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Eine Frage der Ehre
A m nächsten Morgen steuerte Pieter den Wagen über den Groningerstraatweg, der im Norden Leeuwardens parallel zur schnurgeraden Bonkevaart verlief, dem Kanal, auf dem sich das Ziel des Elfstedentocht befand. Auf der gegenüberliegenden Seite erstreckten sich die schneebedeckten Felder bis zum Horizont. Am blauen Himmel kündeten die ersten Schlieren vom heraufziehenden Sturm.
Griet saß, in Gedanken versunken, auf dem Beifahrersitz, und auch Pieter schien an diesem Morgen nicht das Bedürfnis zu verspüren, unnötig viele Worte zu wechseln. Obwohl sie sich gestern Abend gegenseitig ihre Freundschaft versichert hatten, ging Griet davon aus, dass auch er sich im Stillen fragte, wie sich ihr Verhältnis von nun an entwickeln würde. Viel hing davon ab, ob Pieters Schwager sich an die vereinbarte Frist hielt und sich freiwillig stellte. Tat er das nicht, würden sie beide vor unangenehmen Entscheidungen stehen.
In der Nacht hatte Griet bis in die frühen Morgenstunden gebraucht, um einschlafen zu können. Fenja und Fleming waren ihr nicht aus dem Sinn gegangen. Nun fühlte sie sich dementsprechend müde. Selbst zwei starke koffie, von denen sie einen an Deck in der kalten, klaren Luft getrunken hatte, hatten ihre Lebensgeister nicht wirklich erwachen lassen.
Bevor sie zum Dienst aufgebrochen war, hatte sie mehrmals versucht, Fleming zu erreichen. Vergeblich.
Im politiehoofdkantoor hatte Pieter sie bereits erwartet. Er hatte seinen Freund Noud Wolfs um Rückruf gebeten und danach versucht, bei Dutch Heat Jeroen Brouwer zu erreichen. Seine Assistentin hatte Pieter mitgeteilt, dass Brouwer an diesem Vormittag Arbeiten auf der Bonkevaart im Bereich des Zieleinlaufs durchführte.
Sie waren nicht sofort losgefahren, sondern hatten auf Noemi gewartet. Als sie nach einer halben Stunde noch nicht zum Dienst erschienen war und auch den Anruf auf ihrem mobieltje nicht beantwortete, waren Griet und Pieter schließlich aufgebrochen.
Abrupt brachte Pieter den Wagen auf dem Grünstreifen zum Stehen. An dieser Stelle spannte sich ein hoher Bogen aus Metall über den Kanal. An beiden Seiten des Halbrunds und oben in der Mitte waren nach innen weisende Dreiecke angebracht. Die Konstruktion sollte ein überdimensioniertes elfstedenkruijse symbolisieren und markierte den Zieleinlauf des Elfstedentocht.
Griet war im Sommer auf ihren Joggingrunden einige Male hier vorbeigelaufen, als das Bauwerk errichtet worden war. Früher hatten an dieser Stelle ein einfacher Holzpfahl sowie eine Tafel mit dem Streckenverlauf gestanden. Die Elfsteden-Kommission hatte beschlossen, den Ort neu zu gestalten, sodass er seiner Bedeutung gerecht wurde. Abends war der Bogen beleuchtet, und das Halbrund spiegelte sich im Wasser – oder wie jetzt auf dem Eis –, dadurch entstand der Eindruck eines riesigen runden Tores.
Nicht weit hinter dem Finishbogen arbeitete eine Gruppe von Männern am Ufer des Kanals. Einer von ihnen war Jeroen Brouwer. Griet stieg aus dem Wagen, und Pieter folgte ihr. Im Näherkommen erkannten sie, dass Brouwer und seine Helfer einige Löcher in das Eis geschnitten hatten und an den jeweiligen Stellen offenbar Wärmepumpen installierten.
Griet ging auf Brouwer zu und reichte ihm die Hand. »Meneer Brouwer, tut mir leid, dass wir Sie bei der Arbeit stören müssen. Aber wir würden gern noch einmal mit Ihnen reden.«
»Nun ja«, antwortete er und blickte zu seinen Mitarbeitern. »Es ist ehrlich gesagt gerade etwas ungünstig. Wir installieren hier aus Sicherheitsgründen zusätzliche Pumpen … im Zielbereich wird mit vielen Zuschauern gerechnet. Und da es ja schon bald losgeht, müssen wir uns beeilen.«
»Verständlich«, sagte Griet. »Aus diesem Grund dachten wir auch, Sie würden sich lieber hier mit uns unterhalten statt auf dem politiehoofdkantoor .« Sie war sich ziemlich sicher, dass Brouwer kein Interesse an einer formellen Vorladung hatte, da er mit seiner Firma gerade das Geschäft seines Lebens machte.
Er zögerte kurz, dann wandte er sich an die Arbeiter: »Kommt ihr einen Moment allein klar?«
Die Männer nickten.
