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Pieter de Vries ist nicht zu fassen
D ie Arbeitsplätze im Großraumbüro der Districtsrecherche waren uniform und unterschieden sich lediglich im Grad der Ordnung oder der Anzahl der persönlichen Verschönerungsgegenstände, mit denen ein Schreibtisch wohnlicher gestaltet wurde. Auf dem Monitor in Pieters Abteil blinkte ein kleiner USB -Weihnachtsbaum in bunten Farben, als Griet sich mit schnellen Schritten näherte.
Sie musste mit Pieter sprechen, daran führte nun kein Weg mehr vorbei. Was auch immer damals abgelaufen war, Wim Wouters steckte ebenfalls mit drin. Und offenbar hatte er sich große Mühe gegeben, die Sache unter den Teppich zu kehren. Pieters Vorschlag, die weiteren Ermittlungen gegen Hoekstra in Wouters’ Hände zu legen, erschien damit in neuem Licht.
Griet fand Pieters Schreibtisch verwaist vor. Sie blickte sich um, entdeckte den Kollegen aber nirgendwo.
Griet ging zu ihrem Abteil. Auf dem Keyboard unterhalb des Monitors hatte jemand eine handschriftliche Notiz abgelegt. Sie stammte von Noemi. In kurzen Sätzen fasste sie zusammen, dass sie mit Edwin Mulder gesprochen hatte, der Jeroen Brouwer eindeutig als den Jungen identifizierte, dem er seine Starterkarte abgetreten hatte. Zudem hatte Noemi Brouwers Namen, wie zu erwarten, nicht auf der Teilnehmerliste des Elfstedentocht gefunden. Die Notiz endete mit der Erklärung, dass Noemi heute früher Schluss gemacht hatte, die Arbeitszeit aber nachholen würde.
Griet ließ den Zettel sinken und sah zu der Kollegin hinüber, die am Arbeitsplatz zu ihrer Rechten auf der Tastatur tippte. Die Frau war Mitte dreißig und hatte die schwarzen Haare zu einem Bob geschnitten. Griet deutete auf die Abteile von Pieter und Noemi: »Weißt du, wo die beiden stecken?«
»Noemi hat einen Anruf bekommen und musste weg.«
»Hat sie gesagt, warum?«
»Nein. Wohl irgendwas Privates.«
»Und Pieter?«
»Der wollte in die Kriminaltechnik zu Noor.«
»Bedankt .«
»Übrigens«, sagte die Kollegin, als Griet sich bereits abgewandt hatte, »Marit Blom hat für heute eine Pressekonferenz angekündigt. Alle glauben, dass sie den Start des Elfstedentocht verkünden wird.«
»Ganz toll.« Griet machte sich nicht die Mühe, auch nur den Hauch von Begeisterung in ihre Stimme zu legen. Sie ging weiter, durchquerte das Großraumbüro und eilte durch das Treppenhaus. Die Forensik war im Stockwerk unter der Districtsrecherche untergebracht. Über einen langen Korridor steuerte Griet zielstrebig das Büro von Noor van Urs an, der Leiterin der Kriminaltechnik.
Noor blickte vom Computer auf, als Griet den Raum ohne Anklopfen betrat. »Trifft sich gut, dass du kommst.«
»Ich bin auf der Suche nach Pieter«, sagte Griet.
»Der war hier. Ist aber schon eine Weile her.«
»Sagte er, wo er hinwollte?«
»Nach Hause.« Noor warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es war kurz nach siebzehn Uhr. »Ich hab ihm versprochen, dass ich euch eine E-Mail mit der Auswertung schicke.«
»Welche Auswertung?«
»Pieter war wegen Jessica Jonkers mobieltje hier«, erklärte Noor. »Die nationale politie hatte noch nichts von sich hören lassen, also haben wir da mal angerufen. Und wie immer, wenn man ein wenig Druck macht, ging es plötzlich ganz schnell.«
»Haben die etwas Interessantes gefunden?«
»Ich glaube kaum … allerdings konnte ich mir noch nicht alles ansehen. Eure Tote war jedenfalls vorsichtig im Umgang mit ihren Daten. Sie hat den Browsercache regelmäßig gelöscht und ausschließlich verschlüsselte Messengerdienste verwendet, deren Chatprotokolle sie ebenfalls gelöscht hat. Das Spannendste, was ich zu bieten habe, ist daher wohl lediglich eine Liste der ein- und ausgegangenen Anrufe.«
Noor hob entschuldigend die Hände.
