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Weites Land
P
ieter ließ den Volvo vorsichtig auf den Seitenstreifen der Landstraße rollen und brachte ihn im Schnee zum Stehen. Die Digitaluhr am Armaturenbrett zeigte kurz nach neunzehn Uhr an, und die Dunkelheit hier draußen fernab der umliegenden Dörfer war vollkommen. Das einzige Licht kam von den Autoscheinwerfern, deren Kegel das verfallene Gemäuer anstrahlten, das nur wenige Meter neben der Straße lag: die St.-Niklaas-Kapelle.
Griet wusste noch nicht, ob sie dem Gedankengang von Pieters altem Kollegen folgen wollte, doch Wolfs hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er insgeheim immer davon ausgegangen war, dass Jurre Blom damals ermordet wurde. Der Tierarzt, mit dem er gesprochen hatte, hatte festgestellt, dass der Beagle an einer Vergiftung mit E605 gestorben war. Das hochgiftige Pflanzenschutzmittel war inzwischen zwar verboten, doch damals noch frei erhältlich gewesen. Nicht ausgeschlossen also, dass einer der Nachbarn oder gar die Bloms selbst es bei der Gartenarbeit verwendeten und der Tod des Hundes lediglich ein Unfall war.
Andererseits existierte neben Wolfs offenbar noch ein weiterer Mensch, der die Ansicht vertrat, dass nicht die ganze Wahrheit über das Verschwinden von Jurre Blom ans Tageslicht gekommen war. Jessica Jonker hatte Kontakt zu ihm gehabt und wurde von ihm zu dieser verfallenen Kapelle geschickt.
Griet öffnete die Beifahrertür und stieg aus dem beheizten Wagen. Die Kälte war alles durchdringend, sodass es sich anfühlte, als würde
sie eine Gefrierkammer betreten. Pieter ließ die Scheinwerfer des Autos eingeschaltet und strahlte weiterhin den vorderen Teil der Ruine an.
Der ursprüngliche Zustand des Bauwerks war nur noch zu erahnen. Die Mauern des Haupthauses waren an einer der Längsseiten eingestürzt und hatten das Spitzdach mit sich gerissen, von dem nur noch jener Teil vorhanden war, der in einen kleinen Glockenturm überging. Der Haupteingang der Kapelle bestand aus zwei schmiedeeisernen, rostigen Gittern, die sich mit der Zeit derart verkantet hatten, dass Pieter sie auch mit einem kräftigen Rütteln nicht öffnen konnte. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, als die beiden um das Gebäude herumgingen, zu der Seite, wo die Mauer eingestürzt war. Dicke Backsteine, bedeckt mit Schnee und Eis, lagen auf dem Boden verteilt. Griet achtete darauf, nicht auszurutschen, als sie über die Steine in das Innere der Kapelle kletterte.
Pieter folgte ihr, schaltete die Taschenlampe ein, die er aus dem Kofferraum des Wagens genommen hatte, und ließ den Lichtstrahl durch den Raum gleiten. Eine Reihe morscher Holzbänke lag unter herabgefallenen Dachbalken und Ziegeln begraben. Neben dem Eingang erhellte der Lichtkegel kurz ein zerschmettertes Weihwasserbecken.
Griet ging um die Trümmer herum in den vorderen Bereich der Kapelle. Unter einem zersplitterten Fenster stand dort ein quaderförmiges Gebilde aus grauem Stein, das vermutlich einmal als Altar gedient hatte. Die Holzplatte darauf war morsch und durchlöchert. Griet schätzte, dass der Altar ungefähr drei Meter in der Länge und einen Meter in der Breite maß. An einer Seite klaffte ein Loch, das den Blick in den Hohlraum im Inneren freigab.
Mit einem Nicken bedeutete sie Pieter, ihr mit der Taschenlampe zu leuchten. Sie ging weiter. Ein heftiger Windstoß fuhr durch die Ruine und brachte das morsche Gebälk des Dachstuhls zum Knarzen. Eine
kleine Schneewolke rieselte herunter.
