33
Onder de kelders
E ines war gewiss. Der diesjährige Elfstedentocht, sollte er denn wirklich stattfinden, würde einer der härtesten in der Geschichte des traditionsreichen Rennens werden. In diesem Punkt waren sich die Gäste im Onder de kelders einig.
Über der Theke des eetcafés in einem Gewölbekeller an der Bierkade hing ein Fernseher, auf den alle Blicke gerichtet waren. Marit Blom sollte in wenigen Minuten vor die Kameras treten. Und die Wetten liefen, dass sie den Starttermin des Rennens bekannt geben würde. Der Wetterdienst tat das Seine, um die Spannung noch zu steigern. Im aktuellen Bericht, der gerade über den Flachbildschirm flimmerte, war von einem ausgewachsenen Wintersturm die Rede, der sich geradewegs auf die niederländische Küste zubewegte.
Der alternative Elfstedentocht von Toon Ewerts war mittlerweile offiziell Geschichte. Der Restaurantbesitzer hatte seinen persönlichen Gang nach Canossa angetreten und vor den Kameras des Regionalfernsehens von seinem Projekt Abstand genommen. Er würde als einer der übrigen zehntausend Läufer beim Elfstedentocht mitmachen und versuchen, dieses Mal pünktlich über die Ziellinie zu kommen.
Griet saß auf einem Barhocker an der Theke und verfolgte die Berichte zum Elfstedentocht mit halbem Ohr, nicht, weil sie sich wirklich dafür interessierte, sondern weil sie ihre Gedanken zumindest für wenige Sekunden in eine andere Richtung lenkte.
Sie gab dem Wirt ein Zeichen, und er stellte ein weiteres Glas Jenever vor sie auf die Theke. Diesmal einen doppelten. Sie trank einen Schluck, in der Hoffnung, der Alkohol würde ihren Verstand bald so weit betäubt haben, dass ihr das Geschehene nicht mehr ganz so katastrophal erschien.
Fleming hatte Fenjas Sachen in den Kofferraum gepackt. Dann hatte Griet zugesehen, wie er mit ihrer Tochter davongefahren war. Fenjas Gesicht in der hinteren Scheibe hatte Bände gesprochen. Das Kind hatte nicht verstanden, was gerade vor sich ging. Wie auch.
Fleming würde es ihr später erklären. Erklären, dass Mami großen Mist gebaut hatte. Und damit hatte er sogar recht. Denn wie sollte man ein Verhalten rechtfertigen, das nicht zu rechtfertigen war?
Er hatte Griet vertraut, und sie hatte dieses Vertrauen enttäuscht. Schlimmer noch: Sie hatte auch Fenja im Stich gelassen, die darauf vertraute, dass Griet, ihre Mutter, die Erwachsene, das Richtige tat.
Fenjas Besuch hätte ein Neuanfang sein sollen. Stattdessen hatte Griet alles noch schlimmer gemacht.
Sie leerte den Jenever und bestellte einen weiteren.
Als Flemings Wagen mit Fenja in der Dunkelheit verschwunden war, war sie auf das Schiff zurückgegangen. Eine Weile hatte sie einfach regungslos im Salon gestanden, umgeben von Stille. Ein ungewohntes Gefühl hatte sich in ihrer Brust breitgemacht: Einsamkeit.
Sie war in das Onder de kelders gegangen. Geholfen hatte das nicht, obwohl sie nun von Menschen umgeben war. Früher hatte es ihr nie etwas ausgemacht, allein zu sein. Im Gegenteil, sie hatte oft die Einsamkeit gesucht.
Doch etwas hatte sich verändert. Sie hatte sich verändert.
Der Polizeipsychologe, den sie nach den Erlebnissen im Rotterdamer Hafen und dem Tod von Bas regelmäßig aufgesucht hatte, hätte dem vermutlich einen Namen geben können. Er hätte all die unterbewussten Prozesse beschrieben, die permanent abliefen, hätte erklärt, wie das Umfeld und das Erlebte einen formten, egal, ob man das wollte oder nicht.
Griet drehte das leere Glas Jenever zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her. Es führte kein Weg daran vorbei: Sie hatte sich an die Menschen in ihrer Umgebung in einer Weise gewöhnt, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte.