»Konnten die Kollegen ein Bewegungsprofil vom Tag ihres Todes erstellen?«
»Ja«, sagte Noor. »Jonkers Handy hat sich an dem Tag bei verschiedenen Funkmasten eingeloggt. Sie ist morgens vom Blokuisport in die Innenstadt, hat dort eine gute Stunde verbracht und ist dann wieder zurück. Bis zum frühen Nachmittag war sie in ihrem Büro. Gegen fünfzehn Uhr ist sie dann zum stadhuis und später von dort nach Sloten.«
»Wenn du noch etwas findest, gib Bescheid«, sagte Griet. »Ich schau mir die Auswertung später an.«
»Griet«, meinte Noor und gab der Tür ihres Büros mit dem Fuß einen kleinen Schubs, sodass sie zufiel. »Darf ich dich was fragen?«
»Immer.«
»Es geht um Noemi. Die Kollegen reden über sie, weißt du das?«
»Nein.« Griet setzte sich auf die Schreibtischkante. Sie hatte bereits in ihren frühen Dienstjahren damit aufgehört, sich am üblichen Getratsche zu beteiligen. »Was sagen sie denn?«
»Sie rätseln, warum Noemi früher aus London zurückgekommen ist. Manche munkeln, Noemi hätte sich dort etwas zuschulden kommen lassen.«
»Hm«, brummte Griet. »Da ist nichts dran.«
»Ja, das war meine Vermutung«, sagte Noor. »Ich dachte nur, du solltest auf dem Laufenden sein.«
»Danke. Das ist nett von dir.« Griet lächelte. Dann sagte sie, einer spontanen Eingebung folgend: »Darf ich dich auch etwas fragen?«
»Nur zu.«
»Kennst du einen Noud Wolfs?«
»Natürlich, Pieter hat früher oft mit ihm zusammengearbeitet.«
»Ich wüsste gern zwei Dinge«, sagte Griet. »Wann ging Wolfs in Rente? Und wann wurde Pieter zu den Cold Cases versetzt?«
Wenig später verabschiedete Griet sich und lief durch das Treppenhaus in den Keller, wo sie ihr Fahrrad aus der fietsenstalling holte. In der Hoffnung, dass sie Pieter zu Hause antreffen würde, wenn sie Fenja abholte, machte sie sich auf den Weg nach Camminghaburen.
***
Der dunkelblaue Volvo stand nicht in dem Carport der Doppelhaushälfte, als Griet ihr fiets in der Einfahrt abstellte. Sie ging zur Haustür und klingelte. Nettie öffnete und begrüßte sie mit einem Lächeln.
»Griet , kom maar binnen – komm doch rein.« Sie putzte sich die Hände an der mit Mehl und Kuchenteig befleckten Schürze ab, die sie trug.
Griet folgte ihr in die Küche. Dort hatten sich die Kinder um den Arbeitsblock versammelt. Fenja rollte mit einem Nudelholz Teig aus. Suske und Martin stachen Formen aus.
»Wir machen Weihnachtsplätzchen«, erklärte Nettie.
»Mama«, rief Fenja und kam mit dem Nudelholz zu Griet herüber. Sie löste mit dem Finger einen Teigrest und hielt ihn in die Höhe. »Willst du auch mal probieren?«
Griet schüttelte den Kopf, und Fenja schleckte den Teig genüsslich vom Finger ab. Sie wandte sich zu Nettie, die ein voll belegtes Blech in den vorgewärmten Ofen schob. »Ich hatte gehofft, Pieter hier zu treffen …«
»Er musste noch mal weg«, sagte Nettie.
»Wohin wollte er denn?«
Nettie klappte die Ofentür zu und ging zur Spüle, um sich die Hände zu waschen. »Er … ist einkaufen.«
Griet nickte schweigend. Dabei musterte sie Nettie. Etwas an ihr war anders.
»Kinderen, kom op – Kinder, auf geht’s«, sagte Nettie, »die schmutzigen Sachen in den Geschirrspüler. Fenja, du machst dich fertig, deine Mutter will dich mitnehmen. Suske und Martin, ihr räumt vor dem Abendessen noch eure Zimmer auf.«
Griet staunte über Netties strenges Regiment, allerdings war dies bei zwei Kindern vielleicht auch notwendig. Griet sah zu, wie Fenja, Suske und Martin Ordnung schafften und dann ins Obergeschoss stürmten.
Nettie wischte den Arbeitsblock mit einem Küchentuch sauber und zog dann die Schürze aus. Dazu griff sie sich mit beiden Händen in den Nacken und löste den Knoten.
