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Am Scheideweg
D
as Medisch Centrum Leeuwarden
war ein weitläufiger Klinikkomplex im Süden der Stadt. Der moderne architektonische Stil – Beton und Glas – hätte keinen größeren Kontrast zu den niedrigen Backsteinhäusern gegenüber bilden können, die zum historischen Dorfkern von Huizum gehörten, dem ältesten Teil Leeuwardens. Griet und Pieter fuhren mit dem Aufzug in die fünfte Etage, wo sich die Intensivstation befand. In der Notaufnahme hatte man ihnen erklärt, dass sie Noemi Boogard dort finden würden.
Sie waren auf Umwegen hierhergelangt. Bei der Zwei-Zimmer-Wohnung im Westeinde,
die Noemi eigentlich bewohnte, hatte ihnen ein Student geöffnet. Er erklärte, dass Noemi ihm die Bleibe für die Dauer ihres Auslandsaufenthalts untervermietet habe und sie bei ihren Eltern wohne, bis er etwas anderes fände. Noemis Eltern gehörte eine Doppelhaushälfte in Goutum, einem von schmalen Grachten durchzogenen Neubaugebiet am Harinxmakanaal
.
Als Griet und Pieter an deren Haustür klingelten, öffnete niemand. Gegenüber standen allerdings einige Nachbarn beisammen, die sich unterhielten. Von ihnen erfuhren sie, dass heute Morgen der Notarztwagen zu den Boogards gekommen und dann zum Medisch Centrum
gefahren war.
Die Aufzugtüren öffneten sich im fünften Stockwerk, und Griet trat mit Pieter hinaus auf den Korridor. Der Geruch von Desinfektionsmitteln hing in der Luft. Sie gingen hinüber zum Anmeldeschalter der Intensivstation, der nicht besetzt war, und
betätigten den Rufknopf. Es dauerte nicht lange, und ein junger Mann in weißem Kittel erschien, dem sie ihr Anliegen darlegten. Er griff zum Telefon und sprach mit der Stationsleitung. Als er auflegte, bat er Griet und Pieter in eine Art Schleuse, wo er sie mit Schutzkleidung ausstattete.
Sie folgten dem Mann einen langen Flur entlang. Die Jalousien der Zimmer waren nur zum Teil geschlossen, und Griet erblickte im Vorbeigehen Menschen, die sich im Schwebezustand zwischen dem Diesseits und dem Jenseits befanden. Sie hörte das leise Surren der Überwachungsapparaturen.
Der Mann führte sie zum letzten Zimmer auf der rechten Seite des Flurs. Griet betrat hinter Pieter den Raum. Die Jalousien der Fenster waren halb geschlossen. Die Person im Krankenbett war an diverse Apparaturen angeschlossen. Gezackte Linien und Zahlen zeigten auf den Monitoren die Vitalfunktionen an.
Die Ähnlichkeit, die der alte Mann mit Noemi hatte, ließ kaum Zweifel daran, um wen es sich handelte. Noemi saß auf der Bettkante und hielt seine Hand. Als Griet zu ihr hinüberging und sie in ihre Arme nahm, brach sie in Tränen aus.
***
»Bei einem Schlaganfall zählt jede Sekunde«, erklärte Noemi im Gehen. »Es war gut, dass wir schnell im Krankenhaus waren, aber … es sieht trotzdem nicht gut aus.« Sie blieb stehen und schüttelte mit hoffnungsloser Miene den Kopf.
Griet und Pieter hatten mit Noemi das Krankenhaus verlassen, um sich die Beine zu vertreten. Sie waren gegenüber in den dicht verschneiten Abbingapark
gegangen, der an Huizum Dorp
angrenzte. Die historische Siedlung stand auf einer der alten terpen,
einem aufgeschütteten Erdhügel als Schutz vor der Flut, auf denen Leeuwarden ursprünglich entstanden war. Der Weg durch den Park
führte sie zu einer kleinen Kapelle, die aus einem schmalen Mittelschiff und einem Turm mit Satteldach bestand. Davor lag ein Friedhof mit einem guten Dutzend verfallener Grabsteine.
»Das tut mir sehr leid«, sagte Griet.
Sie wusste, dass es vermutlich der falsche Zeitpunkt war, das Thema anzuschneiden, dennoch fragte sie: »Noemi, kann es sein, dass … dein Vater der Grund ist, warum du zurückgekommen bist?«
Noemi hob hilflos die Hände. »Er hatte vor einem halben Jahr bereits einen ersten Schlaganfall. Nicht so schlimm wie dieser, aber meine Mutter kam nicht allein mit ihm klar. Also … was sollte ich tun?«
Im Stillen zollte Griet ihrer jungen Kollegin Respekt für diese Entscheidung. Sie war sich nicht sicher, ob sie in ihrem Alter zu einem solchen Schritt bereit gewesen wäre. Sie musste an den Tod ihres eigenen Vaters denken, der für sie völlig überraschend gekommen war. Der Hafenmeister hatte ihn eines Morgens tot auf dem Plattboot entdeckt. Griet hatte nicht einmal gewusst, dass ihr Vater krank gewesen war, so sehr hatte die Arbeit sie in Beschlag genommen. Im Nachhinein wünschte sie sich, sie hätte damals mehr Zeit mit ihm verbracht und für ihn da sein können.
