Vor fünfzehn Jahren
Du hast mir Nachrichten hinterlassen, an meinem Arbeitsplatz in der Bibliothek. Wenn ich mir ein Buch holen ging, fand ich danach in meiner Kabine einen Zettel, auf dem in deiner markanten Handschrift stand: Lunch?
Es war mir ein Rätsel, wie du rausgefunden hattest, wo ich am liebsten arbeitete: weit weg von den Quatschtanten im zweiten Stock und dem Durchgangsverkehr an den Klos. Und ich fragte mich, ob du dann wohl irgendwo mit verschränkten Armen und diesem leicht ironischen Lächeln zusahst, wie ich den Zettel auseinanderfaltete. Keine Ahnung, wie ich dich hätte finden sollen, selbst wenn ich die Einladung hätte annehmen wollen – was ich unter keinen Umständen wollte, redete ich mir ein. Ich musste schließlich an Sam denken. Und diese dekadenten exzessiven Freunde von dir waren mir unheimlich, von denen wollte ich mich fernhalten. Dennoch bekam ich jedes Mal Herzklopfen, wenn ich die Zettel las. Ist es heute so weit? stand auf einem, auf einem anderen: Magst du Austern?
Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber ich brauchte morgens länger fürs Anziehen, probierte ewig herum, war sorgfältiger mit Make-up und Haaren.
Das nächste Milton-Seminar fand statt, aber der Sessel neben mir blieb leer, und die Stunde mit der schwächlichen Stimme des Profs und der zähen Interpretation von Buch vier zog sich endlos in die Länge. Als ich zur Bibliothek ging, war ich völlig aufgelöst. Reiß dich zusammen, sagte ich mir, du hast doch einen Freund. Na ja, beinahe jedenfalls. Sam und ich hatten uns Zeit gelassen. Zu Anfang waren wir nur befreundet, aber es lag etwas anderes in der Luft. Sein Lächeln, die Blicke aus den dunklen Augen, die auf mir ruhten, wenn er glaubte, ich würde es nicht merken. Dann zu Anfang des zweiten Semesters ein Mondscheinspaziergang am Hafen, bei dem wir zum ersten Mal Händchen hielten, und vor wenigen Tagen der erste Kuss. In meinem ersten Semester an der Uni gab es für mich nur diesen großen fußballverrückten Sternendeuter-Wissenschaftler, bis du in mein Seminar geplatzt bist und meine Welt auf den Kopf gestellt hast.
Die nächste Nachricht tauchte fast wie von Zauberhand auf, während ich mit gesenktem Kopf über meinen Büchern brütete. Offenbar war ich so konzentriert, dass ich nichts bemerkte. Erst nach einer Weile fiel mir auf, dass an der Tischkante ein Stück Papier lag. Es sah anders aus als die bisherigen Nachrichten, und als ich es auseinanderfaltete, blickte ich auf eine Bleistiftzeichnung, die so detailreich und atmosphärisch war, dass mir der Atem stockte. Ein Restaurant mit Holzwänden, einer Skihütte ähnlich, karierte Tischdecken. In Einmachgläsern Blumen, so präzise gezeichnet, dass sie als Gerbera erkennbar waren und ich förmlich kirschrote oder orange Blütenblätter vor mir sah. Auf einem Tisch standen eine Flasche Wein und zwei gefüllte Gläser, daneben das Wort: Unsere? Allein dieses verbotene Wörtchen ließ mir das Blut zu Kopf steigen. Unter der Zeichnung stand: Ich bin um 13.00 vor der Bibliothek. Das blaue Schriftbild war mir inzwischen schon vertraut: die Schwünge am L, das bauchige B, doch jetzt wurde mir bewusst, dass es sich um eine Künstlerhandschrift handelte. Diese Zeichnung eröffnete mir einen neuen Blick auf dich und schwächte meinen Widerstand.
Ich warf einen Blick auf die große weiße Wanduhr. Zehn vor eins. Die Welt schien mir voller Verheißungen, während ich abwechselnd auf den vorrückenden Zeiger und auf die kunstvolle Zeichnung blickte.
Um Punkt eins packte ich meine Bücher zusammen und verließ die Bibliothek.