Klammheimlich waren sie Bestandteile ihres Lebens geworden, lieb gewonnene Gefährten. Griet hatte Fenja in den vergangenen Tagen auf eine neue Art ins Herz geschlossen. Pieter war ihr zum besten Freund geworden. Und Noemi hatte sie beim ersten Kennenlernen für sich eingenommen, nicht zuletzt deshalb, weil sie Griet so sehr an sich selbst erinnerte.
Sie hatte nicht gut auf diese Menschen achtgegeben. Und das tat ihr nun leid. Dabei dachte Griet nicht nur an Fenja.
Fleming steckte in ernsten Problemen, das hätte sie ahnen müssen. Schon als er Fenja bei ihr abgeliefert hatte, waren ihr seine Erklärungen fadenscheinig vorgekommen. Sie hätte dem nachgehen sollen. Das Gleiche galt für Noemi. Etwas stimmte nicht, ein Auslandsjahr bei Scotland Yard brach man nicht ohne Grund vorschnell ab. Und dann Pieter. Im Stillen hatte Griet schon immer vermutet, dass es einen Grund gab, warum er mit seinen Fähigkeiten bei den ungelösten Fällen gelandet war. Nun kannte sie ihn, und sie war sich nicht sicher, was sie mit diesem Wissen anfangen sollte.
Griet blickte sich in dem eetcafé um. Das Licht in dem Gewölbekeller war gedimmt, und für einen Wochentag hatten ziemlich viele Gäste den Weg hierher gefunden. Die Stimmung glich der eines Fußballspiels, und Griet war sich sicher, dass ihre Landsleute nicht nur im Onder de kelders, sondern im ganzen Land die Nacht zum Tag machen würden, sollte der Elfstedentocht wirklich stattfinden.
Sie spürte einen kalten Luftzug im Rücken, als sich die Eingangstür öffnete und weitere Besucher das Lokal betraten.
»Excuses«, sagte jemand hinter ihr. »Ist der Platz noch frei?«
Griet erkannte die Stimme und drehte sich um.
»Pieter!«
***
»Nettie meinte, ich soll mich bei dir melden. Ich hab dich nicht erreicht, auf dem Schiff warst du auch nicht, also dachte ich, ich finde dich vielleicht hier.« Pieter hatte sich neben sie gesetzt und ebenfalls ein pilsje bestellt. »Wo ist Fenja?«
»Fleming hat sie mitgenommen.«
»Warum das?«
»Ik heb er een soep van gemaakt .« Griet zuckte die Schultern. »Ich hab Mist gebaut.«
»Nämlich?«
Griet überlegte, was sie erwidern sollte. Eine ehrliche Antwort würde nicht nur ihre Unzulänglichkeit als Mutter in den Mittelpunkt der Unterhaltung rücken, sondern unweigerlich zu Pieters Verbindung zu Rob Hoekstra führen. Andererseits hätte sie das Thema vielleicht schon wesentlich früher offen ansprechen sollen, so wie man es unter guten Freunden tat.
»Ich habe Fenja mitgenommen, als ich Rob Hoekstra observiert habe«, sagte sie schließlich.
Pieter dankte dem Wirt, als dieser das Bier vor ihm abstellte. Er trank einen Schluck und wischte sich den Schaum mit dem Finger aus dem Bart.
»Du hast Hoekstra beschattet?«, wiederholte er fast beiläufig und ohne Griet anzusehen.