Da sah Griet es.
»Wo ist denn deine Kette?«
Nettie wandte sich mit überraschtem Gesichtsausdruck zu ihr herum. »Meine Kette?«
»Die silberne, die du heute Morgen getragen hast.«
»Ach, die …« Nettie wandte sich schnell wieder ab. »Die habe ich beim Backen abgelegt.«
»Natürlich.« Griet nickte und versuchte, in einem möglichst beiläufigen Tonfall zu fragen: »Kann ich sie mir vielleicht noch mal ansehen?«
Netties Wangen färbten sich rot. »Warum?«
»Ich will nur mal schauen, ob mir so etwas auch steht …« Sie zuckte die Schultern.
»Ja, es ist nur so … Pieter hat sie mitgenommen. Der Verschluss war kaputt. Er will sie reparieren lassen.«
Fenja kam wieder in die Küche gerannt und schlang die Arme um Griets Beine. Sie hatte bereits ihre Jacke und eine Wollmütze angezogen.
»Sag Pieter doch, dass er mich kurz anrufen soll, wenn er wieder da ist«, meinte Griet und verabschiedete sich von Nettie. Draußen stiegen sie auf das fiets – Fenja saß erneut auf dem Gepäckträger – und machten sich auf den Weg.
Sie fuhren eine Weile, bis Griet bei einem kleinen Park anhielt und sich zu ihrer Tochter herumdrehte. In ihrem Inneren regte sich tiefer Widerwille gegen das, was sie nun tun würde.
Sie erinnerte sich noch zu gut an die subtilen Verhöre, die ihre Großmutter mit ihr als Kind geführt hatte, um ihr Details über das Privatleben ihres Vaters zu entlocken. Griet hatte bald durchschaut, was ihre Großmutter trieb, und hatte sie dafür gehasst. Sie wollte ihr eigenes Kind nicht aushorchen. Doch sie sah keine andere Möglichkeit.
»Sag mal, Süße, hast du vorhin Onkel Pieter gesehen?«
»Ja«, antwortete Fenja, »er hätte uns fast den ganzen Kuchenteig weggeschleckt. Nettie hat ihn ausgeschimpft.«
»Hast du mitbekommen, wo er hinwollte?«
»Hm, er ist mit Nettie ins Wohnzimmer gegangen … dann musste sie ihre schöne Kette ausziehen, und dann hat Onkel Pieter gesagt, dass er sie einer Betske zurückbringt.«
»Betske? Bist du sicher, dass das der Name ist, den er nannte?«
Fenja nickte. »Suske hat gesagt, das wär Onkel Pieters Schwester, und sie wär ein bisschen verrückt.«
Griet schwang sich wieder auf den Sattel und trat in die Pedale.
Betske.
Pieters Schwester.
Das war das Puzzlestück, das gefehlt hatte. Und natürlich war er nicht auf dem Weg zum Einkaufen oder um die Kette reparieren zu lassen.
Griet bog auf die Noordersingel ein, die Straße, die parallel zur Noorderstadsgracht verlief, und brachte das Fahrrad vor ihrem Plattboot zum Stehen. Als Fenja vom Gepäckträger kletterte, leuchtete in einem geparkten Auto kurz das Innenlicht auf, und die Fahrertür öffnete sich. Ein Mann stieg aus und winkte ihnen zu. Es war Fleming.
Griet dachte nicht lange nach. Es war ihr egal, warum er unangekündigt hier auftauchte. Sie nahm Fenja an der Hand und ging zu ihm hinüber.
»Hallo, Griet …«, begann Fleming.
»Setz dich hinters Steuer«, unterbrach sie ihn. »Wir machen einen Ausflug.«
***
Eine Viertelstunde später fuhren sie langsam auf den Ortseingang von Weidum zu. Als das Haus und die Werkstatt von Hoekstra in Sichtweite kamen, sagte Griet zu Fleming: »Mach das Licht aus und roll langsam weiter.«
Fleming presste die Lippen zusammen und bedachte Griet mit einem Kopfschütteln, schaltete aber die Scheinwerfer ab. »Erzähl mir nicht, wir wären hier, um einen Freund zu besuchen.«
»Du wirst es kaum glauben«, erwiderte Griet, »wir suchen nicht nur einen Freund, sondern auch den Freund dieses Freundes.«
»Park da unter den Bäumen, Papa«, meldete sich Fenja in fachmännischem Ton von der Rückbank. »Dort sieht uns niemand.«
Fleming blickte sich kurz zu seiner Tochter um. Dann schüttelte er erneut den Kopf und sagte zu Griet: »Ihr beiden seid nicht das erste Mal hier, oder?«
»Unser Ausflugsprogramm war … abwechslungsreich.«
»Das ist jetzt nicht dein Ernst …« Fleming stellte den Wagen ab, doch Griet brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen, öffnete die Tür und stieg aus.
