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Der Besucher
E in Kälteschwall kam Griet entgegen, als sie hinter Wiebeke Hilberts die knarrende Holzstiege zum Speicher emporkletterte. Noemi und Pieter folgten ihr. Die Witwe von Mart Hilberts wohnte in einem alten Bauernhaus mit Reetdach in der Molenstraat, direkt hinter dem Deich, der Hindeloopen vor dem Ijsselmeer schützte. Wiebeke zog an einer Schnur und schaltete das Licht ein, eine einzelne Glühbirne, die in der Fassung von einem Dachbalken herabbaumelte. Der Speicher war vollgestellt mit den Requisiten eines Lebens: alten Elektrogeräten, Säcken voller Altkleider, einem ausgedienten Sofa und etlichen Kisten, die Kleinteile enthielten. Eine dichte Staubschicht hatte sich auf alles gelegt, abgesehen von einem Stapel mit Umzugskartons, der noch nicht lange hier oben zu stehen schien.
»Ich weiß nicht, was ich mit Marts Sachen machen soll«, erklärte Wiebeke. »Ich kann mich schwer davon trennen, aber trotzdem hatte ich das Bedürfnis, endlich aufzuräumen.«
Griet konnte nachvollziehen, wie die alte Frau empfand, ihr war es nach dem Tod ihres Vaters genauso ergangen. Die Hinterlassenschaften eines Verstorbenen erinnerten einen oft an die schönen Momente, die man gemeinsam erlebt hatte, weshalb man sie nicht einfach entsorgen wollte. Gleichzeitig führten sie einem aber auch immer wieder vor Augen, dass man diesen geliebten Menschen nie wiedersehen würde, sodass man die Sachen nicht mehr bei sich haben wollte.
Wiebeke hob zwei Kartons von dem Stapel. »Mart sammelte Erinnerungen an jeden Elfstedentocht, den er gelaufen war. Einiges davon werde ich wohl dem schaatsmuseum geben.«
»Und diese Sammlung zeigte er Jessica?«, fragte Griet. Sie hatte Wiebeke am Telefon erzählt, dass die Suche nach Edwin offenbar noch weitergegangen war.
»Ja, sie sahen sich die Stücke an. Jessica nahm einiges mit, wovon sie dachte, es könnte ihr helfen. Später schickte sie alles mit der Post zurück.«
»Dürfen wir einen Blick darauf werfen?«
»Zeker – sicher.«
Griet nickte Noemi und Pieter zu. Sie gingen in die Hocke und begannen, die Kartons zu öffnen.
Wiebeke zog die Strickjacke, die sie trug, enger um die Schultern. »Kann ich euch hier oben allein lassen?«
»Natürlich«, sagte Griet.
Während Wiebeke die Treppe hinunterstieg, kniete Griet sich hin und betrachtete den Inhalt eines Kartons. Mehrere Mappen mit Zeitungsausschnitten befanden sich darin, viel zu viele, um sie alle hier zu sichten. Eventuell würden sie einen Teil davon mit ins Präsidium nehmen müssen.
»Wie wollen wir weiter mit Rob Hoekstra verfahren?«, fragte Noemi und hob einen zerschlissenen Schlittschuh aus der Kiste.
»Wir werden die zuständigen Kollegen informieren«, antwortete Griet. »Aber erst mal warten wir noch ab, wie sich die Brüder Ewerts verhalten.«
Ehe sie Toon Ewerts aus der Vernehmung entlassen hatte, hatte Griet ihm ans Herz gelegt, seinen Bruder Vlam zu einem Geständnis zu bewegen und gegen Hoekstra auszusagen. Auf diese Weise hatte er die Chance, mit einer geringen Strafe davonzukommen, denn Ermittlungen würde es in der Sache auf jeden Fall geben.
Stijn de Leeuw hatte sie nach einigem Überlegen gegen das Versprechen davonkommen lassen, dass er ihr einen Gefallen schuldete, wenn sie seine Kungelei nicht an die große Glocke hängte. Griet hatte die Erfahrung gemacht, dass es sich immer auszahlte, wenn man Freunde bei der örtlichen Presse hatte.
»Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht sicher, ob wir das so einfach weitergeben sollten«, sagte Pieter.
»Weshalb?« Griet blickte auf und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog.
