sie sich mit ihm unterhalten. Sie kennen ihn. Und, meneer Ewerts, das alles lässt Sie in keinem guten Licht dastehen …« Sie machte eine kurze Pause. Dann fuhr sie fort: »Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder stufe ich Sie offiziell als Verdächtigen ein, was in der Stadt schnell die Runde machen wird … oder Sie sagen mir, was da gelaufen ist.«
Ewerts schloss die Augen. Er überlegte einen Moment, dann seufzte er und meinte: »Einverstanden.«
»Wie wäre es, wenn Sie mit Ihrer Beziehung zu De Leeuw beginnen?«
»Da muss ich allerdings etwas weiter ausholen …«
»Ich habe Zeit.« Griet holte ihr Notizbuch hervor. »Der Gute sitzt übrigens im Zimmer nebenan. Es wäre besser, wenn Ihre Aussage und seine nicht zu weit voneinander abweichen.«
***
»Im Grunde begann der ganze Schlamassel mit dem Elfstedentocht von 1997«, erzählte Toon Ewerts. »Ich wollte das Rennen gemeinsam mit meinem Bruder laufen, doch wir wurden im Startgetümmel im Zwettehaven voneinander getrennt.«
Griet stellte ihm die Flasche Cola hin, um die er zwischenzeitlich gebeten hatte. Er trank einen Schluck.
»Ich traf Vlam später irgendwo zwischen Sneek und Sloten wieder. Er hatte sich einer Gruppe von Männern angeschlossen. Es waren Hoekstra und seine Freunde.«
»Ihr Bruder und Hoekstra kannten sich also schon damals?«
»Leider. Wissen Sie, ich musste immer ein Auge auf den Kleinen haben, aufpassen, dass er nicht abdriftet. Vlam war nicht der Hellste. Ich hatte ihm eine Ausbildung im Hotel organisiert. Aber er kam ständig zu spät, hielt sich nicht an die Regeln. Er hing schon damals mit Hoekstra rum. Der zeigte ihm, wie man auf weniger anstrengende Art sein Geld verdient. Ich machte mir Sorgen. Und ich war nicht begeistert, ihn bei dieser Truppe zu sehen.«
»Verständlich«, meinte Griet.
»Wir blieben dennoch bei Hoekstra. Allein oder zu zweit ist es recht mühsam, vor allem, wenn es später gegen den Wind geht. Gemeinsam in der Gruppe kommt man schneller voran, wenn man sich gegenseitig Windschatten gibt – und Hoekstra war zugegebenermaßen ein sehr guter Läufer. Wir schafften es bis nach Stavoren, stempelten am Kontrollposten. Ein irres Gedränge. Hoekstra kam auf die Idee, ein Foto von Vlam und mir zu machen. Er hatte eine dieser ersten kleinen Digitalkameras dabei. Die waren damals noch verdammt teuer … ich wollte gar nicht genau wissen, wie er an das Teil gekommen war. Jedenfalls standen wir da, und plötzlich rauschte ein anderer Läufer in Hoekstra rein. Ein Versehen, aber die Kamera fiel runter und ging zu Bruch. Hoekstra tickte aus und wollte den Kerl verprügeln, doch der suchte das Weite. Ich habe dann erst mal versucht, ihn wieder runterzubringen. Irgendwann liefen wir weiter. Kurz vor Hindeloopen holten wir den Mann ein. Hoekstra revanchierte sich, indem er ihn zu Fall brachte. Der arme Kerl schlug übel auf und blieb liegen. War klar, dass er sich verletzt hatte. Hoekstra kümmerte das aber nicht. Er lief weiter, und Vlam folgte ihm. Ich blieb bei dem Mann und half ihm. Sein Knie war kaputt, die Dämmerung setzte ein, außerdem war es elend kalt. Ich schleppte ihn bis nach Hindeloopen ins Sanitätszelt und blieb so lange, bis er versorgt war.«
Griet erinnerte sich daran, wie Pieter sich darüber gewundert hatte, warum Ewerts so lange für die Strecke gebraucht hatte, obwohl er frühmorgens gestartet war.