»Ja.«
»Kein guter Zeitvertreib für Kinder. Wann war das denn?«
»Vor ein paar Tagen. Ich habe abends vor seinem Haus in Weidum gestanden.«
»Und was hast du gesehen?«
»Etwas, das mir nicht gefallen hat.« Griet ließ die Worte einen Moment in der Luft hängen. »Und ich habe in der Zwischenzeit einige Dinge in Erfahrung gebracht … fragwürdige Dinge.«
»Hm.« Pieter presste die Lippen aufeinander. »Was du da gesehen hast … und diese fragwürdigen Dinge. Es ist vielleicht nicht so, wie es aussieht.«
»Das ist es doch nie, oder?« Griet stützte die Ellbogen auf die Theke und blickte Pieter von der Seite an. »2009 gab es einen Einbruch im Fries Museum . Ich habe mit einem der damaligen Sicherheitsleute gesprochen, einem Thijs de Boer. Er hat mehr oder weniger zugegeben, dass er mit dem Dieb gemeinsame Sache gemacht hat. Er nannte mir auch den Namen des mutmaßlichen Täters: Rob Hoekstra.«
Pieter faltete die Hände. »Griet …«
»Hoekstra brachte die gestohlenen Bilder freiwillig zurück, was sich niemand erklären konnte. Ich glaube, ich weiß, was geschehen ist.« Sie hob die rechte Hand und zählte an den Fingern ab. »Als die Ermittlungen eingestellt wurden, geschahen nämlich drei Dinge in rascher Folge. Noud Wolfs, der die Ermittlungen in dem Fall geleitet hatte, ging ein Jahr früher in Rente als ursprünglich geplant. Fast zeitgleich wurde Wim Wouters zum Leiter der Districtsrecherche befördert. Und ein junger Commissaris namens Pieter de Vries, dessen Talente bis dahin unbestritten waren, wurde überraschend bei den Cold Cases abgestellt.«
Griet machte eine Pause und beobachtete, wie Pieter ihr langsam den Kopf zuwandte. »Woher weißt du das alles?«
»Du bist nicht der einzige Kollege, der schon eine Weile bei der Districtsrecherche ist.« Es gab keinen Grund, ihm von ihrem Gespräch mit Noor zu erzählen.
»Sprich weiter«, sagte Pieter.
»Ich hab mich lange gefragt, wie das alles zusammenhängt«, fuhr Griet fort. »Dann habe ich noch mal einen Blick in die Akte von Rob Hoekstra geworfen, die Noemi mitgebracht hat. Er ist seit 2005 verheiratet. Seine Frau heißt Betske, eine gebürtige Bakker. Ich weiß, dass du eine Halbschwester hast, Pieter. Ihr Name ist ebenfalls Betske. Erzähl mir nicht, das wäre ein Zufall.«
»Ist es nicht.« Pieter seufzte. »Ich war von Anfang an dagegen, dass sie diesen Idioten heiratet.«
»Dann ist Rob Hoekstra dein Schwager.«
»Halbschwager.«
»Hast du ihm damals geholfen, Pieter?«
»Ja.«
»Dann war er wirklich der Dieb im Fries Museum
»Er hat die Bilder zurückgebracht …«
»Nachdem du ihm dazu geraten hast?«
Pieter versuchte sich an einem Lächeln, das verzweifelt wirkte. »Die verdammten Bilder standen in Betskes Wohnung. Sie war völlig aufgelöst. Der Idiot hatte die Bilder gestohlen, weil er dachte, sie wären Gott weiß was wert. Waren sie aber nicht. Ich hatte Betske gewarnt. Doch sie begriff erst da, wen sie geheiratet hatte und welche Konsequenzen das mit sich brachte. Was hättest du an meiner Stelle getan?«
»Ihn eingebuchtet, damit er deine Schwester nicht mit reinreißt?«
»Er war ein Idiot. Aber auch Betskes Ehemann. Und mein Schwager, wie du schon festgestellt hast.«
»Und?«
Pieter schüttelte den Kopf. »Tust du nur so, oder begreifst du es wirklich nicht? Der Kerl ist Familie.« Er beugte sich ein Stück zu ihr hinüber. »Man kann sich leider nicht aussuchen, wer dazugehört. In einer Familie gibt es nette Leute, es gibt Stinkstiefel. Es gibt schöne Zeiten, es gibt schlechte Zeiten. Man liebt sich, man geht sich auf den Zeiger. So ist das eben. Doch auf eines muss in einer Familie Verlass sein: Wenn es drauf ankommt, dann steht man zusammen.«
»Auch bei Verbrechen?«, fragte Griet.