»Wir sollten unser Glück nicht zu lange herausfordern«, meinte Pieter, den Blick nach oben gerichtet.
Griet nickte und schaute sich ein letztes Mal um. Durch das zersplitterte Kirchenfenster sah sie eine niedrige Steinmauer auf der Rückseite der Kapelle. »Lass uns mal dort hinten nachsehen.«
Pieter ging mit der Taschenlampe voraus. Sie traten wieder ins Freie und versanken bis über die Knöchel im Schnee, als sie seitlich an der Kapelle entlang auf die Rückseite gingen. Hinter der Steinmauer lag ein kleines Buchenwäldchen. Die Bäume reckten ihre kahlen, knorrigen Äste in den schwarzen Nachthimmel. Dahinter erstreckte sich das weite flache Land.
Griet stieg über die Mauer. Pieter tat es ihr gleich und ließ den Strahl der Taschenlampe umherwandern. Als das Licht unter den Bäumen auf einige verwitterte Grabsteine traf, wurde Griet bewusst, wo sie sich befanden: auf einem Friedhof.
Sie trat näher heran. Die Grabmale waren mit Schnee bedeckt und die Inschriften auf den Steinen nicht mehr zu entziffern. Auch der Form und Größe nach zu urteilen, mussten die Gräber aus einer lange vergangenen Zeit stammen.
»Ich vermute, hier ist schon eine ganze Weile niemand mehr gewesen«, sprach Pieter das Offensichtliche aus. Die St.-Niklaas-Kapelle und der Friedhof waren ganz offensichtlich vor vielen Jahrzehnten dem Verfall überlassen worden. Außer ein paar Kindern, die ein Abenteuer suchten, verirrte sich niemand mehr hierher.
Griet hatte genug gesehen. »Gehen wir«, sagte sie, und sie machten sich auf den Weg zurück zum Auto.
Während Pieter den Kofferraum öffnete, um die Taschenlampe wieder an ihren Platz zu legen, ging Griet über den Asphalt auf die gegenüberliegende Seite der Landstraße.
Der Wind trieb leichte Schneeflocken vor sich her und wehte ihr
kalt in die Augen, sodass sie zu tränen begannen. Griet blieb stehen, als sie ein kleines Geländer erreichte. Vor ihr erstreckte sich ein schmaler, zugefrorener Kanal, der in der Ferne aus dem Nichts zu entspringen schien und in gerader Linie auf die St.-Niklaas-Kapelle zulief. Er endete nur wenige Meter vor der Straße, wo vereistes Schilf aus dem Schnee ragte.
Griet wandte sich um, machte ein paar Schritte und blieb mitten auf der Landstraße stehen. Seit sie hier angehalten hatten, war kein einziges Auto vorbeigekommen. Der Wind zerrte an ihrem Parka, während sie sich nach allen Seiten umschaute. Links der schmale Kanal, rechts die Kapelle. Die nächsten Ortschaften waren weit entfernt. Im Westen erkannte sie in der Ferne die Lichter von Franeker, und im Osten war irgendwo am Horizont der gelborangene Schein von Leeuwarden zu erahnen. Ansonsten kilometerweit nur verschneite Einöde, Dunkelheit und Stille. Eine verlassene Gegend.
Griet zog den Kragen ihres Parkas enger um den Hals. Kein Zweifel, die St.-Niklaas-Kapelle mit ihrem alten Friedhof war der perfekte Ort, wenn man jemanden verschwinden lassen wollte. Und wer auch immer Jessica Jonker den Tipp gegeben hatte, wusste das.
Griet blickte noch einmal zu der kleinen Kapelle und dem Friedhof dahinter. Er könnte mit dem Rad nach Timbuktu gefahren sein … es könnte aber auch irgendwo auf dem Grund eines Kanals oder Binnenmeers vor sich hinrosten.