Noemi fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Weißt du, ich hatte eine Stelle in Den Haag sicher. Als Leitung der Districtsrecherche
. Stattdessen habe ich den Polizeichef und Wouters bekniet, mir meine alte Stelle wiederzugeben.«
Griet blieb stehen. Beim Polizeichef, ihrem Gönner, war Noemi vermutlich auf Verständnis gestoßen, doch Wouters hatte dem Ansinnen sicherlich kritisch gegenübergestanden. Nicht nur, weil er Noemi ohnehin gern loswerden wollte. Was private Probleme betraf, hatte Wouters eine eindeutige Haltung: Sie interessierten ihn nicht. Er wollte funktionierende Mitarbeiter, die ihren Dienst vorschriftsmäßig verrichteten. Alles andere waren aus seiner Sicht Problemfälle, die
ihm das Leben unnötig schwer machten.
»Entschuldige, falls ich in letzter Zeit nicht bei der Sache war«, sagte Noemi.
»Das verstehe ich doch«, erwiderte Griet. »Allerdings … hättest du mir ruhig davon erzählen können.«
»Ich wollte nicht, dass es die Runde macht. Wenn alle wüssten, dass ich eigentlich schon auf dem Absprung war …«
»Ja. Ich weiß, was du meinst.«
Griet dachte an die Gerüchte, die in der Dienststelle über Noemi kursierten, und sie kannte die Dynamik innerhalb des Corps nur zu gut. Dass sie wegen ihres kranken Vaters auf eine Beförderung verzichtet hatte, würden ihr nur die wenigsten hoch anrechnen. Für die meisten wäre sie vielmehr ein gefallener Stern, der hinter den eigenen Ambitionen zurückblieb. Ein neues Arbeitsumfeld wäre für Noemi zweifellos der unproblematischere Weg gewesen.
»Wenn sein Zustand stabil bleibt«, sagte Noemi, »bin ich morgen wieder dabei.«
»Nimm dir Zeit …«, erwiderte Griet.
»Nein, es ist wegen Wouters. Ich will ihm keinen Grund geben.«
»Ja … das kann ich nachvollziehen.«
»Danke, dass ihr gekommen seid.«
Noemi umarmte Griet noch einmal und verabschiedete sich von Pieter mit Handschlag und einem kurzen Schulterdruck, was wohl der innigste Moment war, den Griet bislang zwischen den beiden erlebt hatte. Sie blickte Noemi nach, als sie zurück zum Krankenhaus ging.
»Muss schwer für sie sein«, sagte Pieter.
»Ja, hoffen wir, dass es ihrem Vater bald wieder besser geht.«
»Es ist nicht nur das …«
»Sondern?«
»Hast du dich nie gefragt, warum sie beim Polizeichef einen solchen Stein im Brett hat?«
»Nein.« Griet hatte sich früh damit abgefunden, dass es auch in ihrem Beruf Seilschaften gab. Und sie hatte gelernt, selbst nach diesen Regeln zu spielen. »Für mich zählt nur, dass sie eine verdammt gute Polizistin ist.«
»Das ist sie zweifellos«, bestätigte Pieter. »Genauso wie ihr Vater.«
»Ihr Vater?«
»Aad Boogard ist hier in Leeuwarden über vierzig Jahre auf Streife gegangen«, erzählte Pieter. »In dieser Zeit hat er viele junge Kollegen ausgebildet. Und einer der Männer, die er zuletzt unter seine Fittiche genommen hatte, ist heute unser Chef … Cornelis Hasselbeek.«
Griet schaute ihn verblüfft an. »Wie lange weißt du das schon?«
»Ist bereits eine ganze Weile her, dass ich mich in aller Stille erkundigt habe. Ich war neugierig, warum Hasselbeek ihr die Steigbügel hält«, sagte Pieter. »Außer mir – und jetzt dir – weiß davon aber niemand bei der Disrictsrecherche
. Und dabei sollten wir es belassen.«
»Zeker
– sicher.«
»Es ist traurig, den alten Mann so daliegen zu sehen«, fuhr Pieter fort. »Ihn stolz zu machen, das war wohl Noemis Antrieb. Meine Sorge war allerdings immer, dass sie übers Ziel hinausschießt.«
»Ich wäre an seiner Stelle stolz auf sie.«
»Das ist ihr alter Herr bestimmt auch. Aber um für ihn da zu sein, hat sie jetzt alles aufgeben müssen, was sie erreicht hat.« Pieter wiegte den Kopf hin und her. »Ich frage mich, wie sie damit klarkommen wird.«