»Rob hatte ein paar Bilder gestohlen, ziemlich hässliche noch dazu. Niemand war dabei ernsthaft zu Schaden gekommen. Habe ich die Regeln gedehnt? Ja, bis zum Äußersten. Und ich bezahle bis heute den Preis dafür.«
»Nicht nur du. Was ist mit Noud Wolfs? Wurde er früher in Rente geschickt, weil er dir geholfen hat?«
»Wir kannten uns schon lange«, sagte Pieter. »Er wusste von Betske und Rob und war mit der Vorgehensweise einverstanden.«
»Und Wouters?«
»Damals war der Posten des Teamchefs bei der Districtsrecherche vakant. Er wollte ihn, ich wollte ihn. Er dachte, er könnte seine Chancen verbessern, wenn ihm gelang, was einem ganzen TGO nicht gelungen war …«
»… den Dieb der Veenstra-Bilder aufspüren?«
»Genau.«
»Er fand die Wahrheit heraus und konnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«
»Ja«, bestätigte Pieter. »Er ging damit zu Hasselbeek und stellte ihn vor ein Problem. Entweder ihn befördern oder riskieren, dass das Ansehen der politie beschädigt wurde. Der Polizeichef entschied sich für die problemlosere Variante.«
»Und heute?« Griet neigte den Kopf zur Seite. »Hast du Hoekstra wieder geholfen?«
Pieter trank einen Schluck Bier, bevor er antwortete.
»Ich habe Rob damals klargemacht, dass ich es für Betske tat, nicht für ihn. Im Gegenzug forderte ich von ihm, dass er sich einen ehrlichen Broterwerb zulegte. Ich lieh ihm sogar Geld für die Autowerkstatt. Der Betrieb lief gut, er zahlte den Kredit zurück, Betske und er bekamen Kinder …« Pieter stockte kurz, als sich die Tür öffnete und mit neuen Gästen ein paar Schneeflocken und ein Schwall kalter Luft zu ihnen hereinwehten. »Tja … als Robs Name nun in Zusammenhang mit unserem Fall auftauchte, dachte ich, es wäre gut, mal nach dem Rechten zu sehen.«
»Das war an dem Abend, als ich dich bei ihm entdeckt habe?«
»Ja.«
»Das heißt, du wusstest nichts von seinen Geschäften mit Vlam Ewerts?«
»Nein.« Pieter lachte. »Rob gab das Unschuldslamm. Was wirklich los war, habe ich erst durch dich und die Ermittlungen erfahren. Und … tja, dann war da heute die Sache mit Netties Kette.«
»Betske hatte sie ihr geschenkt«, vermutete Griet.
»Ja, es war das erste Mal, dass sie Nettie etwas so Wertvolles gab. Nach allem, was wir inzwischen wissen, konnte ich mir vorstellen, warum sie sich plötzlich so etwas leisten konnte.«
»Du hast die Kette zurückgebracht?«
»Ich war vorhin bei ihnen und hab Rob zur Rede gestellt.«
»Und?«
Pieter massierte sich demonstrativ die Knöchel der rechten Hand, und Griet bemerkte erst jetzt, dass sie gerötet waren.
»Ich musste meinen Worten einen gewissen Nachdruck verleihen«, sagte Pieter. »Aber er hat schließlich alles zugegeben. Es ist so wie vermutet. Er und Vlam Ewerts handeln mit gestohlenem Zeug. Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn diesmal nicht raushauen kann, dass es eine ernste Sache ist und es besser wäre, wenn er eine Selbstanzeige macht …«
»Du scheinst auf taube Ohren gestoßen zu sein«, unterbrach Griet ihn. »Der Vogel ist ausgeflogen.«
»Nein, Rob bringt Betske und die Kinder zu ihrer Mutter. Sie sollen nicht miterleben müssen, wie alles auf den Kopf gestellt wird.«
»Und du bist sicher, dass sie dort sind?«
»Ich habe Rob vierundzwanzig Stunden gegeben.«
»Du vertraust ihm?«
»Er weiß, dass er keine andere Chance hat.« Pieter blickte Griet forschend an. »Vertraust du mir?«
Griet zögerte.
Pieter hatte nachvollziehbare Gründe für sein Verhalten angeführt. Er hatte das getan, wozu sie selbst bislang nie imstande gewesen war. Er hatte die Familie über die Arbeit gestellt. Und er war bereit gewesen, dabei seine Karriere aufs Spiel zu setzen. Er hatte gebüßt, in Form seiner Degradierung. Und jetzt, wo sein Schwager erneut gegen das Gesetz verstieß, zog er die entsprechenden Konsequenzen.
Griet wusste nicht, ob ihre Einschätzung richtig war. Doch in ihren Augen war Pieter kein Übeltäter. Er hatte die Berufsehre nicht verraten, sondern mit Augenmaß gehandelt, sodass damals alle halbwegs unbeschadet aus der Affäre rausgekommen waren – alle außer ihm.