»Gehen wir ein Stück«, sagte Griet.
Der Wind hatte über Nacht aufgefrischt und wehte den losen Pulverschnee von den Feldern quer über den Kanal zu ihnen herüber. Griet zog im Gehen den Schal enger um den Hals.
»Wir würden gern noch einmal mit Ihnen über die Nacht in Sloten reden«, begann sie. »Sie sagten, Sie hätten gerade die Pumpe installiert, als Sie mevrouw Jonker fallen sahen …«
»Ja.« Brouwer hatte beide Hände in die Jackentaschen geschoben.
»Und Sie kannten Jessica Jonker nicht, korrekt?«
»Ich glaube, das habe ich gesagt, ja.«
Griet blieb stehen, als sie auf Höhe des Finishbogens angekommen waren. »Sie sind nicht ehrlich, meneer Brouwer.«
Er lächelte verlegen. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Entgegen Ihrer Aussage kannten Sie Jessica Jonker und waren an jenem Abend mit ihr in Sloten verabredet«, schaltete sich Pieter ein. »Zudem war es Ihnen nicht möglich, den Sturz von dort, wo Sie sich angeblich befanden, zu beobachten. Wir haben das überprüft. Es ist also eher wahrscheinlich, dass Sie sich woanders aufhielten … zum Beispiel bei mevrouw Jonker auf der Brücke.«
Brouwer strich sich über das kurze, struppige Haar, verzog allerdings keine Miene. »Steile These … und wie kommen Sie darauf?«
»Meneer Brouwer«, sagte Griet. »Sollten Ihre Angaben nicht korrekt gewesen sein, wäre jetzt der Zeitpunkt, sie zu korrigieren.«
»Vielleicht wäre jetzt auch der Zeitpunkt, meinen Anwalt anzurufen?« Brouwer hob die Augenbrauen.
»Das bleibt Ihnen überlassen«, erwiderte Griet. »In diesem Fall würden wir uns natürlich an das Protokoll halten. Wir müssten uns dann im politiehoofdkantoor unterhalten. Und ich kann Ihnen nicht garantieren, dass die Medien nichts davon mitbekommen … wo doch gerade so großes Interesse an Ihrer Wundertechnik besteht.«
Brouwer wandte sich ab und blickte nachdenklich in die Ferne. Griet ließ ihn gewähren. Ohne sich wieder umzudrehen, sagte er nach einem Moment: »Ich wollte ihr wirklich helfen. Ich bin nicht für ihren Tod verantwortlich.«
Griet trat zu Brouwer an den Rand des Kanals. »Jessica Jonker hatte Edwin gefunden, den Jungen, der mit Mart Hilberts 1997 den tocht gelaufen war. Sie war mit ihm an jenem Abend in Sloten verabredet. Wir wissen, dass Sie dieser Edwin sind.«
Brouwers Blick blieb in die Ferne gerichtet.
»Wenn Sie sich wirklich nichts vorzuwerfen haben, gibt es keinen Grund, etwas zu verheimlichen«, ermunterte Pieter ihn.
Brouwer presste die Lippen zusammen, sagte aber schließlich: »Es war … eine verdammt kalte Nacht 1997. Ich dachte, wir schaffen es nicht. Aber als wir dann am Ende gemeinsam über die Ziellinie liefen … war das der großartigste Moment in meinem Leben.«
»Dann stimmt es also?«, fragte Griet.
»Ja, ich bin damals an Edwin Mulders Stelle gelaufen.«
»Jessica suchte öffentlich nach Ihnen. Warum haben Sie sich nicht gemeldet?«
»Der Elfstedentocht wird hier oben in Fryslân ziemlich ernst genommen«, erklärte Brouwer. »Wenn rausgekommen wäre, dass ich mir die Teilnahme damals erschlichen hatte … mein Ruf wäre ruiniert gewesen. Und der meiner Firma. Ich habe eine Verantwortung gegenüber meinen Mitarbeitern.«
»Ja, verstehe«, meinte Griet. »Diese Verantwortung muss umso schwerer auf Ihnen lasten, wenn die Geschäfte nicht gut laufen.«
Brouwer blickte sie überrascht an. »Wie kommen Sie darauf?«
»Zufall.« Griet lächelte. »Ich besitze einen De-Icer Ihrer Firma. Er hat neulich den Geist aufgegeben. Ich landete bei einer dubiosen Hotline …«
Sie erzählte ihm, was sie herausgefunden hatte, und Brouwer leugnete es nicht. »Es stimmt schon. Die letzten Jahre waren nicht besonders rosig.«
»Aber nun haben Sie den Jackpot geknackt«, sagte Pieter. »Bei unserem ersten Gespräch meinten Sie, der Elfstedentocht sei ein lukratives Geschäft für Sie.«
Brouwer sah ihn an. »Natürlich. Es verschafft uns zudem einige Aufmerksamkeit, besonders hier in der Region. Täglich kommen jetzt neue Aufträge rein.«
»Wann hat die Elfsteden-Kommission eigentlich beschlossen, Ihre Technik einzusetzen?«, fragte Griet. Sie erinnerte sich noch daran, was Toon Ewerts ihnen darüber erzählt hatte, doch sie wollte es aus Brouwers Mund hören.