»Dann war das der eigentliche Grund, weshalb Sie zu spät im Ziel ankamen?«
»Ja, das verhagelte mir das Rennen. Aber dafür rettete ich dem armen Kerl wohl das Leben.«
»Der Mann, dem Sie geholfen haben, wie hieß er?«
»Das war Stijn de Leeuw.«
***
»Es begann mit einem kleinen Gefallen, mehr war es nicht, okay? Ich stand immerhin in seiner Schuld.«
Stijn de Leeuw saß Griet in einem Tweedsakko gegenüber, bemüht darum, professionelle Nüchternheit zu wahren. Auf seiner Stirn zeichneten sich allerdings erste Schweißperlen ab. Griet blätterte durch die Notizen, die sie sich während der Befragung von Toon Ewerts gemacht hatte. Bisher hatte De Leeuw dessen Version der Ereignisse bestätigt.
Noemi lehnte hinter ihr in der Ecke, die eine Hand in der Hosentasche, in der anderen eine Aktenmappe.
»Welche Art von Gefallen war das?«, fragte Griet.
»Toon hatte damals gerade sein Restaurant eröffnet … und es lief nicht besonders. Also machte ich unsere Leser mit ein paar netten Zeilen auf seine Kochkünste aufmerksam. Was übrigens nicht gelogen war, er kocht nämlich wirklich fantastisch, Sie sollten bei Gelegenheit mal …«
»Gab er Ihnen Geld?«
»Wo denken Sie hin? Ich wollte mich nur bei ihm revanchieren.«
»Und neulich forderte er erneut einen Gefallen ein.«
»Ja.«
»Was wollte er?«, fragte Griet.
»Hat er das Ihnen nicht gesagt?«
»Ich will die Geschichte aus Ihrem Mund hören.«
»Es ging um sein Projekt mit dem Elfstedentocht und … ich mochte seine Idee. Und warum sollte ausschließlich die Elfsteden-Kommission …«
»Zahlte er Ihnen diesmal Geld?«
De Leeuw machte ein unschuldiges Gesicht. »Die Zeitungen sind doch heute voll mit bezahlten Artikeln, die als Werbung deklariert werden … Ich finde, das sollte man nicht so eng sehen.«
Griet tippte mit dem Kugelschreiber auf ihr Notizbuch. »Sah mevrouw Jonker das Ihrer Meinung nach auch zu eng?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie beendeten die Zusammenarbeit mit ihr, kurz nachdem sie auf YouTube über Ihren Freund Toon gewettert hatte.«
»Sagen wir doch einfach, wir hatten … kreative Differenzen.« De Leeuw wich Griets Blick aus.
»Kann ich kaum glauben«, erwiderte Griet. »Jessicas Artikel bescherten Ihnen doch eine gute Auflage. Und wie Sie selbst sagten, hatten Sie sie bereits beauftragt, eine weitere Artikelreihe zu schreiben.« Griet sah ihn eindringlich an. »Das müssen sehr plötzliche kreative Differenzen gewesen sein. Außerdem frage ich mich, warum Sie mir das alles bei unserem ersten Gespräch vorenthalten haben.«
De Leeuw zuckte die Schultern. »Der Tod von mevrouw Jonker hatte mich emotional sehr aufgewühlt.«
»Tatsächlich? Deshalb vergaßen Sie wohl auch, uns zu sagen, dass Sie Jessica das letzte Mal nur wenige Stunden vor ihrem Tod gesehen haben … auf der Pressekonferenz im stadhuis
De Leeuw schaute zu Boden.
Griet drehte sich um. »Noemi?«
Es dauerte einen Moment, bis sie reagierte, und Griet hatte den Eindruck, dass sie mit den Gedanken ganz woanders gewesen war. Die junge Kollegin trat aus der Ecke und schlug die Mappe auf, die sie in der Hand hielt.
»Wir hätten das alles gern schon früher mit Ihnen geklärt«, sagte Noemi, während sie sich auf die Tischkante setzte und auf De Leeuw hinabsah. »Doch Sie waren ja auf Recherchereise … in Urk, wie man uns mitteilte.«
De Leeuw nickte.