Langsam reifte in Griet die Gewissheit, dass Jurre Blom damals in der Nacht des Elfstedentocht mit seinem Fahrrad nirgendwo hingefahren war.
***
Gegen Mitternacht lag Griet in ihrer Koje, mit dem Rücken an das Kopfkissen gelehnt. Durch das Bullauge, das der Kanalseite zugewandt war, sah sie die Kronen der Bäume im Prinsentuin
und dahinter den hell angestrahlten Oldehove
. Schneeflocken rieselten vor dem runden
Fenster auf das Deck, und im Inneren des Schiffs sorgte die Heizung mit einem leisen Rauschen für Wärme.
Durch das Bullauge auf der Landseite drang der Schein der Straßenlaternen und fiel auf den großen Teddybären, der neben Griet auf dem Bett lag. Fenjas Teddybär. Fleming hatte ihn bei seinem eiligen Aufbruch nicht mitgenommen. Das Stofftier erwiderte ihren Blick mit dem Lächeln, das ihm ins pelzige Gesicht genäht war, und Griet spürte einen Stich in der Magengegend. Was Fenja wohl gerade tat? Sie konnte nur hoffen, dass ihr Kontakt nun nicht vollständig abbrach und sie eine Chance zur Wiedergutmachung erhalten würde.
Auch was Fleming anging, machte Griet sich Sorgen. Sollte seine Schriftstellerkarriere nach kurzem Erstrahlen schon wieder verrauchen? Die wenigen Sätze, die er ihr an den Kopf geworfen hatte, ließen zumindest ernste Probleme erahnen.
Seine bisherigen Bücher waren zweifellos Erfolge gewesen. Allerdings bedeutete dies entgegen landläufiger Auffassung nicht, dass er als Buchautor Millionär geworden war. Der niederländische Buchmarkt war überschaubar, wie Griet gelernt hatte, und bereits Bücher mit Auflagen von fünf- bis zehntausend Exemplaren konnten als Bestseller betrachtet werden – ganz im Gegensatz zu anderen Ländern. Fleming hatte recht ordentliche Tantiemenzahlungen erhalten, doch ohne Folgeaufträge würden seine Rücklagen schnell schrumpfen.
Griet wusste, wie sie Fleming helfen konnte. Allerdings wusste sie auch, dass er diese Hilfe nicht annehmen würde. Sein Stolz würde es ihm verbieten. Allerdings schwebte Griet bereits eine Lösung vor, mit der sie dieses Hindernis umgehen konnte. Sie würde sich dazu morgen Rat einholen.
Ihr Blick wanderte zu der Fallakte mit den Fotos von der toten Jessica Jonker, die aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag. Griet betrachtete noch einmal das Gesicht der jungen Frau, die vielen
Sommersprossen, umrahmt von den langen Haaren, die ihr bis zu den Schultern reichten. Dann griff sie nach ihrem mobieltje,
um erneut das Audiofile abzuspielen, das sie sich in der vergangenen halben Stunde bereits mehrere Male angehört hatte: der Mitschnitt, den Jessica Jonker von ihrem Interview mit Marit Blom gemacht hatte.
Noemi schien ihre alte Tatkraft allmählich wiederzufinden. Sie hatte vom Krankenbett ihres Vaters aus eine E-Mail geschickt. Darin schrieb sie, dass sich der Zustand des alten Manns stabilisiert habe, er noch ein oder zwei Tage auf der Intensivstation bleiben müsse, bevor er auf ein normales Zimmer verlegt wurde. Sie werde morgen auf jeden Fall wieder zum Dienst erscheinen.
An die Nachricht war das Audiofile des Interviews angehängt. Noemi hatte es sich angehört und verwies Griet auf eine Stelle in der Aufnahme bei 21:32 Minuten.
Der Gesprächsfetzen, der dort zwischen Jessica Jonker und Marit Blom zu hören war, wäre unter normalen Umständen nicht weiter beachtenswert gewesen. Doch nun ließ er Griet keine Ruhe mehr.