Pieter klappte den Karton zu, den er gerade durchsucht hatte, und schob ihn zur Seite. »Was Hoekstra treibt, fällt nicht in die Kategorie Kriminalität, mit der sich die Districtsrecherche beschäftigt …«
»Weshalb wir die Angelegenheit ja den Kollegen übergeben.« Noemi bedachte ihn mit einem kritischen Blick.
»Und da mahne ich eben zur Vorsicht … falls du mich mal ausreden lassen würdest«, schnaubte Pieter.
»Und was soll das bedeuten, willst du Hoekstra ungeschoren davonkommen lassen?«
»Nein.« Pieter zögerte einen Moment. »Ich bin lange genug beim Corps, um zu wissen, dass die Kollegen es nicht mögen, wenn Fälle, die wir ablegen, einfach von oben zu ihnen herunterpurzeln. Solche Angelegenheiten werden oft nicht mit der nötigen Priorität behandelt. Wir sollten deshalb Wouters ins Boot holen. Er kann die Sache auf Leitungsebene in die richtigen Hände weiterleiten, dann bleibt Druck auf dem Kessel.«
Griet überlegte einen Moment. »Ja, vermutlich hast du recht … so könnten wir es machen«, sagte sie, dachte aber etwas völlig anderes.
Sie hatte bereits in Erwägung gezogen, die Machenschaften von Hoekstra persönlich den entsprechenden Kollegen zu übergeben. Das Dezernat, das sich auf städtischer Ebene mit solchen Delikten befasste, befand sich im Erdgeschoss des politiehoofdkantoor . Der Weg dorthin war kurz, und Griets Erfahrung nach rannte man bei Kollegen offene Türen ein, wenn man ihnen einen mehr oder weniger wasserdichten Fall präsentierte, zumal einen, in dem bereits ein Geständnis vorlag, das in dieser Sache hoffentlich von Vlam Ewerts kommen würde. Angelegenheiten dieser Art wurden rasch abgewickelt, da man sich ohne große Anstrengung Meriten verdienen konnte. Völlig anders lag die Sache, wenn sie den offiziellen Weg über Wim Wouters und die Leitungsebene wählte. So etwas dauerte.
Pieter mochte die Befindlichkeiten im Polizeipräsidium vielleicht länger und besser kennen als sie. Dennoch teilte Griet seine Einschätzung nicht. Sie ahnte aber, welches Kalkül sich hinter seinem Vorschlag verbarg: Er wollte Zeit schinden. Warum? Um Hoekstra zu warnen? Und weshalb sollte er das tun?
Griet richtete den Blick wieder auf den Inhalt des Kartons und stutzte. Unter den alten Zeitungsausschnitten lugte die Ecke eines bräunlichen Briefumschlags hervor. Sie nahm ihn in die Hand. Er war an Mart Hilberts adressiert. Auf der Rückseite stand der Absender: Jessica Jonker . Der Umschlag war ungeöffnet. Griet entfernte das Klebeband von der Einschublasche, griff hinein und zog eine alte Videokassette heraus. Es war ein VHS -Format mit hundertachtzig Minuten Laufzeit. Auf dem vergilbten Etikett auf der Vorderseite hatte jemand in Handschrift notiert: NOS Elfstedentocht 1997 . Es schien sich um einen Mitschnitt der Fernsehübertragung zu handeln.
Das technische Equipment der politie war teilweise schon in die Jahre gekommen, doch Griet bezweifelte, dass es dermaßen veraltet war, dass sie im Präsidium noch einen VHS -Videorekorder finden würden, auf dem sie das Band abspielen konnten. Vielleicht standen ihre Chancen hier besser. Wer alte VHS -Kassetten aufbewahrte, hatte meistens auch noch ein entsprechendes Abspielgerät.
Griet stand auf, bedeutete Noemi und Pieter, ihr zu folgen, und stieg die steile Speichertreppe hinab.
***
Eine Viertelstunde später saßen sie im Wohnzimmer von Wiebeke Hilberts. Der Fernseher war in einem rustikalen Schrank aus Eichenholz untergebracht, in dem auch eine Sammlung von Blu-rays, DVDs und VHS -Kassetten stand. Wiebeke hatte das Band in den Videorekorder geschoben, und nun lief auf dem Bildschirm eine grobkörnige Aufzeichnung der originalen Fernsehübertragung des Elfstedentocht von 1997. Genau genommen handelte es sich um den Schluss der Sendung, der die letzten Stunden des Rennens abdeckte.