Sie wechselte die Straßenseite und betrat den Hof. Weder im Wohnhaus noch in der Werkstatt brannte Licht. Lediglich die Straßenlaterne, die unmittelbar vor dem Haus stand, verbreitete ihren Schein.
Griet blieb stehen und lauschte. Nichts. Keine Geräusche. Sie ging weiter zum Tor der Werkshalle, umfasste die Metallgriffe und rüttelte daran. Es war verschlossen.
Sie blickte sich um. Links neben der Halle standen einige ausgeschlachtete Autos. Auf der rechten Seite führte ein Kiesweg über eine Wiese zur Rückseite des Hauses. Griet setzte sich in Bewegung, stapfte durch den Schnee zur Terrassentür und warf einen Blick ins Innere. Niemand da.
Nun bestand kein Zweifel mehr: Die Hoekstras waren ausgeflogen. Und Griet war sich ziemlicher sicher, wer Rob Hoekstra davor gewarnt hatte, dass es bald sehr ungemütlich für ihn werden würde. Onkel Pieter.
Griet wollte sich gerade letzte Sicherheit verschaffen und an der Vordertür klingeln, als sich ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sie fuhr herum, bereit, dem Angreifer einen Schlag zu versetzen. Doch im letzten Moment hielt sie inne.
»Verdomme«, zischte Fleming, »was, zum Geier, treibst du hier eigentlich?«
»Du gehst besser wieder ins Auto …«
»Den Teufel werd ich! Griet, mit dir ist ernsthaft was nicht in Ordnung.« Sie sah im Halbdunkel sein wütendes Gesicht. »Fenja hat mir gerade erzählt, dass ihr mitten in der Nacht hier wart und irgendwelche Typen beobachtet habt.«
»Es war harmlos, und es bestand keine Gefahr …«
»Keine Gefahr? Ihr habt irgendwo in einer gottverfluchten Gasse geparkt, und ein Kerl ist dir nachgeschlichen.«
»Aber er hat uns nicht entdeckt.«
»Du hast eine veritable Macke, weißt du das?« Er wandte sich kurz ab, stemmte die Hände in die Seiten und blickte kopfschüttelnd zum Himmel hinauf. »Griet … ich hab immer Verständnis für dich gehabt, aber hier hört der Spaß auf.«
Sie hob die Hände. »Tut mir leid, okay?«
»Nein, nicht okay. Ich dachte, ich könnte mich auf dich verlassen.« Fleming drehte sich wieder Griet zu. Seine Miene hatte sich verändert. »Ich wollte dich nicht damit belasten … und eigentlich geht es dich nichts mehr an. Aber hast du eine Ahnung, warum ich Fenja zu dir bringen musste?« Er machte eine kurze Pause, wobei klar war, dass er keine Antwort auf seine Frage erwartete. »Weil ich versucht habe, meinen Hintern zu retten. Die Fernsehserie ist geplatzt. Die haben sie einfach eingestampft. Und der Verlag liegt mir wegen der sinkenden Verkaufszahlen in den Ohren … weil die Leute lieber Netflix glotzen, oder was weiß ich. Weniger Leser gleich weniger Vorschuss. Wenn ich denn überhaupt noch einen weiteren Vertrag bekomme.«
Griet wusste nicht, was sie erwidern sollte.
Als Fleming Fenja gebracht hatte, hatte sie gespürt, dass ihm etwas auf der Seele lag. Doch damit hatte sie nicht gerechnet. Fleming war immer das Glückskind gewesen. Derjenige, bei dem nie etwas schieflief, dem die Sympathien zuflogen und der aus allem Gold machte, was er anfasste.
»Ich wusste nicht …«, begann sie, doch Fleming ließ sie nicht ausreden.
»Das solltest du auch nicht wissen«, sagte er. »Ich dachte, du hast genug mit dir selbst zu tun. Und da lag ich ja wohl auch ganz richtig. Ich sag dir jetzt, wie das laufen wird, Griet. Ich fahre zurück zum Boot und packe Fenjas Sachen. Und dann wirst du unsere Tochter für eine sehr lange Zeit nicht mehr sehen.«