»Die Entscheidung fiel kürzlich, nachdem der Test in Sloten erfolgreich war.«
»Tatsächlich?« Griet zog ihr Notizbuch aus der Innentasche der Jacke und blätterte darin. Dann sagte sie: »War es nicht vielmehr so, dass der Vorgänger von Marit Blom, Jaap van der Horst, dem Einsatz bereits zugestimmt hatte und mevrouw Blom seine Entscheidung revidierte, als sie das Amt übernahm?«
»Ich … wollte Ihnen unnötige Details ersparen«, meinte Brouwer. »Aber ja, das war äußerst unerfreulich.«
»Gab es einen Grund, warum Marit Blom ihre Meinung dann plötzlich wieder änderte?«
»Vielleicht war der öffentliche Druck zu hoch. Toon Ewerts hatte sich ja für die Technik ausgesprochen …« Brouwer zuckte die Schultern. »Mir war es recht.«
»Ich nehme an«, sagte Griet, »Marit Blom hätte einen solchen Auftrag ungern an jemanden vergeben, der bei seiner Teilnahme am Elfstedentocht betrogen hat.«
»Das wäre problematisch gewesen, ja. Ich hoffe, Sie verstehen nun, warum ich keinerlei Interesse hatte, dass meine Geschichte an die Öffentlichkeit kommt.«
»Ja. Allerdings hat Jessica Jonker Sie am Ende doch aufgespürt …«
»Das war einem dummen Zufall geschuldet«, erzählte Brouwer. »Ich hatte erfahren, dass mein alter Freund Mart mich suchte. Dem Wunsch wollte ich entsprechen, aber es musste ja nicht jeder mitbekommen. Ich besuchte ihn. Es war … sehr aufwühlend. Wir verabschiedeten uns voneinander. Und beim Rausgehen laufe ich Jessica Jonker in die Arme. Sie wollte ebenfalls zu Mart. Wiebeke machte uns miteinander bekannt. Tja, und später muss Jessica mich dann auf einem Video vom Elfstedentocht wiedererkannt haben.«
»Dann klärte Mart Hilberts Jessica nicht darüber auf, wer Sie in Wirklichkeit waren?«, fragte Pieter.
»Nein, er begriff meine Situation. Mart war jemand, der ein Geheimnis für sich behalten konnte.«
»Warum trafen Sie sich dann mit Jessica in Sloten?«
»Ich war ohnehin wegen der Pumpe dort. Und ich dachte, wir sprechen lieber an einem abgelegeneren Ort miteinander«, sagte Brouwer. »Ich musste ihr erklären, warum ich meinen Namen nicht in der Zeitung lesen wollte …«
»Wo genau trafen Sie sich mit ihr?«
»Wir waren bei der Windmühle am Ende der Gracht verabredet. Sie kam mir auf der Brücke entgegen. Es schien ihr nicht gut zu gehen. Sie war kreidebleich und stolperte … Ich wollte ihr helfen. Sie riss mich mit sich.«
»Und Sie sind sich sicher, dass Sie Ihre Probleme nicht aus der Welt schafften, indem Sie ihr einen kleinen Schubser verpassten?«, fragte Pieter.
»Nein.« Brouwer schüttelte entschieden den Kopf. »Die Sache ist doch kein Menschenleben wert!«
Griet musterte Brouwer.
Was er sagte, klang aufrichtig. Außerdem konnten sie ihm kaum das Gegenteil beweisen, zumal seine Täterschaft dem Fakt zuwiderlief, dass Jessica an einer Überdosis Digitalis gestorben war, die Brouwer ihr sehr wahrscheinlich nicht verabreicht hatte.
»Also gut«, sagte sie. »Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung. Und verlassen Sie Leeuwarden in den kommenden Tagen nicht, ohne uns darüber zu informieren.«
Sie gingen zurück zu Pieters Wagen. Als er die Türen entriegelte, klingelte sein mobieltje . Er nahm den Anruf entgegen, während er sich auf den Fahrersitz setzte.
»Ja«, sagte er, »es geht um einen Fall, an dem wir arbeiten … Jessica Jonker. Was meinst du? Aha. Aber … Moment … das verstehe ich nicht … Okay, wir kommen.«
Er legte auf und blickte Griet an. »Das war Noud Wolfs.«
»Was ist los?«
»Jessica Jonker war wenige Tage vor ihrem Tod bei ihm.«
»Weshalb?«
»Es ging ihr um einen Vermisstenfall aus dem Jahr 1997«, erklärte Pieter, »genauer gesagt, um Jurre Blom, der damals während des Elfstedentocht verschwand.«
»Du meinst …?«
Pieter nickte. »Ja, der Mann von Marit Blom.«