»Gegen Ende gibt es ein Interview mit Mart«, erklärte Wiebeke.
»Sehen wir uns das an.« Griet hatte neben Pieter und Noemi auf dem Sofa Platz genommen.
Es dauerte einen Moment, bis Wiebeke das Band an die entsprechende Stelle vorgespult hatte. Griet lobte in Gedanken die Digitaltechnik, die es erlaubte, in einem Video binnen einer Sekunde an die gewünschte Stelle zu springen.
Wiebeke stoppte den schnellen Vorlauf und ließ die Aufzeichnung wieder in normaler Geschwindigkeit ablaufen.
Auf dem Fernseher erschien in grober Auflösung das Gesicht von Mart Hilberts. Griet entging nicht, dass Wiebeke kurz mit den Tränen kämpfte, als sie ihren Mann sah und sprechen hörte.
Es war unschwer zu erkennen, dass Mart damals mit den Kräften völlig am Ende gewesen sein musste. Er hatte den Arm um die Schultern seiner Frau gelegt, die neben ihm stand. Trotz der blassen Farben des alten Bands und der groben Auflösung erkannte man, dass seine Augenbrauen und Wimpern mit Eiskristallen bedeckt und die Lippen blau angelaufen waren. Mart sagte nicht viel, lediglich, wie hart das Rennen gewesen sei und dass er mit ziemlicher Sicherheit zum letzten Mal den Elfstedentocht gelaufen war. Zu längeren Ausführungen war er augenscheinlich nicht mehr imstande. Der Reporter wandte sich der Kamera zu und meinte, dass Hilberts den Elfsteden-Fans als einer der letzten großen Läufer vom alten Schlag in Erinnerung bleiben würde. Danach wechselte die Übertragung wieder zu Liveaufnahmen von der Strecke.
»Spielen Sie die Stelle bitte noch einmal ab«, sagte Griet.
Wiebeke tat wie geheißen. Als das Interview erneut durchgelaufen war, stoppte sie das Band.
»Noch mal«, sagte Griet. Sie stand auf und ging näher an den Fernseher heran, um einen besseren Blick auf die Menschen zu bekommen, die sich in Marts Rücken versammelt hatten.
»Stopp!«
Wenige Meter hinter Hilberts befand sich eine Holzbude, bei der es sich vermutlich um den finalen Kontrollposten handelte. Unzählige Läufer standen dort an, um sich den Zieleinlauf auf ihren Stempelkarten bestätigen zu lassen. Dahinter ragten aus einem Meer an Zuschauern Wimpel und Fahnen in die Höhe.
Es war der Eisläufer, der rechts neben der Holzhütte stand, der Griet aufgefallen war. Ein junger Mann, der offenbar auch gerade das Rennen beendet hatte. In seiner rechten Hand konnte sie eine Art Medaille erahnen, wahrscheinlich das begehrte elfstedenkruisje, das allen Läufern verliehen wurde, die den tocht erfolgreich beendeten.
Etwas an seinem Verhalten war sonderbar.
Die anderen Läufer in dem Bildausschnitt ließen sich in drei Gruppen einteilen. Die einen kamen gerade an und eilten zu der Bretterbude. Andere standen bereits dort und warteten auf ihre Stempel. Und jene, die ihre Stempel und Medaillen erhalten hatten, gingen weg.
Der junge Mann aber verharrte auf der Stelle. Über die gesamte Dauer des Interviews lag sein Blick auf Mart Hilberts.
Obwohl das Videoband über die Jahre an Qualität verloren hatte, das Bild unscharf und farblos war, musste Griet ihre Vorstellungskraft nicht überstrapazieren. Sie ließ das Gesicht des jungen Mannes vor ihrem inneren Auge um einige Jahre altern. Sie war sich ziemlich sicher, wen sie da sah.
Es war Jeroen Brouwer, der Chef der Firma Dutch Heat .
Wiebeke trat zu Griet an den Fernseher und betrachtete den Jungen. Ein Ausdruck des Erinnerns huschte über ihr Gesicht.
»Sie kennen ihn?«, fragte Griet.
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte sie. »Aber ich glaube, dieser junge Mann hat Mart kurz vor seinem Tod besucht.«