Sie drückte erneut den Play-Button, und aus dem Lautsprecher des Smartphones drang die Stimme von Jessica Jonker, jung und charmant, mit einem rauen Klang.
Jonker:
Und wie wollen Sie die Situation der Frauen beim nächsten Elfstedentocht konkret stärken?
Blom:
Die Profiläuferinnen werden beim nächsten tocht in einer eigenen Kategorie antreten und eine Viertelstunde nach den Männern starten. Damit wollen wir mehr Aufmerksamkeit auf sie lenken.
Jonker:
Sie sind als erste Frau Vorsitzende der Kommission geworden. Haben Sie gezielt darauf hingearbeitet?
Blom:
Nun ja, sagen wir lieber, ich habe die Gunst der Stunde genutzt. Außerdem … nach über hundert Jahren Elfstedentocht-
Geschichte, die hauptsächlich eine Männer-Geschichte ist, war es Zeit für Veränderung.
Jonker:
Wie sehr war Ihr eigener Erfolg beim tocht von 1997 ein Ansporn für Sie?
Blom: Ich finde, mehr Frauen sollten sich trauen, an diesem Abenteuer teilzunehmen, ihre Kräfte zu entdecken. Außerdem … Sagen Sie, ist alles in Ordnung mit Ihnen?
Jonker:
Ja … excuses – Entschuldigung. Für Sie persönlich lagen 1997 Erfolg und Tragödie dicht beisammen …
Blom:
Ich … bin nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen.
Jonker:
Ihr Mann. Sie kamen mit dem elfstedenkruisje nach Hause und mussten feststellen, dass er verschwunden war.
Blom:
Ja, richtig. Das war … ein Erlebnis, auf das ich gern verzichtet hätte.
Jonker:
Sie haben nie herausgefunden, was mit ihm geschehen ist, oder?
Blom: Nein, ich musste davon ausgehen, dass er wohl mit einer anderen das Weite gesucht hatte …
Jonker:
Warum? Wäre es nicht ebenso vorstellbar, dass ihm etwas zugestoßen ist?
Blom:
Ich weiß es nicht … Hören Sie, ich möchte das Thema nicht weiter vertiefen. Es reißt immer noch alte Wunden auf.
Jonker:
Natürlich, aber mich würde schon interessieren, ob Ihr Mann … ich meine …
Blom:
Was ist mit Ihnen?
Jonker:
Nichts … nur …
Griet stellte ihr Smartphone auf maximale Lautstärke. Auf dem Mitschnitt war ein Geräusch zu hören, das ihr bekannt vorkam. Ein Rascheln, das klang, als krame jemand – vermutlich Jessica – in seiner Handtasche. Dann das Schaben von Plastik, so als würde etwas
aufgeschraubt.
Blom:
Möchten Sie ein Glas Wasser?
Jonker:
Das wäre nett …
Blom:
Sie sind kreidebleich. Brauchen Sie Hilfe?
Jonker:
Nein, es ist nur mein Herz …
Blom:
Um Himmels willen, ich rufe sofort einen Arzt.
Jonker:
Nein, schon gut … ich … brauche nur meine Medizin … dann geht es gleich wieder.
Griet stoppte die Aufnahme und legte das Smartphone neben sich auf den Nachttisch. Dann ließ sie sich in die Kissen sinken.
Es ist nur mein Herz.
Jessica hatte während des Interviews offenbar einen Schwächeanfall erlitten. Das Schraubgeräusch, das auf der Aufnahme zu hören war, konnte von dem Plastikröhrchen stammen, das sie bei Jessicas Leiche gefunden hatten und in dem sich die Globuli mit Digitalis befanden. Griet hatte kurz mit Noemi telefoniert, und sie hatte dieser Interpretation zugestimmt.
Marit Blom hatte von Jessicas Herzleiden gewusst.
Griet schloss die Augen, und in ihren Gedanken formte sich ein Plan.