»Was haben Sie dort gemacht?«
»Ich … recherchierte zur Historie des Ortes.«
»Was Sie nicht sagen.« Noemi sah ihn unverwandt an.
Er versuchte sich an einem Lächeln. »Was … soll ich denn sonst dort gemacht haben?«
»Sie waren bei Ihrer Ex-Frau und Ihrer Tochter Lydia.«
»Woher wissen Sie …«
»Ich habe mit ihr telefoniert.«
»Moment mal, dazu haben Sie kein Recht.«
Griet unterbrach ihn. »Meneer De Leeuw, wir ermitteln in einem mutmaßlichen Mordfall. Das gibt uns ziemlich weitreichende Kompetenzen. Besonders, wenn wir den Verdacht haben, dass jemand lügt oder uns Informationen vorenthält.«
Die Augen von De Leeuw weiteten sich. Obwohl Griet ihm deutlich anmerkte, dass ihm die Situation unangenehm war, schien für einen Moment sein journalistischer Spürsinn durchzubrechen, der eine Schlagzeile witterte. »Wollen Sie etwa sagen …?«
»Sie haben mich verstanden«, erwiderte Griet trocken. »Und wenn Sie nicht möchten, dass Sie selbst zum Stadtgespräch werden, wäre es besser, ich lese darüber nicht gleich morgen in Ihrer Zeitung.«
Noemi schlug die Mappe auf und zog den Ausdruck eines Zeitungsartikels hervor. »Ihre Tochter ist querschnittgelähmt. Sie hatte vor fünf Jahren einen Autounfall.«
De Leeuw ließ die Schultern sinken und nahm den Artikel in die Hand. »Lydia …«
»Ihre Frau erzählte mir, dass Sie beide sich kurz nach dem Unfall trennten«, sagte Noemi. »Details interessieren hier nicht. Jedenfalls kommen Sie seitdem für einen Teil der Pflege Ihrer Tochter auf.«
De Leeuw legte den Artikel mit versteinerter Miene zurück auf den Tisch.
»Toon Ewerts gab Ihnen Geld, damit Sie nicht weiter mit Jessica zusammenarbeiteten«, sagte Griet. »Und es scheint, als konnten Sie dieses Geld gut gebrauchen.«
De Leeuw rückte sein Sakko zurecht und setzte sich aufrecht hin. »Ich … nahm es für Lydia.«
Griet legte die Fotos auf den Tisch, die De Leeuw mit der Aktentasche vor dem Elfstedenkok zeigten. »Dann ist es das, wobei Jessica Sie fotografierte?«
Er betrachtete die Fotos, ohne sie anzurühren. »Toon gab mir an dem Tag die versprochene Summe.«
»Und deshalb hatten Sie Jessica den Geldhahn zugedreht, in der Hoffnung, dass sie von Ewerts abließ?«, fragte Griet.
»Das hatten wir uns zumindest so gedacht«, antwortete De Leeuw. »Diese YouTube-Clips … man kann damit eine Menge Stunk machen, aber sie bringen nicht viel Geld. Das verdiente sie mit den Artikeln für uns, außerdem war sie auf eine Festanstellung aus. Wir rechneten uns aus, dass sie andere Sorgen haben würde, wenn die Aufträge ausblieben.«
»Wussten Sie von den Fotos?«
»Ja, sie schickte mir eines davon. Sie war stocksauer und drohte, die Sache publik zu machen.« De Leeuw zog ein Stofftaschentuch aus der Innentasche seines Sakkos und tupfte sich die Stirn ab. »Sie hatte offenbar bereits Kontakt zum Chefredakteur des Leeuwarder Courant aufgenommen … unserer direkten Konkurrenz.«
»Das wäre sowohl für Sie als auch für meneer Ewerts problematisch gewesen«, sagte Griet.
»Ja, das wäre es …«
»Und deshalb beschlossen Sie beide, das Problem aus der Welt zu schaffen«, schloss Noemi.