Sie nickte langsam. »Vierundzwanzig Stunden.«
»Nou dan – na dann.« Er lächelte und prostete ihr zu. »Auf die Familie.«
Sie tranken. Dann hörten sie den Wirt rufen: »Stillte – Ruhe! Alle mal aufpassen.«
Er drehte die Lautstärke des Fernsehers auf. Das Bild zeigte Marit Blom in den Räumen der Elfsteden-Kommission. Vor ihr waren zahlreiche Mikrofone aufgebaut, hinter ihr hatten sich die anderen Mitglieder des Rats versammelt, Blitzlichter zuckten. Sie blickte sich kurz nach allen Seiten um und schenkte ihren Mitarbeitern und Unterstützern ein Lächeln.
»Wir sind heute Abend hier zusammengekommen, um Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen. Ich nehme an, Sie alle kennen die aktuelle Vorhersage der KNMI , nach der es in den kommenden Tagen kalt und frostig bleiben wird. Zudem freue ich mich, Ihnen sagen zu können, dass wir mithilfe der Firma Dutch Heat die Probleme auf den kritischen Teilabschnitten lösen konnten. Wir haben nun auf der gesamten Strecke des Elfstedentocht eine geschlossene Eisdecke in der …« Der Rest des Satzes ging in dem Freudenjubel unter, der im Onder de kelders ausbrach. Der Wirt hob die Arme: »Kalm aan – immer mit der Ruhe, Leute!«
»… ich bin Jeroen Brouwer zu persönlichem Dank verpflichtet. Und da nun alle Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Worte zu sagen, auf die Sie vermutlich alle warten.«
Sie machte eine Pause, und sowohl im Fernsehen als auch im eetcafé machte sich Stille breit. Dann rief Blom: »Wy dogge it! – Wir tun es!«
Was nun geschah, hatte Griet selten erlebt, und sie hätte sich für diesen Moment ein Paar Ohrstöpsel gewünscht. Um sie herum entfalteten die übrigen Gäste den Lärm einer startenden Rakete. Selbst Wildfremde umarmten sich, prosteten einander zu und verfielen in wilde Hüpfgesänge, um ihr Glück kundzutun. Pieter packte Griet bei den Schultern, und sie sah zu ihrer Verblüffung, dass er tatsächlich Tränen in den Augen hatte. »Glaubst du es! Wir haben wieder einen tocht! Dass ich das noch erleben darf!«
Griet nickte ihm aufmunternd zu. »Ja … großartig.«
Nachdem der Wirt allen eine Runde Freibier zugesagt hatte und das Gejohle abgeklungen war, richtete sich die Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher, wo Marit Blom gerade bekannt gab, dass das Rennen in drei Tagen stattfinden würde.
»So bald schon?«, fragte Griet, an Pieter gewandt.
»Das ist immer so«, erklärte er. »Länger im Voraus lässt sich die Wetterlage ja nicht einschätzen. Aber auf diesen kurzen Vorlauf sind alle vorbereitet.«
Er deutete mit dem Daumen in Richtung des Fernsehers. »Übrigens, was machen wir mit Jeroen Brouwer?«
»Wir statten ihm morgen einen Besuch ab«, sagte Griet. »Noor hat übrigens die Auswertung von Jessicas mobieltje geschickt.«
»Hast du schon reingeschaut?«
»Nein.«
»Zeig her.«
Griet holte ihr mobieltje hervor und öffnete die Mail von der Kriminaltechnikerin. Neben dem Bewegungsprotokoll enthielt sie wie angekündigt die Liste mit ein- und ausgegangenen Anrufen, die tabellarisch aufgeführt waren. Griet und Pieter überflogen die Aufstellung. Die Kollegen hatten die Telefonnummern den jeweiligen Gesprächsteilnehmern zugeordnet. Darunter waren Toon Ewerts, Marit Blom und Mart Hilberts, mit denen Jessica Interviews geführt hatte.
Griet hielt inne, als ihr Blick auf eine der letzten Zahlenfolgen in der Liste und den zugehörigen Namen fiel. Sie sah kurz zu Pieter, dessen Gesicht bleich geworden war. Wenige Tage vor ihrem Tod hatte Jessica Jonker seinen Freund und Ex-Kollegen Noud Wolfs angerufen.