»Was?« Er sah erschrocken zu ihr auf.
»Jessica Jonker wurde auf der Pressekonferenz im stadhuis vergiftet. Sie waren beide dort und hätten die Gelegenheit gehabt«, erklärte Griet. »Es haben schon Menschen aus schlechteren Gründen gemordet.«
De Leeuw blickte sie flehend an. »Nein … an so etwas habe ich keine Sekunde gedacht, wirklich, das müssen Sie mir glauben.«
Der Mann hatte schon zu viel gelogen, als dass sie ihm einfach glauben würde. Doch Griet fragte sich, ob er tatsächlich die Art Mensch war, die ein solches Vorhaben planten und kaltblütig in die Tat umsetzten. Angesichts der Tatsache, dass es Jessica Jonker offenbar ein Leichtes gewesen war, seine Kungeleien mit Toon Ewerts aufzudecken, schien er als Krimineller kein großes Talent zu sein.
»Sie haben es vielleicht nicht getan«, sagte Griet. »Aber was ist mit Ihrem Freund Toon?«
»Toon?« De Leeuw schüttelte den Kopf. »Toon hat mir das Leben gerettet … er würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Nein, ausgeschlossen. Allerdings … wäre ich mir bei seinem Bruder nicht so sicher.«
»Vlam?«
»Ja«, sagte De Leeuw. »Vlam arbeitete an jenem Abend als Bedienung im stadhuis
***
»Und jetzt?« Toon Ewerts lachte auf. »Glaubt er etwa, dass Vlam Jessica vergiftet hat?«
Griet hatte sich den Stuhl herangezogen und neben Ewerts Platz genommen. Noemi saß hinter ihr auf dem Tisch.
»Es ist zumindest seltsam, dass Ihr Bruder Teil des Catering-Personals war. Er hat sein eigenes Geschäft«, sagte Griet. »Was also hatte er an jenem Abend im stadhuis zu suchen?«
Ewerts sank im Stuhl zusammen und hob beide Hände vor das Gesicht. »Hören Sie … das ist alles ein großes Missverständnis.«
»Dann klären Sie uns auf.«
»Ich habe Ihnen ja vorhin schon gesagt, dass ich mich um meinen kleinen Bruder sorge«, sagte Ewerts. »Ich spanne ihn dann und wann beim Catering ein, weil ich ihm eine Perspektive bieten will. Irgendwie hoffe ich noch immer, ihn aus dieser Nummer rauszubekommen …«
»Mit Nummer meinen Sie das Auktionshaus?«, fragte Griet.
»Ja. Hoekstra hängt da mit drin, und das, was die beiden da abziehen …«
Griet holte ihr mobieltje aus der Hosentasche, öffnete das Foto-Archiv und scrollte zu den Bildern, die sie in der Nacht im Hinterhof des Auktionshauses gemacht hatte.
»Ich glaube«, sagte sie und zeigte Ewerts das Foto auf dem Smartphone, »ich habe eine recht gute Vorstellung davon, welchen Geschäften die beiden nachgehen.«
Ewerts betrachtete das Bild und nickte stumm. Seine Augen wurden wässrig. »Ich … möchte nicht, dass er ins Gefängnis muss. Vlam ist ein guter Kerl, es … es ist dieser Hoekstra, von dem alles ausgeht.«
Griet beugte sich zu ihm vor. »Ich muss das weitergeben. Aber ich kann Ihnen und Ihrem Bruder helfen. Sollte er sich kooperativ zeigen und gegen Hoekstra aussagen, wirkt sich das günstig für ihn aus. Wichtig wäre aber, dass Sie mir genau erzählen, was an dem Abend im stadhuis passiert ist.«
»Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt«, erklärte Ewerts. »Das mit Stijn und dem Geld war dumm … aber ich war an dem Abend nicht mal in der Nähe von mevrouw Jonker. Und mein Bruder wusste nichts von der ganzen Sache. Er machte nur seinen Job, und dann ging er.«
»Und was ist mit Hoekstra?«
»Er holte Vlam vor dem stadhuis ab. Ich wollte gar nicht wissen, was die beiden noch vorhatten …«
»Und was wollte er von Ihnen?«
»Nichts, er bot nur an, mich heimzufahren. Aber … ich lehnte ab.« Ewerts schüttelte den Kopf. »Da hatte ich Vlam mal zu einer ehrlichen Arbeit überredet … und schon hatte dieser Kerl ihn wieder in seinen Fängen.«
Griet lehnte sich zurück und tauschte einen Blick mit Noemi. Im Grunde seines Herzens schien Toon Ewerts kein schlechter Kerl zu sein. Immerhin hatte er Stijn de Leeuw beim Elfstedentocht in der Not geholfen und sein Rennen geopfert. Und seinen Bruder gab er nicht auf, obwohl dieser sich offenbar rettungslos in kriminelle Machenschaften mit Rob Hoekstra verstrickt hatte.
Auf Toon Ewerts traf wohl die Weisheit Schuster bleib bei deinem Leisten zu. Er hatte ein Spiel gespielt, dessen Regeln er nicht kannte. Mit seinem alternativen Elfstedentocht hatte er vor aller Öffentlichkeit eine Bauchlandung gemacht, als er sich von Bürgermeister und Polizeichef eine Abfuhr einholte. Und der Versuch, eine übereifrige Reporterin mundtot zu machen, war auf dilettantische Weise gescheitert.
Hatten er oder sein Bruder Jessica auf dem Gewissen?
Es sah nicht danach aus.
Doch dafür wuchs in Griet eine andere Gewissheit heran.
Toon Ewerts hatte die illegalen Geschäfte von Rob Hoekstra und seinem Bruder durchschaut, und auch für Griet war es ja kein größeres Problem gewesen, das herauszufinden. Das bedeutete, dass ein erfahrener und kluger Polizist wie ihr Kollege Pieter zumindest ahnen musste, was beim Autobedrijv Hoekstra vor sich ging, der Werkstatt jenes Mannes, mit dem er offenbar befreundet war.
Die Tür des Vernehmungsraums ging auf. Griet und Noemi drehten sich um. Es war Pieter. »Kommt ihr beiden mal?«, sagte er.
Sie standen auf und gingen nach draußen. Griet schloss die Tür hinter sich. »Was gibt es?«
Pieter hielt sein mobieltje in die Höhe. »Nach dem, was De Leeuw vorhin gesagt hat, habe ich mal beim Leeuwarder Courant angerufen und mit dem Chefredakteur gesprochen, einem Jeen Asselborn.«
»Und?«, fragte Noemi.
»Jessica hatte sich tatsächlich bei ihm gemeldet. Allerdings nicht wegen der Sache mit De Leeuw und Ewerts«, berichtete Pieter. »Sie bot ihm eine andere, sehr auflagenträchtige Geschichte an, für die sie viel Geld verlangte.«
»Und was war das?«, wollte Griet wissen.
»Sie sagte ihm, sie habe herausgefunden, wer in Wahrheit den Elfstedentocht mit Mart Hilberts lief …«
»Diese Sache mit Edwin Mulder?«, meinte Noemi. »Das war doch eine Sackgasse …«
Pieter wedelte mit dem Zeigefinger. »Nein, sie sprach von einem Videoband, das sie bei den Hilberts in einer Sammlung von alten Fernsehmitschnitten entdeckt hatte. Darauf hatte sie den Jungen identifiziert.«
»Sagte sie ihm den Namen?«
»Nein, sie meinte aber, dass eine noch viel größere Geschichte hinter allem steckte. Dieser Edwin wollte ihr offenbar davon erzählen.«
»Wann hat sie mit Asselborn gesprochen?«
»Am Tag, als sie starb«, sagte Pieter. »Sie wollte sich wieder bei Asselborn melden, sobald sie den echten Edwin getroffen hatte.«
»Heißt das, sie war mit ihm verabredet?«
»Ja. Sie wollte Edwin an jenem Abend in Sloten treffen.«